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Die Praxisgebühr wird abgeschafft. Gemäß Beschluss des Bundestagsplenums läuft die weithin unbeliebte Regelung, wonach gesetzlich versicherte Patienten beim Arztbesuch zehn Euro pro Quartal zu entrichten haben, zum Jahresende aus. Um den Beschluss hierzu, den der Koalitionsausschuss in der Nacht auf den 5. November gefasst hatte, möglichst rasch umzusetzen, wurde quasi im Huckepackverfahren eine entsprechende Bestimmung an das Assistenzpflegegesetz (17/10747) angehängt. In der Plenardebatte am Freitag, 9. November 2012, sind die beiden unterschiedlichen gesundheitspolitischen Fragen, die nun in einem Gesetz geregelt werden, gemeinsam beraten worden. Erwartungsgemäß stand dabei die Abschaffung der Praxisgebühr im Vordergrund.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahrist davon überzeugt, dass mit der Entscheidung der Koalition eines der größten Ärgernisse für die Patienten in Deutschland aus dem Wege geräumt wird. "Heute ist ein guter Tag für die Patienten in Deutschland", betonte der Minister. Bei der Einführung der Praxisgebühr im Jahre 2003 hätten SPD und Grüne gehofft, dass dadurch die Zahl der Arztbesuche zurückgehen werden. "Heute wissen wir, dass die Hoffnung sich nicht erfüllt hat", sagte Bahr.
Im Gesundheitswesen bedürfe es durchaus sinnvoller Formen der Eigenbeteiligung. Aus nachvollziehbaren Gründe werde aber keine Art der Selbstbeteiligung von den Versicherten so sehr abgelehnt wie die Praxisgebühr, führte der Minister weiter aus. Nicht zuletzt angesichts der guten finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung sei es an der Zeit, die Versicherten zu entlasten.
Die Rücklagen im Gesundheitsfonds und bei den Krankenkassen von jeweils etwa 14 Milliarden Euro ließen dies zu. Zudem stellt die Abschaffung der Praxisgebühr nach Ansicht Bahrs einen Beitrag zum Bürokratieabbau dar. Die Erhebung der Gebühr habe immerhin 360 Millionen Euro pro Jahr gekostet. Dieser Aufwand habe in einem Missverhältnis zu dem Ertrag gestanden, sagte Bahr.
Mit dem Assistenzpflegegesetz schaffe die Koalition die Möglichkeit, dass pflegebedürftige Behinderte ihre Assistenten künftig nicht nur ins Krankenhaus, sondern auch in Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen mitnehmen könnten. Für den Minister hat das Gesamtgesetz daher einen doppelten Nutzen: "Wir machen Politik, die unmittelbar bei den Patienten ankommt", sagte Bahr.
Die SPD-Abgeordnete Hilde Mattheiswarf der Koalition vor, sie habe zahlreiche Versuche der Opposition im Ausschuss torpediert, die Praxisgebühr schon viel früher abzuschaffen. Dies sei dann erst am Ende eines längeren "Geschachers" in der Koalition gelungen. Der FDP unterstellte die Abgeordnete ganz andere als die vom Minister genannten Motive: "Ihnen geht es ausschließlich darum, die Ärzte wieder hinter sich zu bringen, nicht um die Versicherten", kritisierte Mattheis. Und an die Union gewandt, führte Mattheis aus: "Horst Seehofer hat seinerzeit unter Rot-Grün in der berühmten Nachtsitzung alles dafür getan, dass die Praxisgebühr eingeführt wird." In den vergangenen Monaten habe sich die Koalition lange Zeit nicht einigen können, weil Union und FDP unterschiedliche Klientelen bedienen wollten. Auch beim Assistenzpflegegesetz bleibe die Koalition hinter dem Notwendigen zurück, betonte Mattheis.
