Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 - 16 / 10.04.2006
Susanne Balthasar

Die letzte Hoffnung für sozial Gestrandete: Jugendliche boxen sich zurück ins Leben

Im Drillcamp Gut Kragenhof werden Schwererziehbare getrimmt - sie sollen Regeln lernen
Kannenberg hat das weiße Säckchen in die Mitte geworfen. Eine gefüllte Plastiktüte, ein Häufchen Schuld, das ist klar. An diesem Abend kommt alles heraus. Der umgekippte Strommast, der Einbruch beim Bauern, das geklaute Radio, die Lampe, die durch das Fenster gegangen ist. Kannenberg war ein paar Tage nicht auf dem Gutshof, und wenn Kannenberg weg ist, dann geht es los. Dann haut einer eine Scheibe kaputt, der nächste klaut Messer, der dritte prügelt herum. Lothar Kannenberg sitzt da und schweigt. Ein bisschen sieht er aus wie Marlon Brando in "Der Pate" mit den auf den Armlehnen thronenden Händen. Auf den Handrücken drei tätowierte Punkte, im Gesicht eine schwarze Kastenbrille und eine Boxernase. Beklemmende Stille. Nur das Kaminfeuer in Kannenbergs Rücken knackt.

Zwanzig Augenpaare schauen auf das Tütchen am Boden. Was aus der Küche, rät einer, als ob er nichts wüsste. "Rattengift", erwidert Kannenberg dann leise. So leise, dass sein Flüstern nur knapp die Ohren der anderen erreicht. Geklautes, versteck-tes, gerauchtes und gefundenes Rattengift. Rattengift rauchen macht high, denn in Rattengift ist Strychnin enthalten.

Wegen Drogen, flüstert Kannenberg, seien ihm die Zähne ausgefallen; damals, als er noch geklaut habe, gesoffen, herumgeprügelt und den Mist gebaut habe, den seine Jungs jetzt machen. Bis das Boxen kam. Kannenberg hat sich zurück ins Leben geboxt: Der geordnete Kampf, die Disziplin, der Respekt vor den Regeln, die Erfolgserlebnisse und das Gefühl, etwas zu schaffen. Er hat als Sozialarbeiter gearbeitet, dann einen Boxclub gegründet und schließlich das "Boxcamp Lothar Kannenberg" auf Gut Kragenhof, ein Camp für schwer erziehbare Jugendliche. "Drillcamp" schreibt die Presse, weil die Jungen mit Sport und Disziplin für die Rückkehr ins Leben getrimmt werden.

Draußen im Flur hängt ein Bild von Kannenberg, das ihn zusammen mit Bundespräsident Horst Köhler zeigt. Er hat auch das Bundesverdienstkreuz bekommen. Für sein soziales Engagement für die, die Erzieher, Lehrer und Eltern "hoffnungslose Fälle" nennen, weil sie aus Schulen, Heimen und zu Hause rausgeflogen sind. Dealer, Junkies, Einbrecher, Schläger, Tierquäler, Brandstifter, Psychiatrieinsassen. Es sind alles Teenager. Sie kommen von der Straße, sind mittags aufgestanden, haben gekifft und geschnüffelt, sind auf Klautour gegangen, haben ihre Eltern geschlagen, jahrelang die Schule geschwänzt. Jetzt sollen sie lernen, was Strukturen sind: Auf die Trainer hören, den Tagesplan einhalten, sich duschen, beim Essen nicht "Scheiße" sagen, keine Drogen nehmen, nicht prügeln und die Einsicht erlangen, dass Klamotten gewaschen werden müssen. Wenn alles gut läuft, sollen sie später eine Ausbildung machen. Deshalb wird Kannenberg in der Gruppensitzung auch mal laut, richtig laut: "Glaubt ihr, ich bin bescheuert?" Dass er nicht längst wüsste, wer die Messer geklaut hat? "Morgen bringt ihr das Zeug wieder bei", ordnet Kannenberg an, seine Stimme sackt zurück auf Flüsterlautstärke. Schluss für heute. Es ist weit nach Mitternacht.

