11.1.5.9 Kompetenzen der Akteure zur Gestaltung der
Globalisierung international aufeinander abstimmen:
Global Governance-Konzepte pragmatisch angehen
Nationalstaat
Träger der
globalen Weltordnung sind auch heute noch die Nationalstaaten. In
Demokratien dient der Staat der Freiheit und der Würde des
Menschen. Seine Autorität bezieht er aus seiner Bindung an die
unveräußerlichen Grundrechte der Bürger. Der
demokratische Staat soll die innere und äußere Sicherheit
garantieren, muss seine Bürger vor Willkür und
Machtmissbrauch schützen, verbindet verschiedene Gruppen und
fördert den gesellschaftlichen Konsens. Der Staat bündelt
die Kräfte der Gemeinschaft und verteilt die Macht auf die
Funktionsträger Legislative, Exekutive und Judikative. In
Zeiten der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung und weiterer
globaler Entwicklungen stoßen Nationalstaaten jedoch an
Grenzen ihrer Möglichkeiten bei der Lösung dieser
Aufgaben.
Nach den
Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hat der Nationalstaat seine
Gestalt und seine Aufgaben deutlich verändert. Auf vielen
Politikfeldern haben die Zahl und die Dichte völkerrechtlicher
Normen sowie die Gründung neuer internationaler Organisationen
zugenommen und damit die souveräne Eigenständigkeit
einseitig staatlichen Handelns zusehends eingeschränkt.
Dabei bleiben die
Nationalstaaten jedoch unverzichtbar. Sie sind nach wie vor die
Träger des sogenannten Gewaltmonopols, d. h. nur sie
können Rechtsverletzungen, auch solche des Völkerrechts,
sanktionieren und so dem Recht die nötige Achtung verschaffen.
Alleine die Nationalstaaten sind originäre
Völkerrechtssubjekte, die aus eigener Souveränität
für ihr Staatsgebiet normatives, also zwingendes Gesetzesrecht
setzen können. Nur Nationalstaaten können –
gemeinsam mit anderen Staaten – neues Völkerrecht
generieren und bestehendes abändern oder aufheben. Wenn dem
Völkerrecht die Rolle eines sich verdichtenden Netzwerks bis
hin zu einer Konzeption einer „Global
Governance“ zuwachsen soll, so ist jeder Schritt in
diese Richtung nur durch die Nationalstaaten möglich, und
damit ist auch für die Zukunft die entscheidende Rolle der
Nationalstaaten vorgegeben.
Zivilgesellschaft
Nach
Einschätzung vieler Kritiker sind im Laufe der
Kompetenzübertragungen von nationalen zu internationalen
Regelungen Demokratiedefizite entstanden. Viele Menschen sehen ihre
Interessen gerade bei internationalen Entscheidungsprozessen oft
nicht ausreichend repräsentiert und fordern daher, die Rolle
der Bürger in der Gesellschaft – auf nationaler, vor
allem aber auf internationaler Ebene – zu stärken.
Nichtregierungsorganisationen (NGO) versuchen, dieses von vielen
ausgemachte „Machtvakuum“ zu besetzen und nehmen dabei
in Anspruch, als „Zivilgesellschaft“ aufzutreten.
Organisationen wie „amnesty international“ oder
„Greenpeace“ gelten in der breiten Öffentlichkeit
als glaubwürdig und haben einen hohen Vertrauensvorschuss.
Diese Organisationen sind Sympathieträger und
präsentieren sich als Anwälte universaler und
gemeinnütziger Anliegen.
Nichtregierungsorganisationen als
Teile der Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft ist aber weder eine
Plattform altruis tischer Akteure, noch per se
demokratieförderlich. NGO sind zu einer neuen Herausforderung
für die Politik geworden. Die
Demokratisierungspotenziale der Zivilgesellschaft können nur
kontextabhängig erschlossen werden. Die Akteurspalette
der internationalen Zivilgesellschaft zeichnet sich durch eine
große Vielfalt, Heterogenität und
Konkurrenzverhältnisse aus. NGO repräsentieren
naturgemäß immer nur einen Ausschnitt der Gesellschaft,
den ihrer Mitglieder und das auch nur in einem speziellen Thema.
Entsprechend verfügen NGO meistens über eine sehr
spezifische Expertise in wenigen Themenfeldern. NGO sind im
politischen System offen positioniert und benötigen keine
langwierigen internen Abstimmungsprozesse. NGO können dadurch
schnell und flexibel handeln, gerade auch in Hinblick auf die
Formulierung von Kritiken und die Umsetzung von Protesten.
Darüber
hinaus haben sie es verstanden, sich weltweit zu vernetzen und zu
professionalisieren. Einige haben sich zu regelrechten
„NGO-Multis“ entwickelt und operieren als
„Global Player“. In Verbindung mit hohem
emotionalem Engagement macht all dies sie zu einflussreichen und
ernstzunehmenden Interessenvertretern. Während sie anfangs
alleine durch ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung
Einfluss auf Entscheidungsprozesse ausgeübt haben, nehmen sie
zunehmend für sich in Anspruch, für die Zivilgesellschaft
im Allgemeinen sprechen zu können. Sie leiten daraus einen
Anspruch ab, an den politischen Entscheidungsverfahren direkt
beteiligt zu werden.