Gemessen an dem, was mit dem Ursprungsgesetz aus dem Jahre 2009 bereits erreicht worden sei, sei die Koalition "viel zu kurz gesprungen, weil viele Betroffene, etwa Menschen mit geistiger Behinderung, ausgeschlossen bleiben". Für die SPD-Abgeordnete ist die Regelung nicht sachgerecht, weil nur solche Pflegebedürftige davon profitierten, die ihre Assistenten nach dem sogenannten Arbeitgebermodell beschäftigten. Die anderen Versorgungsmodelle dürften nicht ausgeschlossen werden, verlangte Mattheis. Die SPD könne daher dem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Die CDU-Abgeordnete Maria Michalkhält die angekündigte Entscheidung der SPD, dem Assistenzpflegegesetz die Zustimmung zu versagen, für inkonsequent. Denn die Koalition habe den Ansatz des Gesetzes aus dem Jahre 2009, das die Große Koalition verabschiedet habe, sachgerecht weiterentwickelt. Dies gelte auch für die Entscheidung, die Geltung der Neuregelung auf den Kreis von Betroffenen zu beschränken, die ihre Assistenten nach dem Arbeitgebermodell beschäftigten, sagte Michalk. "Die Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, dass es unvertretbar ist, wenn die Assistenten nicht auch in Vorsorge- und Reha-Einrichtungen mitgenommen werden dürfen", sagte Michalk. Diese Ansicht hätten die auch Experten in der Anhörung im Ausschuss geteilt.
Künftig würden etwa 700 Menschen in Deutschland von den Leistungen des neuen Assistenzpflegegesetzes profitieren, führt die CDU-Abgeordnete weiter aus. Die Forderung der Linken, nicht nur die nach dem Arbeitgebermodell beschäftigten, sondern alle Pflegeassistenten in die Regelung einzubeziehen, sei hingegen überzogen. "Politik ist auch eine Kunst der schrittweisen Vervollkommnung bestehender Regelungen", sagte Michalk. Im Übrigen lasse es die Rechtslage schon jetzt zu, dass in Ausnahmefällen weitere Gruppen von pflegebedürftigen Behinderten ihre Assistenten in Gesundheitseinrichtungen mitnehmen dürfen. "Es ist es uns ernst mit der Verbesserung der Teilhabe von Behinderten in unserer Gesellschaft", betonte die CDU-Abgeordnete abschließend.
Der AbgeordneteHarald Weinbergvon der Fraktion Die Linkeerinnerte an die Entstehung der Praxisgebühr im Jahre 2003. Damals habe die rot-grüne Koalition das sogenannte Facharzt-Hopping bekämpfen und die Union generell eine Gebühr für jeden Arztbesuch erheben wollen. Aus Weinbergs Sicht war die Einführung der Praxisgebühr dann der Kompromiss. Deren Abschaffung sei nun auf ähnlichem Weg zustande gekommen. "Es gab damals ein Geschacher, und es gibt heute wieder ein Geschacher", sagte Weinberg. Nur habe diesmal Horst Seehofer umgekehrt die Praxisgebühr gegen die von ihm so sehr gewünschte Herdprämie eingetauscht.
Die Linke habe hingegen seit 2006 mehrere Gesetzentwürfe und Anträge zur Abschaffung der Praxisgebühr vorgelegt, die allesamt abgelehnt worden seien. Für Weinberg ist daher klar: "Jetzt wird ein Murks abgeschafft und dafür ein anderer eingeführt." Im Übrigen hält Weinberg es für ein gesundheitspolitisches Vorurteil zu behaupten, dass Menschen zu viele Leistungen in Anspruch nehmen würden, wenn sie nichts kosten. Es sei eher umgekehrt ein Problem, wenn Menschen trotz Krankheit nicht zum Arzt gingen. Denn dies erhöhe langfristig gesehen die Krankheitskosten. Weinberg plädiert daher dafür, letztlich alle Arten von Zuzahlungen abschaffen.
