Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 - 16 / 10.04.2006
K. Rüdiger Durth

"Wir sind ratlos..."

Gewalt an Berliner Schulen
"Wir sind ratlos", schreiben die Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Hauptschule Ende Februar an Schulsenator Klaus Böger (SPD): "Türen werden eingetreten, Papierkörbe als Fußbälle missbraucht, Knallkörper gezündet und Bilderrahmen von den Flurwänden gerissen... In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen..." Der Brief bleibt wochenlang unbeantwortet liegen. Dann gelangt er an die Öffentlichkeit und plötzlich geht alles sehr schnell.

Polizei steht vor der Schule im Stadtbezirk Neukölln, deren Schüler zu mehr als 80 Prozent nicht-deutscher Herkunft sind. Für drei Monate ist in Helmut Hochschild ein neuer Rektor gefunden, da die bisherige Rektorin Brigitte Pick im vergangenen Jahr einen Nervenzusammenbruch erlitt und seitdem krankgeschrieben ist. Berlinweit wird über die Zukunft der Hauptschule diskutiert, da vor allem schwierige Jugendliche nicht-deutscher Herkunft aus Gesamt-und Realschulen gern in die Hauptschulen abgeschoben werden. Mehr Sozialarbeiter sollen sich um diese Jugendlichen kümmern. Und das Thema Gewalt in der Schule wird plötzlich nicht mehr vertuscht.

Die Statistik für das Schuljahr 2004/05 verzeichnet 894 gemeldete Fälle von Gewalt an öffentlichen Schulen der 3,4 Millionen-Metropole - fast 350 mehr als im Schuljahr zuvor, davon 572 Körperverletzungen. Die Fälle von Gewalt gegen Lehrer stieg auf 196 Übergriffe - 40 mehr als im Jahr zuvor. Rapide ist die Zahl der Sachbeschädigungen angestiegen. Doch die größten Sorgen bereiten den Lehrern in den Hauptschulen mit einem hohen Migrantenanteil mangelnde Sprachkenntnisse der Schüler, ihre Unlust am Unterricht, die Respektlosigkeit gegenüber den Lehrern und ihre Perspektivlosigkeit im Blick auf Ausbildung und Arbeit.

Bereits im Januar sorgte die Weddinger Herbert-Hoover-Realschule für Schlagzeilen. Dort war auf Anregung der Schülervertreter durchgesetzt worden, dass in den Unterrichtspausen auf dem Schulhof nur noch Deutsch gesprochen werden darf - weil sich die Schüler, die zu mehr als 90 Prozent Deutsch nicht als Muttersprache haben, selbst nicht mehr untereinander verständigen können. Für das Engagement "Deutsch als Schulhofsprache" ist diese Schule nun mit dem Jahrespreis 2006 der Helga- und Edzard-Reuter-Stiftung ausgezeichnet worden.

Gegen den erbitterten Widerstand der beiden großen Volkskirchen sowie der CDU und der FDP hat das Abgeordnetenhaus mit den Stimmen der rot-roten Regierungskoalition sowie den Grünen den Ethikunterricht als Pflichtfach beschlossen. Obwohl sich viele Experten einig sind, dass ein konfessioneller Religionsunterricht - wahlweise Ethik/Philosophie - die Wertebindung der jungen Generation besser fördert als ein neutraler Ethikunterricht, in dem alles gleich gültig ist, setzte sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) mit dem von ihm (und vor allem von der Mehrheit der SPD und der PDS) befürworteten Ethikunterricht durch. Religionsunterricht kann weiterhin auf freiwilliger Basis in den Randstunden des Unterrichtsplanes zusätzlich erteilt werden.

Schulsenator Klaus Böger (SPD), der bei der Septemberwahl nicht mehr für das Abgeordnetenhaus kandidiert, ist der große Verlierer: Er konnte sich mit seinem Vorschlag einer Zusammenlegung von Haupt- und Realschulen zu Gesamtschulen kein Gehör verschaffen. Wegen seines Ja zu Deutsch als Schulhofsprache wurde er heftig angegriffen. Nicht nur von türkischen Verbänden, sondern auch von Landespolitikern, die noch immer der Idee einer multi-kulturellen Gesellschaft an der Spree anhängen. Denn die Deutschen in den Problembezirken ziehen weg oder melden ihre Kinder in anderen Schulen an - die kirchlichen Schulen sind gefragt wie nie.

Ein Blick in die Statistik: 30 Prozent der Berliner wohnten 2004 in den Stadtteilen Charlottenburg. Neukölln, Schöneberg, Wedding, Kreuzberg und Tiergarten. Allerdings wohnten hier gleichzeitig 57 Prozent der gemeldeten Ausländer - plus einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Ausländer. Und bei einem Sprachtest von Kindern nicht-deutscher Herkunft in Berlin zeigte bei deren Einschulung, dass die Hälfte einer Sprachförderung bedarf.

Selbstverständlich gerät der Aufsehen erregende Brief der Rütli-Hauptschullehrer in den anlaufenden Berliner Wahlkampf. CDU-Spitzenkandidat Friedbert Pflüger macht für die desolaten Zustände in den Hauptschulen vor allem die rot-rote-Regierungskoalition verantwortlich und fordert eine Pädagogik der harten Hand, die von Sozialarbeitern begleitet werden müsse. Ähnlich sieht das auch die FDP im Abgeordnetenhaus. Der Regierende Bürgermeister, der die Abschaffung der Hauptschule ablehnt, verweist auf das Elternhaus. Immer öfter müsse die Schule Ersatz für mangelnde Erziehung spielen. Vor allem bei Kindern aus Migrantenfamilien, die oft über eine sehr niedrige Sozialisation und Integration verfügen. Zugleich ist er überzeugt, dass beispielsweise Hauptschulen nicht mehr Geld und Lehrer benötigen, sondern neue, bessere pädagogische Konzepte.

Längst greift in der umstrittenen Berliner Schulpolitik eins ins andere: Als Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) vor einem Jahr das Scheitern von Multi-Kulti konstatierte, hätte ihn das fast das Amt gekostet. Heute weiß man auch in der SPD, dass er Recht hatte. Und man versteht inzwischen, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen sozialen und ethnischen Problemen gibt. Zu viele junge ausländische Berliner haben keinen Schulabschluss und können nur unzureichend die deutsche Sprache. Das erschwert ihnen erheblich, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. "Wertevermittlung findet hier nur noch auf der Straße statt", bilanziert Buschkowsky.

Diese Kreisläufe müssen durchbrochen werden. Diese Erkenntnis setzt sich in Berlin ebenso langsam durch, wie das nicht längere Dulden von Parallelgesellschaften. Integration aber, die bereits im Kindergarten ansetzen muss und nachhaltige Elternarbeit einschließt, kostet Geld. Und Geld hat das mit 60 Milliarden Euro verschuldete Berlin aber nicht. Dazu müssen sich die Schulen auch um die Vermittlung von Werten bemühen, die dem Einzelnen die Möglichkeit der Orientierung geben. Doch hier verweigert sich der Senat der religiösen Bildung - sowohl der christlichen als auch der islamischen, die als Regelunterricht notwendig wäre.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.