Knapp fünf Stunden später liegt der Himmel noch mattgrau über den fleckigen Dachschindeln, das Licht dämmert nur schwach, selbst die Vögel schlafen noch. Ein greller Pfiff und dann: "Aufstehen, hoch die Ärsche" - Morgengrauen auf Gut Kragenhof. Die Erzieher, die hier Trainer heißen, sind keine klassischen Erzieher, sondern Männer mit Drogenerfahrung und Kriminalitätsdelikten im Lebenslauf. Die Trainer läuten den Tagesbeginn an: Dann ertönt ein Fausthämmern auf Holz, Türen knallen, es wird mit Schuhen gestampft, Jungs und Trainer schreien sich an, als müssten sie startende Flugzeuge übertönen. Alles ist wie immer: Das Schlafzimmer für die Kontrolle aufräumen, frühstücken, die Küche putzen und dann boxen.

Drinnen in der Boxhalle, dem ehemaligen Kuhstall, ist es kühl. Die Wände sind rissig wie Lippen im November, die Sparringecke ist mit Seilen abgetrennt. Von der Hallendecke baumeln rotlederne Sandsäcke wie Schweinehälften im Schlachthaus. Es riecht nach Schweiß und feuchten Mauern. Die Jungen tanzen um die rotledernen Säcke, manche federn kräftig auf den Zehenspitzen, andere heben nur matt die Hacken. Dennis grinst und lässt seine Fäuste wie Kugeln aus dem Flipperautomaten auf das Leder fliegen. Auf dem Kopf eine Wollmütze, die wie eine Eierschale auf seinen blonden Locken sitzt. Ein Kindergesicht. Dennis ist 16. Im Ohr steckt ein großer und falscher Brillantohrring, der kleine, stämmige Körper in einem dunkelblauen Trainingsanzug. Dennis ist einer der schwersten Jungs hier, er hat über 80 Anzeigen kassiert und saß schon im Knast. Er prügelt auf den Sandsack ein - oder auf ein Gesicht. "Den, auf den ich gerade einen Hass habe", keucht Dennis und meint den Kumpel, der ihn verraten hat. Die Wut, für die er sich im Leben kein Ventil erlauben darf, prasselt auf den Sandsack. Eine Art Sporttherapie, bei der die aggressiven Energien in geregelte Bahnen des Trainings umgeleitet werden.

Mit Alex, dem Trainer, steigt Dennis in die Sparringecke. Dennis macht seine Sache gut, Alex lobt, die anderen klatschen. Ein kleines Erfolgserlebnis, aber ein wichtiges. "Es geht darum, dass die Jungs mal feststellen, dass sie auch irgendwas können", sagt einer der Trainer. "Überall bekommen sie erzählt, dass sie nix können, dass sie schlecht in der Schule sind, Verbrecher. Wir fangen an, ihnen positive Gefühle zu geben." Nach ein paar Minuten ist Dennis fertig, der Schweiß läuft ihm über die Stirn, der Trainingsanzug klebt am Körper. "Man muss halt die Extrapower aus sich herausholen", sagt Dennis mit rasselndem Atem. "Jeder Mensch hat auch ' ne zweite Energie, beim Sport und im Leben. Auch wenn er nicht mehr kann, da ist immer noch was drin."