Die Abgeordnete Birgitt Bendervon Bündnis 90/Die Grünen äußerte sich nur kurz zum Assistenzpflegegesetz. Die Neuregelung sei ein richtiger, aber letztlich unzureichender Schritt. Im Hinblick auf die Praxisgebühr übt Bender vor allem Kritik an der FDP. "Ausgerechnet diejenigen, die immer in den Geldbeutel der Versicherten greifen wollen, schaffen jetzt die Praxisgebühr ab", zeigte sich Bender erstaunt. Den Versicherten werde aber bald die Rechnung für dieses Geschenk präsentiert. Da der einheitliche Beitragssatz eingefroren worden sei, könnten künftige Kostenerhöhungen nur durch den Zusatzbeitrag beziehungsweise die "kleine Kopfpauschale" aufgefangen werden.
Für die Abgeordnete der Grünen ist dies das Aus für die solidarische Krankenversicherung. "Jedes Jahr steigen die Einnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung um zwei Prozent, während das Ausgabenwachstum immer so um vier Prozent liegt", erklärte Bender. Spätestens im Jahre 2014 sei somit die Kasse leer. Auf diese Weise werde der Gesundheitsfonds zum Sparkessel für das Betreuungsgeld. Trotz dieser Kritik würden die Grünen die Abschaffung der Praxisgebühr mittragen, sagte Bender. Sie habe nicht zu der von manchem erhofften Abnahme der Zahl der Arztbesuche geführt. "Nach der Bundestagswahl werden wir die Gelegenheit haben, alle Zusatzbeiträge abzuschaffen und den Weg in die Bürgerversicherung zu gehen", versicherte die Grünen-Abgeordnete.
Die FDP-Abgeordnete Heinz Lanfermannzeigte sich davon überzeugt, dass die Abschaffung der Praxisgebühr in der Bevölkerung auf große Zustimmung stoße. Der FDP gehe es darüber hinaus auch um Bürokratieabbau: "Das war eines unserer wesentlichen Ziele", betonte Lanfermann.
Im Übrigen seien die Initiativen der Opposition im Ausschuss nie aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt worden. Es habe eben immer noch Beratungsbedarf bestanden, erklärte Lanfermann. Am Ende habe sich die FDP in dieser Frage in der Koalition durchgesetzt. Die FDP begrüße es, dass die Abschaffung der Praxisgebühr nun auch von der Opposition mitgetragen werde.
Der CDU-Abgeordnete Jens Spahn wies darauf hin, dass die Union es in der Sache für richtig gehalten hätte, die Praxisgebühr beizubehalten, am Ende aber den Koalitionskompromiss mittrage. Die Abschaffung der Praxisgebühr sei im Übrigen nur deshalb möglich, weil die finanzielle Situation in der gesetzlichen Krankenversicherung so gut sei wie in den letzten 20 Jahren nicht. Für die vor allem aufgrund des demografischen Wandels zu erwartenden Ausgabensteigerungen müssten jedoch Rücklagen vorhanden sein, betonte Spahn. Dies sei einer der Gründe, weshalb die Union anders als Die Linke dagegen sei, nach der Praxisgebühr auch alle anderen Zuzahlungen abzuschaffen.
Zum Schluss wurde Spahn dann noch grundsätzlich: "Wer in Deutschland krank wird, der kann sich darauf verlassen, dass ihm alle notwendigen Leistungen in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt zur Verfügung stehen, ganz gleich, wie teuer die Behandlung wird."
Der Bundestag stimmte der Abschaffung der Praxisgebühr, über die separat abgestimmt wurde, einstimmig – mit 546 von 546 abgegebenen Stimmen – zu. Das Assistenzpflegegesetz in seiner Gesamtheit fand hingegen nur eine Mehrheit aus Koalition und Linksfraktion.
Ferner wurden ein Antrag der Fraktion Die Linke zur Assistenzpflege (17/10784) ebenso wie alle sechs Anträge der drei Oppositionsfraktionen zum Thema Praxisgebühr (17/9189, 17/11192, 17/9031, 17/11141, 17/9408 und 17/11179) abgelehnt. (tvw/09.11.2012)