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Geschäftiges Gewimmel vor dem Plenarsaal: Abgeordnete auf dem Weg zur nächsten Debatte, dazwischen Journalisten, Kameraleute, Saaldiener – und Özcan Mutlu. Der neue bildungs- und sportpolitische Sprecher der Grünen fällt nicht besonders auf, wie er da vor der Cafeteria wartet: nicht sehr groß, dunkler Anzug, Brille. Doch Mutlus Augen blitzen wach, und wenn er spricht, dann so schnell, dass die Worte nur so über seine Lippen sprudeln.
Von allen neuen Bundestagsabgeordneten der laufenden 18. Wahlperiode musste der Deutschtürke sich wohl am wenigsten in der Hauptstadt akklimatisieren – und vor allem: sich keine Dienstwohnung suchen. In Berlin aufgewachsen, lebt Mutlu seit Jahren mit Frau und zwei Kindern in Alt-Mitte – und damit im Herzen seines neuen Wahlkreises Berlin-Mitte.
14 Jahre war der 46-Jährige Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin, bevor er sein Büro dort gegen eines im Bundestag, nur wenige Minuten entfernt davon, eingetauscht hat. "Ja, das ist der große Vorteil der Berliner", sagt Mutlu und beißt herzhaft in ein Sandwich, das er sich zum Mittagessen geholt hat.
Für sein Bundestagsmandat hat er sich im Wahlkampf auch mächtig ins Zeug gelegt. Sein Ziel: "Ich wollte zeigen, dass wir Grüne nicht nur in Kreuzberg Wahlkreise direkt gewinnen können." Also joggte Mutlu mit seinem Team medienwirksam, wie der einstige Obergrüne Joschka Fischer, durch die Kieze, kochte Menüs für die potenziellen Wähler oder diskutierte mit ihnen auf einer grünen Gartenbank, die er mal hier mal dort auf der Straße aufbaute.
Ein Kandidat ohne Berührungsängste, authentisch, nahbar – das hat er sich von Barack Obamas Präsidentschaftswahlkampf 2008 abgeschaut. Offenbar erfolgreich. Die Hauptstadtpresse attestierte ihm fast unisono, mit "Charme und Schläue" den originellsten und organisiertesten Wahlkampf der Republik geführt zu haben. Darauf ist der rührige Politiker stolz – auch wenn es letztendlich mit dem Direktmandat nichts geworden ist. Zum Glück war Mutlu über die Liste abgesichert – kein Wunder, schließlich heißt sein Nachname übersetzt "glücklich".
Was ihn allerdings kaum froh stimmen kann: Nach 14 Jahren, in denen seine Fraktion im Abgeordnetenhaus fast ununterbrochen in der Opposition war, hatte Mutlu eigentlich auf eine rot-grüne Mehrheit im Bundestag gehofft. Nun sind Bündnis 90/Die Grünen mit 63 Abgeordneten die kleinste Fraktion und von einer Regierungsbeteiligung wieder weit entfernt.
Doch Mutlu bleibt gelassen: "Opposition kann ich – es muss allerdings kein Dauerzustand werden."
Und noch eine Parallele gibt es: Seit er 1999 als einer der ersten türkischstämmigen Migranten ins Berliner Abgeordnetenhaus eingezogen ist, gilt sein Hauptaugenmerk den Themen Bildung und Integration. Auf reine Migrationspolitik ließ er sich jedoch in der Vergangenheit nur ungern festlegen: "Ich wollte mich nicht auf meine türkische Herkunft reduzieren lassen. Deshalb habe ich nie Stellvertreterpolitik gemacht, sondern mich auf die Bildungspolitik konzentriert."
Bildung sei das Fundament für alles, sagt er. Und: "Ohne Bildung keine Integration." Im Bundestag will Mutlu diese Politik fortsetzen, für ein breites Ganztagsschulangebot und mehr Bildungsgerechtigkeit kämpfen. Die Sportpolitik kommt für ihn hingegen neu dazu – aber immerhin ist Mutlu seit dem Wahlkampf dem Joggen treu geblieben. Jeden Sonntag trainiert er mit den "Green Runners". Jeder, der will, kann ihn begleiten. Los geht’s am Brandenburger Tor, das Ziel ist der Berlin-Marathon 2017. Es ist kein Zufall, dass dann auch die nächste Bundestagswahl ansteht.