Jedoch alleine
die Parlamente und Regierungen sind durch allgemeine, freie Wahlen
legitimiert, für einen Staat oder eine Region zu sprechen und
zu entscheiden. Es muss kritisch hinterfragt werden, auf Basis
welcher Legitimationsprozesse und daraus abgeleitet – ob,
unter welchen Bedingungen und in welchen Fällen – NGO
für die Bürger und die Zivilgesellschaft sprechen
können. Zu fragen ist, welches Mandat von welchen Bürgen
NGO mit welcher Verbindlichkeit erhalten. Zu fragen ist auch, wem
sie Rechenschaft abliefern und von wem sie finanziert werden.
Transparenz und Rechtschaffenheit von NGO
Zweifellos gibt
es eine ganze Reihe von Funktionen, die zivilgesellschaftliche
Akteure im Rahmen des Globalisierungsprozesses übernehmen
können. Nur NGO, deren Organisation und interne
Entscheidungsprozesse transparent sind und rechtschaffend ablaufen
und auf jedwede Form von Gewalt verzichten, sind überhaupt
legitimiert, als Interessenvertreter beim politischen
Entscheidungsprozess gehört zu werden. Wir begrüßen
ausdrücklich das Engagement, den Sachverstand und die
beratende Mitwirkung an vielfältigen Problemfeldern solcher
NGO bei der Kontrolle und Kritik an Entscheidungen, bei der
Kontrolle um die Rechenschaft internationaler Organisationen sowie
im legislativen Vorfeld. Ihre positive Wirkung auf die
Bewusstseinserweiterung in den Gesellschaften hat einen eigenen
zusätzlichen, erheblichen Wert.
Da NGO jedoch – wie alle anderen
Interessengruppierungen auch – immer nur Partikularinteressen
verfolgen, haben sie die Gesamtlage nicht notwendig im Blick. Sie
können daher gar nicht für die Zivilgesellschaft im
Ganzen sprechen, geschweige denn Verantwortung für das Ganze
übernehmen. Es muss also eine deutliche Grenze gezogen werden:
Entscheidungen müssen immer von den Parlamenten und
Regierungen getroffen werden, deren Legitimation sich durch
allgemeine, freie Wahlen begründet. Diese übernehmen
für ihre Entscheidungen auch die Verantwortung.
Global Governance
Der Begriff der „Global
Governance“ suggeriert globale Strukturen, die sich
dem Begriff „Regierung“ allenfalls annähern, wobei
dabei oft eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft am
internationalen Entscheidungsprozess impliziert wird. Aus
verschiedenen Richtungen wird sich in den kommenden Jahren immer
wieder die Frage nach der neuen Austarierung der Kompetenzen von
Einzelstaat, Staatengemeinschaft und Zivilgesellschaft zu Gunsten
verstärkter Internationalität der Politik stellen, wie
folgende Beispiele zeigen:
– Faktisch globale
Entwicklungen ergeben Sachzwänge, denen der einzelne Staat
kaum begegnen kann. Die Einigung auf die WTO 1994 etwa war die
richtige Antwort auf die Forderung nach mehr Wachstum und Wohlfahrt
durch weltweiten Handel. Oder: Im Umweltbereich haben faktisch
globale Zusammenhänge bei der Schädigung der Umwelt zu
neuen Normen geführt, etwa im Bereich der Ozonschicht oder
beim Schutz des Klimas.
– Forderungen der
langfristigen Friedenswahrung und der weltweiten Stärkung der
Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene
müssen zu neuen Formen zwischenstaatlicher Kooperation
führen.
– Im Gefolge der
Globalisierung der Wirtschaft müssen internationale
Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen effizienten und
gerechten Wettbewerb erlauben (Vorschlag der Bildung einer G24,
s.u.).
– Die
Homogenität regionaler Werte und Interessen bietet sich als
Grundlage an, auf regionaler Ebene neue Formen der Kooperation und
des Souveränitätsverzichts zu entwickeln. Ein besonderes
und erfolgreiches Beispiel hierfür ist die EU.
Staatliche, zwischenstaatliche und
supranationale Zuständigkeiten berücksichtigen
Die Schwäche vieler Versuche eines neuen
Austarierens der staatlichen, zwischenstaatlichen und
supranationalen Zuständigkeiten sowie der Beteiligung der
Zivilgesellschaft besteht darin, dass sie die heutige Rolle des
Staates unterschätzen und diejenigen Ansätze
überbetonen, die auf einem verstärkten Willen
zwischenstaatlicher Kooperation beruhen. Gegen Entwürfe zu
globalen Denkens und Regierens sprechen rationale Gründe. So
findet der einzelne Bürger seine Identität etwa auch
heute am stärksten auf der Ebene der Gruppen, Völker und
Staaten. In vielen Bereichen kann der Staat in seiner Funktion der
Herstellung der Sicherheit und Wohlfahrt des Bürgers nur
schwer durch zwischenstaatliche Mechanismen der Kooperation ersetzt
werden, auch wenn solche Kooperation dem Staat bei der Erfüllung
seiner Aufgabe hilft. Selbst auf jenen Feldern, auf denen sich
inhaltlich die Übertragung der Aufgabe an internationale
Organisationen anbietet, haben die Erfahrungen der vergangenen
Jahrzehnte mehr Fragen als Antworten aufgeworfen.
