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Der Bundestag verurteilt fraktionsübergreifend die Eskalation der Gewalt in der Türkei. In einer Aktuellen Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zeigten sich die Abgeordneten am Mittwoch, 12. Juni 2013, besorgt über das teils brutale Vorgehen der Polizei gegen die seit Wochen in Istanbul und weiteren Großstädten Protestierenden, die gegen die Politik von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan auf die Straße gehen. Deutlich wurde in der Debatte auch, dass die Meinungen zur Frage eines EU-Beitritts der Türkei innerhalb der Opposition und innerhalb der Koalitionsfraktionen auseinandergehen.
Außenminister Dr. Guido Westerwelle (FDP) sprach von einem "falschen Signal", das die türkische Regierung in das eigene Land und nach Europa sende. Die von der Regierung Erdoğan vorangetrieben Modernisierung des Landes dürfe sich nicht nur auf die Wirtschaft beschränken, sondern müsse auch gesellschaftliche Pluralität und den Schutz der Bürgerrechte umfassen.
"Versammlungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung sind Grundrechte in jeder Demokratie", sagte Westerwelle. Eine "Eskalation der Worte und der Taten" durch die Regierungsseite drohe die türkische Gesellschaft zu spalten. Die Demonstrationen wertete Westerwelle als Zeichen der Reifung und Stärkung der türkischen Zivilgesellschaft: "Darüber muss man sich freuen, davor muss man sich nicht fürchten."
Auch Johannes Kahrs (SPD) wertete die Proteste als "ein Zeichen dafür, dass sich die Türkei in die richtige Richtung entwickelt". Die Ausbildung einer Bürgergesellschaft sei auch eine Folge des EU-Beitrittsverfahrens – und es sei "sehr bedauerlich", dass dieser Prozess durch den damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gestoppt worden sei.
Dies habe dazu geführt, dass eine Mehrheit der Türken nicht mehr hinter dem Beitritt stehe: Wenn diese Perspektive nicht mehr vorhanden sei, "dann ist auch der Motor für positive Veränderungen nicht mehr da", argumentierte der Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Ruprecht Polenz (CDU/CSU), machte in den Protesten in der Türkei Zeichen einer wachsenden Zivilgesellschaft aus, die sich nicht mehr vom Staat bevormunden lassen wolle. Polenz machte aber auch darauf aufmerksam, dass die Türkei in einer höchst instabilen Region einen "demokratischen und stabilen Staat" darstelle.
Es sei zu hoffen, dass das Land seine strukturellen rechtsstaatlichen Defizite überwinde und die türkische Demokratie gestärkt aus der Krise hervorgehe. Polenz forderte außerdem, "den EU-Prozess neu zu beleben". Es sei sinnvoll auf Zypern einzuwirken, das im Augenblick beim Verhandlungskapitel 23 zu Justiz und Grundrechten den Prozess blockiere.
Sevim Dağdelen (Die Linke) widersprach ihrem Vorredner in diesem Punkt vehement: Die Eröffnung neuer Verhandlungskapitel sei ein Schlag ins Gesicht der Protestierenden und eine Belohnung Erdoğans und seiner Regierungspartei AKP. "Ihre Illusion verstellt Ihnen den Blick auf die Realitäten in der Türkei", sagte sie an ihre Vorredner von Union, FDP und SPD gerichtet.
"Es gibt keine Versammlungsfreiheit, keine Pressefreiheit in der Türkei". Dağdelen sprach zudem von "staatlichem Terror gegen Demonstranten" durch einen "Unterdrückungsstaat" und warf der Bundesregierung vor, polizeilich und geheimdienstlich mit der türkischen Regierung zu kooperieren.
Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) warf Erdoğan vor, "Stärke mit bloßer Gewalt" zu verwechseln und "Grundrechte als Gnadenakt des Ministerpräsidenten" misszuverstehen. Der türkische Premier habe nicht verstanden, dass die Protestbewegung für ein Ende der alten Kultur- und Machtkämpfe in der Türkei stünden, in denen sich die kemalistische Elite mit dem Militär gegen Traditionalisten und religiös Konservative verbündeten.
"Dieses Muster gehört der Vergangenheit an", sagte Roth. Die Abgeordnete sprach sich für die Fortsetzung des EU-Beitrittsprozesses aus: Die Demonstranten auf dem Taksim-Platz würden ihre Zukunft in einer rechtsstaatlichen Türkei als EU-Mitglied sehen, und "das müssen wir unterstützen".
Auch Hans-Werner Ehrenberg (FDP) argumentierte in diese Richtung: Es sei "höchste Zeit" in der Frage der Beitrittsperspektive umzudenken: "Wir sollten über unseren Schatten springen und der Türkei wieder den Anreiz geben, ihren Weg nach Europa zu gehen."
Ehrenberg erinnerte daran, dass das Land seit Jahrzehnten ein seriöser Nato-Bündnispartner und seriöser Vermittler im Nahen Osten sei, "ohne den unsere Beziehungen zu den arabischen Ländern einseitiger wären". Auch Erdoğans wirtschaftspolitische Leistungen und von ihm betriebene die Beschneidung des Einflusses des Militärs seien unbestritten.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) sprach sich gegen eine die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel aus: "Jetzt ist nicht die Zeit für einseitige Vorleistungen der EU, es ist die türkische Regierung, die jetzt liefern muss", sagte er. (ahe/12.06.2013)