Auch wenn er seinen Migrationshintergrund ungern politisch einsetzt – dass er eine wichtige Triebfeder für sein politisches Engagement ist, bestreitet Mutlu nicht: 1968 in Kelkit, im Nordosten der Türkei geboren, kommt er 1973 nach Berlin und wächst in Kreuzberg auf, zeitweise sogar ‚stilecht‘ in einem besetzten Haus.
Vorurteile habe er oft erlebt, sagt er – ob in der Schule, bei der Arbeit oder Behörden – und beginnt zu erzählen. Davon etwa, wie ihm der Besuch des Gymnasiums verwehrt blieb und er stattdessen die Hauptschule besuchen musste, "obwohl ich das leicht geschafft hätte". Als Migrant müsse man immer besser sein als die deutschen Mitschüler, um wahrgenommen zu werden, sagt er.
Doch er lässt sich nicht so leicht entmutigen: Nach der Ausbildung zum Informationselektroniker absolviert er ein Fachhochschulstudium, wird Diplom-Ingenieur. Vor allem aber entschließt er sich, politisch aktiv zu werden. "Wenn man Diskriminierungen am eigenen Leib erfahren hat, kann man nicht nur über die Politik jammern. Man muss etwas dafür tun, dass sie sich ändert."
1990 nimmt Mutlu die deutsche Staatsbürgerschaft an und wird Mitglied der Grünen. Der Auslöser für diesen Schritt: die friedliche Revolution in der DDR und die deutsche Einheit. "Ich bin direkt neben der Mauer groß geworden", erzählt er, "West-Berlin endete quasi dreihundert Meter vor meiner Haustür. Plötzlich waren da Löcher in der Mauer, und die Menschen in Ost nach West haben ‚Wir sind ein Volk‘ gerufen – das hat mich begeistert."
Er habe deshalb nicht länger zuschauen, sondern seinen "Part" übernehmen wollen. Die Teilung Deutschlands, das sei schließlich auch seine Geschichte. "Die wenigsten wissen, dass es auch türkische Grenzopfer gibt", sagt er und erzählt von Cetin Mert, der 1975 an seinem fünften Geburtstag in die Spree fiel und dort ertrank. Die Spree war an dieser Stelle DDR-Territorium, daher traute sich niemand, den Jungen zu retten. "Ich war damals nur wenig älter als er. Dieser Vorfall hat mich geprägt", erinnert sich Mutlu.
1992 wird er in die Bezirksversammlung Kreuzberg gewählt, 1999 zieht er per Direktmandat zum ersten Mal ins Abgeordnetenhaus. Nun ist er im Bundestag. Was wird sich für ihn ändern? In der Arbeit viel: "Im Abgeordnetenhaus war ich mein eigener Pressesprecher und Redenschreiber", sagt er.
Im Bundestag habe er nun einen Stab wissenschaftlicher Mitarbeiter. "So kann ich mich auf das Wesentliche konzentrieren und auch mehr Bürgerarbeit leisten." Mehr Bürgerarbeit, sich um die Menschen und ihre Anliegen zu kümmern, das ist Mutlu besonders wichtig. Er will ein Politiker "zum Anfassen" sein.
Sich künftig stärker zurückziehen will er nicht: "Als ich 1999 ins Abgeordnetenhaus kam, habe ich gesagt: Ich bin Mutlu, ich bleibe Mutlu. Ich schotte mich nicht ab. Daran wird sich auch als Bundestagsabgeordneter nichts ändern."
Unter dem Motto "Mutlu kocht" wird er wie schon im Wahlkampf einmal im Monat ein Menü für diejenigen kochen, die ihn zu sich nach Hause einladen.(sas/29.10.2014)