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"Wir wollen Best-practice-Modelle ausfindig machen, die Vorbilder für eine nachhaltig ausgerichtete Lebensweise sein können": Mit diesen Worten umreißt Sabine Leidig (Die Linke) im Interview den Auftrag der Projektgruppe 5, die sich innerhalb der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" um Arbeitswelt, Konsumverhalten und Lebensstile kümmert. Als Beispiele für nachhaltige Praktiken nennt die Vorsitzende dieses Teams den Kauf regional erzeugter Lebensmittel, den Umstieg auf Bus und Bahn oder die Information der Verbraucher über ökologische und soziale Produktionsbedingungen von Waren. Aus Sicht der Linkspolitikerin sollen zudem für bestimmte Verhaltensweisen und Konsumgewohnheiten Regeln beschlossen und Grenzen gesetzt werden. Das Interview im Wortlaut:
Welches Fazit ziehen Sie über die bisherige Arbeit der Enquete-Kommission? Ist man dem Ziel näher gekommen, Wege zu einem qualitativen Wachstum aufzuzeigen?
Unser Gremium sucht Strategien für nachhaltiges Wirtschaften, das ist etwas anderes als qualitatives Wachstum. Es ist umstritten, in welchem Maße Wachstum und auch qualitatives Wachstum als Mittel geeignet und notwendig sind, um Nachhaltigkeit zu fördern. Einigkeit herrscht immerhin, dass das mit Hilfe des Bruttoinlandsprodukts gemessene Wachstum kein Ziel des Wirtschaftens mehr sein kann. Nachhaltigkeit lässt sich nicht allein über mehr ökonomische und ökologische Effizienz erreichen, wir müssen zudem über das "Genug", über die Bescheidung mit dem Erreichten, und über eine absolute Verminderung des Naturverbrauchs reden. Die Projektgruppe, die sich mit Ressourceneffizienz befasst, ist schon recht weit gekommen. Bei jener Arbeitsgruppe, die neue Indikatoren für Wohlstand und Fortschritt definieren soll, tauchen hingegen zunehmend Differenzen auf. Über die bisherige Tätigkeit der Enquete-Kommission ziehe ich ein gespaltenes Fazit.
Was soll Ihr Team zum Auftrag der Kommission beisteuern?
Wir fragen uns, wie man Arbeit und Konsum unter ökologischen, sozialen und ökonomischen Aspekten nachhaltig gestalten kann und was die Politik tun kann, um diese Entwicklung zu unterstützen. Wir werden entsprechende Empfehlungen erarbeiten. Wir wollen "Best-practice"-Modelle ausfindig machen, die Vorbilder für eine nachhaltig ausgerichtete Lebensweise sein können.
Die Debatten über Konsumverhalten und Lebensstile werfen die Frage auf, ob der Staat dekretieren darf, was die Leute zu kaufen und wie sie zu leben haben.
Dieses Thema berührt ein Grundproblem unserer Arbeit. Wir wollen nicht, dass der Staat die Bürgerinnen und Bürger bevormundet. Aber wenn bestimmte Verhaltensweisen und Konsumgewohnheiten schädlich für Dritte sind, ist es nötig, Regeln zu beschließen und Grenzen zu setzen. Das Rauchverbot in öffentlichen Räumen ist dafür ein Beispiel. Die Frage ist, ob angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Lebensgrundlagen klimaschädliche Formen des Wirtschaftens eingeschränkt werden müssen. Das gilt etwa für den Flugverkehr, der zusätzlich gesundheitsschädliche Folgen hat. Das ist kein Dirigismus.
Wie können nachhaltiger Konsum und nachhaltige Lebensstile konkret aussehen?
Ökologisch ist es besser, Busse und Bahnen zu nutzen oder sich aufs Fahrrad zu setzen statt ins Auto zu steigen. Für Lebensmittel aus dem regionalen Umfeld sind keine Transporte rund um den Globus nötig, die viel Energie verbrauchen und durch ihren Schadstoffausstoß die Umwelt belasten. Wer den Fleischkonsum vermindert oder vegetarisch lebt, senkt den mit der Fleischproduktion verbundenen Energiekonsum, trägt dazu bei, die Böden weniger stark auszulaugen, und lebt außerdem gesünder. Für nachhaltigen Konsum unerlässlich ist eine Verbraucherinformation über die ökologischen und sozialen Bedingungen, unter denen die Waren im Regal hergestellt werden.
Wie will Ihre Projektgruppe ein aus Sicht des Staats "wünschbares" Verhalten der Bürger erreichen? Dies wird offenbar strittig debattiert.
Das ist nicht nur ein Konflikt zwischen Koalition und Opposition, dies wird auch in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Es geht um drei Ansätze, und umstritten ist, wie diese Methoden gewichtet werden sollen. Die härteste Variante sind Verbote und Gebote. Zum anderen hängt ein nachhaltiger Lebensstil auch davon ab, welche Möglichkeiten sich überhaupt eröffnen, ein solches Verhalten zu praktizieren. Bietet kein Supermarkt in der Nähe regional erzeugte Produkte an, kann man diese auch nicht kaufen. Ist die nächste Bahn- oder Bushaltestelle weit entfernt, nutzt man halt das Auto. Schließlich ist mehr Bildung und Aufklärung vonnöten.
Was ist unter einer nachhaltig ausgerichteten Arbeitswelt zu verstehen? Über Arbeitsbedingungen entscheiden doch autonom Unternehmer und Betriebsräte.
Das ist eine schwierige Sache, da stehen wir erst am Anfang. Nicht als nachhaltig kann etwa das gelten, was man als Entgrenzung von Arbeit bezeichnet — wenn also vor allem hochqualifizierte Beschäftigte in ihrem Job praktisch rund um die Uhr zur Verfügung stehen und erreichbar sein müssen und keine Freizeit mehr haben. Ein anderes Beispiel: Zur Berufstätigkeit gehört soziale Sicherheit, und die erfordert, dass man vom Lohn leben kann. Ein nachhaltiger Begriff von Arbeit bezieht im Übrigen die sogenannte Care-Ökonomie mit ein, also das unbezahlte, aber für das gesellschaftliche Wohlergehen wichtige Engagement in der Pflege oder der Erziehung. Wie lassen sich solche Tätigkeiten aufwerten und sozial absichern, wie lässt sich eine Brücke zur professionellen Erwerbsarbeit schlagen? Unserer Projektgruppe stehen spannende Debatten bevor.
(kos)