Die Jungs sammeln sich auf dem quadratischen Gutshof; auf drei Seiten umgrenzt von der alten Scheune, der Boxhalle und dem Fachwerkhaupthaus mit dem rissigen Putz. Hinter dem Haus liegt eine Wiese mit Holzkreuzen wie auf einem Soldatenfriedhof. An den Kreuzen baumeln die Namen der Jungen. Nach sechs Wochen beerdigen sie hier Koks und geklaute CDs, Videospiele und alte Klamotten und vielleicht auch die Vergangenheit. Alles fließt die Fulda herunter: Gut Kragenhof liegt auf einer Halbinsel. Ein schmaler Weg verbindet das Boxcamp mit der Außenwelt. Das Tor steht offen und manchmal haut einer der Jungen ab in den Wald, auf die Straße nach Kassel. Zurück zu Handys, Portemonnaies, Fernsehern und Stereoanlagen. Auf dem Gutshof ist das alles verboten. Dafür gibt es hier Hoffnung. Und Überlebenstraining. Rauslaufen in den Wald bis zu dem Steilhang am Ufer der Fulda. "Paarweise rauf und runter", brüllen die Trainer. "Los, das muss schneller gehen, härter!" Die Stimmen sind meis-tens kurz vorm Kippen, aber Anschreien, sagt Dennis und grinst, Anschreien sei etwas anderes: "Die brechen uns ja nicht, die Trainer sind wie Freunde für uns." Anders als in den amerikanischen Bootcamps, die jeder hier aus dem Fernsehen kennt und mit denen Kragenhof oft verglichen wird, arbeiten die Trainer mit den Jugendlichen und nicht gegen sie. Sie loben und unterstützen sie. Zur Strafe in der Pfütze schlafen und andere Bootcamp-Schikanen gibt es hier nicht. Wer nicht gehorcht, wird nach den Regeln bestraft: "Scheiße"-sagen beim Essen macht zehn Liegestütze. Wer die Gruppe sprengt, den bestraft die Gruppe. Jetzt ist Alex dran. Der steht reglos oben am Hang. "Keine Lust mitzumachen", sagt Alex. Er ist 13 und hat eine Kinderstimme, leise und immer ein bisschen weinerlich, als würde ihm dauernd jemand auf die Zehen treten. Das Trainingscamp Lothar Kannenberg ist seine letzte Chance vor der Psychiatrie. Ansonsten, sagt Alex, wäre er schon längst abgehauen: "Wie die mit einem umgehen. Alles ist Zwang hier." Zwang zum Aufstehen, Zwang zum Sport, Zwang zur Ordnung.

"Fullewasser", grölt die Gruppe. Fullewasser ist die schlimmste aller Strafen. Alex geht langsam und aufrecht weiter, immer weiter, den Hang hinunter zum Uferrand. Erst versinken die Turnschuhe, dann die Socken, die Jogginghose und dann die Trainingsjacke im braunen Fuldawasser. Nur Alex' Kopf schwimmt noch oben. Als der Körper wieder auftaucht, kleben die dreckigen Sportklamotten wie Schlamm daran. "Nicht so schlimm", sagt Alex. "Das war wie an einem kalten Tag ins Schwimmbad gehen." Dafür hat ihn das Bad in der Fulda vom Überlebenstraining befreit. So sind die Regeln. Als Alex in Richtung Kragenhof abwandert, hinterlässt er eine feuchte Spur auf dem Waldboden. Die anderen machen weiter: Klimmzüge an der Stange, Liegestütze in einer Schlammlache, Joggen.

Was sie tatsächlich dabei lernen, ist noch eine offene Frage: Das Camp gibt es seit eineinhalb Jahren. Wie viele von denen, die anschließend eine Lehre machen oder in ein betreutes Wohnprojekt einsteigen, dauerhaft dabei bleiben, ist noch nicht klar. Inzwischen wird auf Kragenhof erstmal als Erfolg verbucht, dass die Jungen überhaupt ein halbes Jahr betreut werden. Selbstverständlich ist hier nichts. Normal ist, dass immer mal wieder Mist gebaut wird, sagt Kannenberg: "Das ändert sich nicht von heute auf morgen."

Am Ende des Tages sitzen alle wieder im Kaminzimmer. In Kannenbergs Nacken lodert das Feuer, seine Stimme fordert leise die geklauten Waffen ein, aber schnell. Ein paar Jungen trauen sich, und am Ende liegt alles in Kannenbergs Händen. Der schmeißt die Übeltäter nicht raus. Auch den angedrohten Kollektivstraflauf nach Hermünden, bei dem es letzthin blutige Füße gegeben hat, gibt es nicht. Alle sind begnadigt. Kannenberg sagt, dass er stolz ist auf den Mut und die Verantwortung, die sie gezeigt hätten. Die Jungs guck-en auf den Boden. Nur die Lippen zeigen, wenn man ganz genau hinschaut, dass sie sich freuen. Wie am Ende eines jeden Tages stellen sich die Jungen im Kreis auf, legen sich gegenseitig die Arme auf die Schultern und brüllen drei Mal: "Wir schaffen das!" Der Durchhaltekreis. Wer es nicht schafft, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Straße, im Knast oder auf dem Friedhof. Auf Kragenhof geht es jeden Tag um alles, aber das ist normal. Bevor das Licht für heute endgültig gelöscht wird, sagt Lothar Kannenberg, dass es ein Tag wie jeder andere war.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.