Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 15 - 16 / 10.04.2006
Wolfgang Janisch

Karlsruhe macht Druck

Über Untersuchungshaft soll zügiger entschieden werden
Ein verurteilter Terrorist, ein mutmaßlicher Vergewaltiger, ein Düsseldorfer Vermieter, der sein eigenes Haus in die Luft gesprengt und dabei sechs Mieter in den Tod gerissen haben soll: Sie alle durften dank des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Monaten ihre Gefängniszellen verlassen. Seit einiger Zeit macht das Karlsruher Gericht ernst, wenn es den Eindruck hat, die Justiz lasse Untersuchungsgefangene unnötig lang in der Haft sitzen. Das Freiheitsgrundrecht gebiete höchst mögliche Beschleunigung solcher "Haftsachen", haben die höchsten deutschen Richtern den Kollegen ins Stammbuch geschrieben - und der Justiz damit bundesweit Beine gemacht.

Mit der Entscheidung bringen die Verfassungsrichter den Grundsatz der Unschuldsvermutung in Erinnerung: Wer noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, gilt vor dem Gesetz als unschuldig. Wenn sich ein Verfahren lang hinzieht und der Angeklagte währenddessen in Untersuchungshaft bleibt, sitzt er - zumindest in der Theorie - unschuldig im Gefängnis. Deshalb reagiert Karlsruhe unwirsch auf zähe Aktenbearbeitung oder zögerliche Terminierung. Wenn ein Mensch im Gefängnis sitzt, dann hätten Richter und Justizangestellte den Fall im Eiltempo zu bearbeiten.

Spektakuläre Entscheidungen

So haben die Richter einen Düsseldorfer Vermieter, der acht Jahre unter Mordverdacht im Gefängnis saß, im Dezember kurzerhand auf freien Fuß gesetzt. Die höchsten deutschen Richter lasteten der Justiz gleich mehrere Versäumnisse an. Zum einen musste der Fall nach einer ersten Verurteilung zu lebenslanger Haft vom Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben und zur neuen Verhandlung zurückverwiesen werden, weil dem Landgericht Düsseldorf ein Verfahrensfehler unterlaufen war. Zweitens bemängelte Karlsruhe, dass sich schon das erste Verfahren über Jahre hingezogen habe; allein bis zum Prozessauftakt waren fast zwei Jahre verstrichen.

Auch vor spektakulären Entscheidungen schreckt das Gericht - genauer: eine aus drei Richtern bestehende Kammer des Zweiten Senats - nicht zurück. Im Februar wurde nach einem Karlsruher Beschluss der Marokkaner Mounir El Motassadeq freigelassen - jener Mann, der als Mitglied einer Terrorgruppe um die Hamburger Attentäter des 11. September 2001 zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war. Auch sein Verfahren hatte bereits eine Schleife über Karlsruhe gedreht, der BGH hatte eine erste Verurteilung gekippt. Im Laufe des weiteren Verfahrens war ihm Haftverschonung gewährt worden, die aber nach der neuerlichen Verurteilung wieder zurückgenommen wurde. Dies beanstandeten die Verfassungsrichter: Die Tatsache, dass aus dem drohenden ein existierendes Urteil geworden sei, reiche nicht für den Widerruf der Haftverschonung - Motassadeq darf nun in Freiheit auf seinen neuerlichen Revisionsprozess warten.

Gerade im Fall Motassadeq hat das Gericht, sonst eher für die großen Linien der Verfassung zuständig, sich tief ins Gestrüpp des Strafprozessrechts begeben. Nicht, dass es sich dort verlaufen hätte - doch vielleicht hätten es die Verfassungsrichter bei der üblichen Arbeitsteilung mit den anderen Gerichten, in diesem Fall das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg und der BGH, belassen und die Finger von den Details des "einfachen Rechts" lassen sollen: Die Verfassungsrichter prüfen, ob sich das Ergebnis im Rahmen des Grundgesetzes hält, die "Fachgerichte" sind für die Feinheiten zuständig.

Ohnehin hat die harsche Linie der höchsten Richter bereits zu justizinternen Verstimmungen geführt. Siegfried Broß, in der Dreier-Kammer für die U-Haft-Fälle zuständig, hat auch die Kollegen vom BGH nicht vor deutlicher Kritik verschont. Wegen einer vergleichsweise läppischen Verzögerung hatte er einem Strafsenat ein "schlechthin unentschuldbares Organisationsverschulden" vorgeworfen - was BGH-Präsident Günter Hirsch nicht auf seinen Richtern sitzen lassen wollte. Die Kritik des Kollegen Broß - früher selbst Richter im BGH - sei weder der Sache nach noch in der Wortwahl angemessen, kommentierte Hirsch.

Damit nicht genug. Inzwischen haben bereits zwei BGH-Strafsenate dem Verfassungsgericht die Gefolgschaft versagt. In beiden Fällen ging es um die Frage, ob ein Angeklagter einen Strafnachlass bekommt, weil die Justiz fehlerhaft gearbeitet und das Verfahren sich dadurch unnötig in die Länge gezogen hat. Während die Verfassungsrichter in Fällen solcher offenkundiger Justizfehler eine entsprechende Kompensation angemahnt haben, stellten die BGH-Richter sich stur - und gingen sogar auf Konfrontationskurs: Die Kammer-Rechtsprechung sei für den BGH nicht bindend, weil die Grundsatzfrage noch nicht durch einen mit acht Richtern besetzten Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden sei. Was wiederum den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, zu einer Antwort herausforderte: Auch Kammerentscheidungen seien für die Gerichte bindend, beschied er. Sachsens Justizminister Geert Mackenroth (CDU) mahnte bereits zur Mäßigung: "Es wäre den beiden Damen Justitia nicht zuträglich, wenn sich hier ein Zickenkrieg entwickeln würde."

Außerdem bleibt den unteren Instanzen nichts anderes übrig, als die Regeln aus Karlsruhe umzusetzen. Das reicht bis in die Amtsstuben von Schreibkräften und Amtsboten hinein, wie neulich das Landgericht Mannheim erfahren musste. Weil seine Justizangestellten zu langsam gearbeitet hatten, wurde ein mutmaßlicher Vergewaltiger vorerst auf freien Fuß gesetzt. Schreib- und Routinearbeiten wurden zu schleppend erledigt und haben laut Verfassungsgericht zu einer Verzögerung von mehr als drei Monaten geführt. Auch hier war ein erstes Urteil, das auf vier Jahre Haft lautete, wegen eines Verfahrensfehlers wieder aufgehoben worden.

Und die Umsetzung ist keine leichte Aufgabe für eine Justiz, deren Personaldecke seit Jahren immer kürzer geworden ist. Allenthalben werden Stellen abgebaut, in Schleswig-Holstein und Thüringen sollen gar jeweils gut ein halbes Dutzend Amtsgerichte aufgelöst werden. Deshalb mahnt Christoph Frank, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Richterbundes (DRB): "Der Vorrang der Haftsachen kann beim derzeitigen Personalnotstand nur zu Lasten anderer Verfahren gehen."

Das werden im Zweifel die Zivilprozesse sein - also auch jene Verfahren, mit denen Mittelständler säumige Zahler zur Begleichung der Rechnung zwingen wollen. Müssen sie künftig länger auf ihr Geld warten, könnte Deutschland einen Standortvorteil einbüßen, warnt Frank. Deutsche Zivilverfahren schneiden im internationalen Vergleich bisher sehr gut ab.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.