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Ein Altbremer Reihenhaus von 1906, etwas Stuck an der Fassade, rundum besonders viele Grünen-Wähler: So lässt es sich leben, wenn man jemand ist wie Marieluise Beck. Die Bundestagsabgeordnete wohnt in Bremen-Peterswerder mitten in ihrem Lieblingsmilieu aus gebildeten Menschen mit Gespür für soziale Verantwortung. An diesem Abend steht sie leger in Jeans und Pullover, aber mit kräftig geschminkten Lippen und lackierten Fingernägeln an der offenen Haustür und wartet auf Besucher aus dem multikulturellen Stadtteil Huchting. Im Vorflur ein Korb voller Pantoffeln — ein Zeichen dafür, dass die 60-Jährige regelmäßig Gruppen empfängt.
In den letzten zehn Jahren hat Beck weit über 2.000 Menschen in ihrem langgezogenen Esszimmer begrüßt, zwischen Vitrinenschrank, Kachelofen und fast wandhohen Bücherregalen. Die Idee dazu entstand im Bundestagswahlkampf 2002. Beck lud potenzielle Wähler zu einem Mozzarella-Imbiss mit rot-grünen Zutaten: Tomaten und Basilikum. "Politik geht durch den Magen" nannte sich die Gesprächsreihe damals. Inzwischen tischt die Grüne nur noch Obst ohne Farbsymbolik auf; die Aktion firmiert nun unter "B@H" ("Beck at Home").
Bewirtet hat Beck schon Hiphopper, Bahnlärmopfer, Hochintelligente, Wirtschaftsjunioren oder bosnische Künstler. Zuletzt zwängten sich Imker an den Ausziehtisch — eine Sonderanfertigung in Kirsche massiv. Diesmal ist der "Kulturladen Huchting" an der Reihe, der sich besonders um Migranten kümmert und ihnen auch Ein-Euro-Jobs bietet.
Langsam wird es eng, die Politikerin schleppt weitere Stühle heran, holt für die drei Kinder einer Ghanaerin Saft und fragt: "Möchte noch jemand einen Espresso?" Dann endlich kann sie sich den 16 Besuchern aus acht Nationen vorstellen: "Ich bin seit gefühlten 175 Jahren Bundestagsabgeordnete." Genauer gesagt: seit 1983, unterbrochen durch zwei Pausen.
Als danach die Gäste aus ihrem Leben erzählen, hört sie intensiv zu und fragt behutsam nach wie eine Pädagogin oder Seelsorgerin — was beides zu ihr passt, denn eigentlich ist sie Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde, und ihre Eltern waren streng protestantisch.
Besonders hellhörig wird sie beim Thema Zwangsheirat. "Das gibt es mehr, als ich bisher wahrhaben wollte", räumt die Grünen-Mitbegründerin ein. "Aber ihr werdet nicht erdrückt von den Problemen der Leute?", fragt sie die Kulturladen-Betreuerinnen. Allgemeines Kopfschütteln. Zumindest die Kinder der hier versammelten Migranten haben gute Berufsaussichten. "Es ist ein bisschen auch das Schicksal von Einwanderern, dass vielleicht erst die nächste Generation bessere Chancen hat", resümiert Beck.
Nach anderthalb Stunden bittet die Abgeordnete um Wünsche an die Politik. Vera Zimmermann, die Geschäftsführerin des Kulturladens, möchte, dass ausländische Fachkräfte in Deutschland nicht länger unter Wert arbeiten müssen, weil ihre Bildungsabschlüsse nicht zählen. Beck nickt zustimmend — sie kennt so etwas von einer ihrer beiden Töchter, die in Schottland lebt. Es wäre jetzt ein Leichtes für die Grüne, eine Reform zu fordern. Aber sie nennt die Problemlage "nicht ganz einfach". Denn was ist mit einem Chefarzt aus Sibirien, der nicht mit der hiesigen modernen Medizintechnik vertraut ist? Aber dass der Pilot aus Guatemala, der mit am Tisch sitzt, "nur Koffer abfertigen darf — das ist natürlich hammerhart".
Zwei Stunden Rundgespräch sind jetzt vorbei. Zum Abschied bittet Beck ihre Gäste, einen Umweg durch die Küche zu machen, damit sie nicht alles Geschirr alleine abräumen muss. "Und nehmt noch Erdbeeren mit — ich bin morgen schon wieder weg."
Da reist sie nach Bonn, zu Filmaufnahmen über die Anfänge der Grünen. Und weiter nach Köln. Dort trifft sie eine junge Ausländerin, die schon zweimal von ihrer Familie entführt wurde und auch dank Becks Hilfe wieder freikam.
Was liegt in den Tagen danach an? Die Abgeordnete schnappt sich ihren ständigen Begleiter, einen Tablet-Computer: Am Mittwoch arbeitet sie an einem Antrag zur erleichterten Visavergabe. Donnerstagvormittag führt sie 40 Bremer Auszubildende durch den Bundestag — "auch eine Art von Wahlkreisarbeit".
