Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 - 16 / 10.04.2006
Kai Nitschke

Realität hinter Gittern zeigen

Gefangene helfen Jugendlichen

Körperverletzung, Drogenhandel, Raub und Mord: Über 30 Jahre Knasterfahrung sitzen in Vorstand und Geschäftsführung des Vereins. Doch es handelt sich dabei um keine gewalttätige Rocker-Gang, sondern um eine gemeinnützige Organisation, die Kriminalität verhindern will. Der Verein "Gefangene helfen Jugendlichen" organisiert Besuche in der berüchtigten Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel ("Santa Fu"). Dort treffen 14- bis 21-Jährige, die zumeist bereits mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind, auf erwachsene Gefangene, die langjährige Freiheitsstrafen verbüßen.

Die Idee zu diesem bundesweit einmaligen Projekt hatten vier ehemalige Insassen von "Santa-Fu". Das Ziel ist, die gefährdeten Jugendlichen mit der Gefängnisrealität zu konfrontieren, um sie so von weiteren Straftaten abzuhalten. "Viele haben doch komplett falsche Vorstellungen und sehen Verbrecher als coole Typen, die ihre Gefängnisstrafe auf einer Backe absitzen", sagt Volker Ruhe, Geschäftsführer von "Gefangene helfen Jugendlichen". Der 50-jährige wurde Mitte der 90er-Jahre wegen Kokainschmuggels verurteilt und saß über fünf Jahre seiner Strafe in der Hamburger Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel ab: "Von den täglichen Problemen des Knastalltags, der beklemmenden Enge und den ständigen Kontrollen machen sich die Jugendlichen keine Vorstellung", so Ruhe.

Dies ändert sich mit dem Besuch im Gefängnis: Bereits beim Einlass müssen sich die Jugendlichen durchsuchen lassen und werden dann durch die dunklen Flure der mehr als 100 Jahre alten Haftanstalt geführt. Der kurze Aufenthalt in einer Zelle vermittelt zudem einen Eindruck davon, wie klein ein Raum von rund acht Quadratmetern sein kann. Beim anschließenden Gespräch mit den Gefangenen kommen die Probleme der Häftlinge zur Sprache: Die Eintönigkeit des Knast-alltags, die Sorge um erkrankte Angehörige oder auch die Angst vor der Zeit nach der Entlassung.

"Für die Jugendlichen ist der Besuch im Gefängnis oft ein einschneidendes Erlebnis", sagt Aris Hägermann von der Organisation "Kurswechsel". Im Auftrag der Hamburger Jugendgerichtshilfe betreut der 38-jährige Therapeut straffällig gewordene Teenager. Der soziale Trainingskurs umfasst neben Gesprächen mit den Familien der Jugendlichen auch den Besuch im Gefängnis. "Wir wollen den Jugendlichen verdeutlichen, wohin ihr Weg führen kann, wenn sie so weiter machen wie bisher", so Hägermann. Die Berichte der "Santa Fu"-Gefangenen seien dafür eine besonders authentische Möglichkeit. Zudem würden sich viele der Jugendlichen in den Häftlingen wieder erkennen.

Lebensläufe ähneln sich stark

"Die Lebensläufe ähneln sich häufig sehr stark", berichtet auch Volker Ruhe. Genau wie viele der heute straffälligen Jugendlichen kämen auch die meisten "Santa Fu"-Insassen aus kaputten Elternhäusern. Auch er selber sei unter schwierigen sozialen Bedingungen aufgewachsen und bereits früh auf die schiefe Bahn geraten. "Körperverletzung, Diebstähle, Autoaufbrüche, ich habe in meinem Leben schon viel Mist gebaut", erzählt Ruhe. Mit 18 Jahren saß er das erste Mal im Jugendknast. Als er dann später durch eine gescheiterte Selbstständigkeit und schlechte Geschäfte mit falschen Freunden in finanzielle Not geriet, entstand durch Kontakte nach Kolumbien die Idee mit dem Drogenschmuggel. Über 20 Kilogramm Kokain brachte Ruhe nach Deutschland, bevor der Handel aufflog. Das Hamburger Landgericht verurteilte ihn dafür zu 13 Jahren Freiheitsstrafe. "Zuerst hatte ich Selbstmordgedanken, aber dann habe ich mir vorgenommen, etwas Positives aus dieser Strafe zu machen", berichtet Ruhe. Er holte seinen Schulabschluss nach, begann in der Haft ein Fernstudium und wurde Mitglied der Insassenvertretung. Noch vor seiner Entlassung gründete er zusammen mit zwei verurteilten Mördern sowie einem Räuber das Projekt "Gefangene helfen Jugendlichen".

Ende der 90er-Jahre starteten die ersten Knastbesuche. "Die meisten Jugendlichen werden uns von der Jugendgerichtshilfe und den Jugendbeauftragten der Polizei vermittelt, aber wir haben auch sehr gute Kontakte zu vielen Hamburger Schulen", sagt Ruhe. Er wird mittlerweile auch zu Projektwochen an "Brennpunkt-Schulen" eingeladen, hält dort Vorträge und dis-kutiert mit Jugendlichen über Gewalt und Kriminalität. Zudem bietet der Verein Kampfsporttraining an, das von einem verurteilten Mörder geleitet wird. Er wurde nach 15 Jahren Haft vorzeitig auf Bewährung entlassen.

"Mit dem Sportangebot wollen wir aber eigentlich nur Zeit gewinnen für Gespräche mit den Jugendlichen", sagt Ruhe. Während und nach dem Training würde intensiv mit den Jugendlichen über deren Probleme, wie zum Beispiel Konflikte im Elternhaus, dis-kutiert. "Als ehemalige Strafgefangene haben wir es leichter, ins Gespräch zu kommen, als zum Beispiel professionelle Sozialarbeiter", so Ruhe.

In Kürze soll das Angebot des Vereins zudem um ein Computer- und Bewerbungstraining erweitert werden. "Viele junge Straftäter fühlen sich als gesellschaftliche Verlierer und sehen für sich kaum eine andere Perspektive, außer, weiterhin kriminell zu sein", sagt Ruhe: "Wir wollen den Jugendlichen deshalb auch stärker praktische Lebenshilfe bieten." Finanziert werden diese Angebote - genau wie die übrige Vereinsarbeit - fast ausschließlich über Spenden von Hamburger Stiftungen und Privatleuten.

Langfristig möchte Ruhe das Angebot von "Gefangene helfen Jugendlichen" bundesweit ausdehnen: "Bereits jetzt kommen Jugendliche aus ganz Norddeutschland zu uns, sogar aus dem brandenburgischen Guben, direkt an der polnischen Grenze, reist zweimal im Jahr eine Gruppe an", sagt der Geschäftsführer. Ruhe hat deshalb schon Kontakt mit Gefängnissen in Berlin und Bremen aufgenommen, wo jetzt die Vorbereitungen für regelmäßige Knastbesuche von Jugendlichen anlaufen.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.