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In der Diskussion über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Bundesbehörden und -ministerien sollen nach dem Willen des Bundestages der "aktuelle Forschungsstand und bestehende Forschungsbedarf zur Geschichte der staatlichen Behörden und Institutionen im frühen Nachkriegsdeutschland (Bundesrepublik und DDR)" ermittelt werden. Eine entsprechende Bestandsaufnahme soll die Bundesregierung beim Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und beim Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam in Auftrag geben, heißt es in einem gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP sowie der oppositionellen Sozialdemokraten (17/11001), den der Bundestag am Donnerstag, 8. November 2012, gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen verabschiedete.
Danach soll die Bundesregierung zugleich die zeitgeschichtliche Forschung zur Bundesrepublik Deutschland und zur DDR "durch Schaffung guter wissenschaftlicher Rahmenbedingungen" fördern und in ihren Ministerien und nachgeordneten Behörden für ein "forschungsfreundliches Klima zu werben", das historische Forschung "zu angemessenen Bedingungen, etwa durch Gebührenbefreiungen, ermöglicht". Ferner will das Parlament die Novellierung des Bundesarchivgesetzes "wissenschaftsförderlich gestaltet" wissen.
Dabei sollen die Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte des Bundes, die unmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen zur Abgabe ihrer Unterlagen nach spätestens 30 Jahren gesetzlich verpflichtet werden. Daneben soll die Regierung einen Gesetzentwurf zur Änderung der Gesetze über die Bundesgerichte "mit forschungserleichternden Regelungen zur Einsicht in Akten abgeschlossener Verfahren" vorlegen.
Keine Mehrheit fanden im Parlament eine Reihe weiterer Anträge der Linksfraktion (17/3748, 17/6128, 17/2201, 17/4037) und der Grünen (17/10068, 17/4586) zum Umgang mit der NS-Vergangenheit. Zu der Debatte lag den Abgeordneten zudem die Antwort der Bundesregierung (17/8134) auf eine Große Anfrage der Linksfraktion (17/4126) vor.
Zu Beginn der Debatte verwies der Linke-Abgeordneter Jan Korte darauf, dass der Bundesnachrichtedienst (BND) jahrelang den Aufenthaltsort des 1962 hingerichteten NS-Kriegsverbrechers Adolf Eichmann gekannt habe, ohne dass etwas geschehen sei. Der als "Schlächter von Lyon" bekannt gewordene frühere SS-Hauptsturmführer Klaus Barbie sei 1966 Informant des BND geworden. Carl Theodor Schütz, der 1944 die Hinrichtung von 335 italienischen Geiseln befehligt habe, sei später Abteilungsleiter beim BND geworden.
Die 1950er und 1960er Jahren seien in der Bundesrepublik "vom Schweigen und von der großen Rückkehr der Täter in Amt und Würden" geprägt gewesen, fügte Korte hinzu. Die Abwehr und Beendigung der Entnazifizierung sei ein "wesentlicher Kern der frühen bundesdeutschen Politik" gewesen. Nun müsse es darum gehen, alles offenzulegen. Bundestag, Bundesregierung und die Öffentlichkeit müssten nun die Aufarbeitung der "zweiten Schuld" ohne Verzögerung und Reglementierung entschlossen angehen.
Der CDU-Parlamentarier Armin Schuster sagte, es gebe viele rationale und irrationale Gründe dafür, warum wahrscheinlich viele NS-belastete Menschen "mit schwerer Schuld" in der Exekutive der neu gegründeten Bundesrepublik und der DDR "die Geschicke der Länder geführt haben". Dies zu erklären oder gar noch zu entschuldigen, sei nicht Gegenstand der Debatte. Spannend sei die Frage, wie und warum sich Institutionen und Eliten in der Bundesrepublik im Vergleich zur DDR "mit all diesen Kontinuitäten in Politik und Verwaltung so unterschiedlich entwickeln konnten".
Schuster wandte sich zugleich gegen eine "staatlich gesteuerte Auftragsforschung". Er verwies darauf, dass man "die Quellen zur Erforschung der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten" sichere und zugänglich mache. Mit dem gemeinsamen Antrag der Koalition und der SPD-Fraktion erleichtere man künftig die "Erforschung der NS-Vergangenheit sowie der Kontinuitäten in der DDR und Bundesrepublik" und bewahre zugleich die Forschungsfreiheit.
Bundestagsvizepräsident Dr. Wolfgang Thierse (SPD) betonte, die jüngst bekannt gewordene Karriere des Carl Theodor Schütz sei mit Sicherheit kein Einzelfall. Sie zeige eindringlich, dass man weiter nachfragen müsse und "noch lange nicht alles über die Frühgeschichte der Bundesministerien und -behörden" wissen. Zu fragen sei etwa nach dem "Geist, der die Arbeit der Behörden und Ministerien der jungen Bundesrepublik und auch der frühen DDR bestimmte", sowie nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Verwaltungspraxis.
"Gegenstand der Betrachtung" sollten sowohl "das Weiterwirken von Nazi-Tätern und von schuldig Gewordenen" sein als auch "der Umstand, dass daraus eine Demokratie geworden ist". Dem diene auch der gemeinsame Antrag seiner Fraktion und der Koalition. Dabei solle die darin geforderte Bestandsaufnahme "nicht einen Schlussstrich ziehen, sondern der Vorbereitung eines nächsten Schrittes dienen: einer adäquaten, an aktuellen Methoden und Fragestellungen orientientierten Erforschung einzelner Ministerien und Behörden ohne jede Beschönigung".
Der FDP-Abgeordnete Dr. Stefan Ruppert nannte es "das Reifezeichen einer gefestigten Demokratie, dass sie mit ihrer eigenen Vergangenheit souverän und auch durchaus selbstkritisch umgehen" könne. Es sei unstreitig, dass in der frühen Bundesrepublik eine erhebliche personelle Kontinuität bestanden habe. Statt sich "gegenseitig Dinge vorzuwerfen", solle man "diese geschichtlichen Tatbestände erforschen, zur Kenntnis nehmen und einordnen".
Ruppert verwies darauf, dass Sachverständige in einer Anhörung empfohlen hätten, einerseits die personelle Kontinuität zu untersuchen und andererseits die Frage, warum es der jungen Bundesrepublik gleichwohl gelungen sei, "sich als Rechtstaat zu etablieren". Dabei sei es ein Unterschied, ob Politiker "die Fragen stellen, die wir für interessant halten", oder ob man Zeithistorikern ermögliche, ihre Fragestellungen anhand des vorhandenen Quellenmaterials zu verfolgen. Seiner Ansicht nach ermöglicht das zweite Verfahren "mehr historische Erkenntnis".
Die Grünen-Parteivorsitzende Claudia Roth sagte, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit in ganz Deutschland gehe es "nicht darum, Schmutz zu werfen", sondern um die "demokratische Selbstvergewisserung unserer Institutionen". Die Aufarbeitung eines verdrängten Kapitels der Zeitgeschichte "in aufklärerischem Geist und im Sinne eines Erinnerns und Lernens" sei das Ziel im Umgang der NS-Vergangenheit von Ministerien und Behörden.
Wie nötig diese Debatte sei, zeige auch der Fall Carl Theodor Schütz, unterstrich Roth, die wie Korte auch an die Fälle Eichmann und Barbie erinnerte. Zugleich kritisierte sie den Antrag der Koalition und der SPD-Fraktion als unzureichend. In diesem würden nur "Minischritte" vollzogen, ohne politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Falsch sei an diesem Antrag zudem die Begrenzung des Forschungsauftrags auf die frühe Bundesrepublik. (sto/08.11.2012)