Navigationspfad: Startseite > Dokumente > Web- und Textarchiv > 2012
Die EU als ein "Langzeit-Projekt, das immer Langzeit-Dividenden abgeworfen hat", verdiene eine "Langzeit-Perspektive" über die Tagespolitik hinaus: Mit diesen Worten rief Martin Schulz am Freitag, 9. November 2012, im Paul-Löbe-Haus des Bundestages inBerlin bei der diesjährigen "Europa-Rede" dazu auf, in der "schwersten Krise der europäischen Einigung" die "Politik des Durchwurstelns zu beenden" und zu einer Politik der Langfristigkeit zurückzukehren. Der Präsident des Europäischen Parlaments betonte, dass eine über den aktuellen Ereignisdruck hinausweisende Politik von Anfang an wesentlich zur sozialen und demokratischen Stabilisierung Europas beigetragen habe.
Gleichzeitig kritisierte der SPD-Politiker, dass im Zuge der Krisenbewältigung die Parlamente auf nationaler und europäischer Ebene "zusehends an den Rand gedrängt" würden: Der Trend der "Vergipfelung", die Zunahme der Treffen des Europäischen Rats, bei denen immer mehr Details entschieden würden, "höhlt die Demokratie aus". Dieses Vorgehen erinnere ihn an den Wiener Kongress im 19. Jahrhundert.
Zuvor hatte sich Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert überzeugt gegeben, dass im Kontext der Finanzkrise letztlich eine "Revitalisierung" parlamentarischer Zuständigkeiten beginne. Aus der Krise würden auch ein neuer Impuls und ein neuer Integrationsschub für die EU erwachsen, sagte der Bundestagspräsident in seiner Begrüßung.
Lammert mahnte, im globalen Rahmen würden die Europäer künftig "nur gemeinsam eine Rolle oder gar keine Rolle spielen". Wie Schulz rief Lammert die friedenspolitische Leistung der EU in Erinnerung, was nach wie vor ein Motiv für die europäische Einigung sei.
Der EU-Repräsentant warf manchen Regierungen vor, an der "Fiktion nationalstaatlicher Souveränität" festzuhalten. Deshalb würden Brüsseler Gipfel inszeniert, bei denen nationale Interessen durchgeboxt und die Ergebnisse zu Hause als "Sieg verkauft würden".
Die Volkswirtschaften, sagte Schulz, seien jedoch bereits untrennbar miteinander verknüpft, ein Land könne alle anderen in den Abgrund reißen: "Entweder gewinnen wir alle oder verlieren wir alle."
Auf unkontrollierten Finanzmärkten würden Nationalstaaten zum "Spielball der Finanzinteressen". Nötig seien supranationale Lösungen, die aber parlamentarisch legitimiert sein müssten, insistierte der Sozialdemokrat. Regierungschefs dürften nicht "in intergouvernementalen Foren hinter verschlossenen Türen" Absprachen treffen, die von den heimischen Parlamenten nur noch durchgewinkt werden sollen.
"Die Zentrifugalkräfte der Krise drohen uns auseinanderzutreiben", fürchtet Schulz. Die Deutschen sähen sich als Zahlmeister für den Schlendrian anderer in Haftung genommen, andere Völker begriffen sich als Leidtragende einer von außen oktroyierten, in Berlin beschlossenen Sparpolitik: "Dabei sind sie alle Opfer der Finanzkrise" – die einen zahlten mit ihrem Steuergeld für Garantien, die anderen durch Kürzungen von Leistungen.
In der angespannten Lage falle die "Hetze von Populisten und Extremisten" auf fruchtbaren Boden, sorgte sich der Präsident der EU-Volksvertretung, Fremdenfeindlichkeit sei auf dem Vormarsch. So werde leichtfertig über "faule Südländer" gesprochen. In Griechenland werde die deutsche Kanzlerin in Nazi-Uniform abgebildet, was er hart kritisierte.
Der Sozialdemokrat erinnerte daran, dass die Nachkriegsgeneration mit großer Weitsicht einen Sozialstaat aufgebaut habe, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern und die jungen Demokratien zu stabilisieren. Aus Sicht von Schulz gehören zur Gewährleistung von sozialer Gerechtigkeit damals und heute Mitbestimmung, Renten, Arbeitslosenversicherungen, progressive Besteuerung sowie der Zugang zu Bildung und Gesundheit.
An diese Errungenschaften dürfe man nicht unter dem "Diktat der Märkte" die Axt anlegen. Wenn heute wieder von einer "verlorenen Generation" die Rede sei, "dann muss uns das aufschrecken lassen". In Griechenland und Spanien sei jeder zweite junge Bürger ohne Arbeit, dies "untergräbt das Vertrauen in unsere demokratischen Institutionen".
Der EU-Politiker warb für den Euro als gemeinsamer Währung. Als dynamischste Volkswirtschaft der EU solle Polen bald dem Euro beitreten. Schulz setzte sich dafür ein, jene EU-Länder, die nicht den Euro haben, gleichwohl an "Entscheidungen der Euro-Governance" zu beteiligen: Die EU dürfe "keine Abgrenzungsunion werden".
Die "Europa-Rede" wird seit 2010 in Berlin gehalten, jeweils am 9. November zum Jahrestag des Mauerfalls 1989, der das ungeteilte Europa ermöglicht hat. Als Veranstalter erhoffen sich die Stiftung Zukunft Berlin, die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Robert-Bosch-Stiftung von diesen Auftritten Fixpunkte jenseits der Tagespolitik als Orientierung für das Ziel eines vereinten Europa.
Im Wechsel eingeladen sind die Präsidenten des Europäischen Rats, der Brüsseler Kommission und des EU-Parlaments. Im vergangenen Jahr sprach Kommissions-Chef José Manuel Barroso, zum Start 2010 war Rats-Präsident Hermann Van Rompuy zu Gast. (kos/09.11.2012)