Am Nachmittag debattiert ein Arbeitskreis des Europarats, in dem sie sitzt, über rechtsstaatliche Defizite in Russland, Belarus und der Ukraine. Freitag: noch mal Berlin, internationale Konferenz über Menschenrechte. "Abends fahre ich dann mit dem Zug nach Bremen", erzählt sie, denn am Samstagmittag wird sie auf einem "Nicht-Wahlkampfstand" der Grünen in der City erwartet — Präsenz zeigen auch zwischen den Wahlen.
Da steht sie dann am Rande des Infotisches und wartet, ob jemand etwas von ihr will. Das Luftballonverteilen überlässt sie anderen. Eine Viertelstunde lang unterhält sie sich mit einer Frau im blassgelben Jackett, die extra vorbeigekommen ist, um die Abgeordnete mal persönlich kennenzulernen.
Danach nimmt eine ältere Dame mit Einkaufsbeutel die Politikerin in Beschlag. Wortfetzen wehen hinüber: "Putin" und "Tschetschenien", aber auch "Töchter im Ausland". "Ich fände es schön, wenn sie mehr in Bremen präsent wäre", sagt die Frau hinterher. Aber es sei auch gut, dass sich Beck so viel mit Außenpolitik und Menschenrechten befasst — als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und als Grünen-Spezialistin für einst sozialistische Staaten.
Heute hier, morgen dort. Wenn sich Beck nicht gerade mit weißrussischen Dissidenten trifft oder 14 Mal den Moskauer Chodorkowski-Prozess beobachtet, kümmert sie sich auch um kleine Einzelschicksale. Für ein Projekt des Huchtinger Kulturladens sollten Migranten alles, was ihnen bisher wichtig war, in einem kunstvoll gestalteten Koffer zusammentragen. Einmal klebte dort auch ein Bild von Beck. Denn sie hatte sich für die Kofferbesitzerin eingesetzt, damals, als Integrationsbeauftragte der rot-grünen Bundesregierung (1998 bis 2005).
Für Beck ist das alles eine Art späte Wiedergutmachung für die Untaten der Nazis, die einst auch von ihren Eltern unterstützt wurden. Inzwischen befürwortet sie sogar Auslandseinsätze der Bundeswehr, denn die Gräuel im Bosnienkrieg haben ihr den Pazifismus ausgetrieben.
Wie viel Zeit sie mit Wahlkreisarbeit verbringt, kann sie nur schätzen: etwa die Hälfte der sitzungsfreien Tage. Beck kann es sich leisten, nicht ständig präsent zu sein, denn sie wurde nicht direkt, sondern über die Landesliste gewählt. Stammtische und Schützenfeste sind ohnehin nicht ihre Sache. Sie ist nicht so der leutselige Typ. Lieber besucht sie eine Beratungsstelle für pränatale Diagnostik; danach kann sie besser bei der einschlägigen Gesetzgebung mitreden.
Und überhaupt: Abgeordnete sollten nicht nur die Interessen ihres Wahlkreises vertreten, findet sie. Zumal es ohnehin Verknüpfungen zwischen Lokal- und Weltpolitik gebe: "Wenn über bremische Häfen Atommüll nach Russland exportiert wird, unter dem die Bürger dort leiden, so ist das auch unsere Sache", heißt es in ihrem Wahlprospekt.
Becks sitzungsfreie Woche endet, wie sie begonnen hat: mit "Beck at Home". Diesmal kommen Stipendiaten der Heinrich-Böll-Stiftung. Was will sie mit solchen Treffen erreichen, neben Werbung? Sie möchte von ihren Gästen lernen, sagt sie. "Die bringen eine Lebensrealität mit, die ich zum Teil gar nicht kenne." Das Gespräch mit den Huchtingern hat sie darin bestärkt, ein bedingungsloses Grundeinkommen abzulehnen — denn das ließe sich nur finanzieren, wenn so wichtigen Integrationsprojekten der Geldhahn zugedreht würde.
Aber auch die Gäste sollen von den Abenden profitieren. Beck möchte ihnen vermitteln, wie kompliziert Politik ist und dass im Bundestag "nicht nur doofe selbstsüchtige Politiker sitzen". "Es gibt sehr viele sehr fleißige Abgeordnete", sagt sie. Und sie zählt garantiert dazu.
Für ihr Privatleben bleibt da kaum noch Zeit, zumal auch ihr Mann, Ralf Fücks, als Chef der Böll-Stiftung viel auf Achse ist. Manchmal treffen sich die beiden auf Tagungen der Stiftung im Ausland.
Aber neulich reichte die Zeit auch für "Faust 1 und 2" — volle acht Stunden am Stück, ohne Gedanken an den Wahlkreis und an ferne Dissidenten. (stg)