Die Abgrenzung zwischen nationalstaatlicher
Souveränität und der Kompetenz internationaler
Organisationen einerseits und der Beteiligung der Zivilgesellschaft
andererseits muss sich daher weniger an großen Visionen einer
neuen Weltordnung ausrichten, sondern pragmatisch-punktuell an
sektorspezifischen Besonderheiten. Insbesondere sollten folgende
Überlegungen in die weiteren Diskussionen um
Global Governance-Strukturen eine Rolle spielen:
– Um Effizienz,
Verantwortlichkeit und Transparenz vieler internationaler
Organisationen steht es nicht überall beim Besten, wie etwa
die Diskussionen um die Vereinten Nationen, den IWF oder die WTO
zeigen. Deren Arbeit muss sich aber an diesen Kriterien messen
lassen, die weltweit zum Maßstab des Regierens geworden sind.
Mit dieser Maßgabe ist die Arbeit internationaler
Organisationen zu stärken, um den legitimen Interessen aller
Staaten und Menschen an einer offenen und gerechten internationalen
Ordnung gerecht zu werden.
–
Rechtsstaatlichkeit muss viel stärker als bisher als das
gemeinsame Fundament für eine Reihe von bisher eher als
separat betrachtete Felder internationaler Politik angesehen
werden.
– Die Kohärenz
der Arbeit internationaler Organisationen muss verbessert werden.
Dies gilt insbesondere im Verhältnis zwischen Weltbank, dem
IWF, der WTO, der UNEP und UNDP. In der Vergangenheit sind immer
wieder erhebliche Defizite bei der gegenseitigen Abstimmung und
damit bei der Durchführung der jeweiligen Aufgaben
aufgetreten. Die bisherigen lockeren Formen der Kooperation
bedürfen deshalb einer Straffung, die im Ergebnis die
gegenseitige Unterstützung effektiver gewährleistet.
Damit dieses Ziel erreicht werden kann, ist eine Kommission unter
Leitung einer unabhängigen international anerkannten
Persönlichkeit einzurichten, die Vorschläge in dieser
Richtung erarbeiten soll. Der Kommission sollen die Vertreter
wichtiger Staaten sowie der beteiligten Organisationen
angehören.
– Im Sinne der
verbesserten weltweiten Abstimmung der unterschiedlichen globalen
Politikfelder muss verstärkt über eine informelle Gruppe
nachgedacht werden, die ähnlich wie die G7/G8 arbeitet, aber
aus Vertretern aller Regionen der Welt zusammengesetzt ist. Dabei
kann angeknüpft werden an die schon jetzt bewährte
Zusammensetzung des Exekutivdirektoriums von Weltbank und IWF. Im
Rahmen der G7/G8 wird häufig informell über Fragen
entschieden, die in erheblicher Weise Auswirkungen auf die dritte
Welt und die Arbeit internationaler Institutionen haben. Eine
solche G24 („Global
Governance Group“) könnte Fragen globaler
Bedeutung mit sehr viel größerer Legitimität als die
G7/G8 ansprechen. Die Bundesregierung wird hiermit ersucht, diesen
Vorschlag in die internationalen Debatten einzubringen. An der
Existenz der G7/G8 sollte sich nichts ändern, da die Vorteile
ihrer homogenen Zusammensetzung nicht aufgegeben werden sollen.
Eine Überstimmung potenzieller Geberländer mit der Folge
finanzieller Verpflichtungen wäre in einer G24 nicht
möglich, weil bindende Beschlüsse in diesen Gremien nicht
getroffen werden.
– Internationale
Institutionen müssen immer wieder im Hinblick auf ihre
Legitimität und ihren Bedarf überprüft werden. Die
meisten heutigen Organisationen spiegeln die politischen
Verhältnisse nach 1945 wider. Einrichtungen, die sich bei
einer Überprüfung als überflüssig erweisen,
sollten nicht mehr unterstützt werden.
– Beim Dialog mit
der Zivilgesellschaft stellt sich angesichts der Vielfalt und
unklaren Abgrenzungen der NGO immer das Problem der Auswahl der
Teilnehmer. Bislang gibt es kein allgemein akzeptiertes Regelwerk
für die Partizipation von NGO bei internationalen
Verhandlungsprozessen.
– Schließlich
birgt eine Partizipation auch immer die Gefahr der
Instrumentalisierung. Organisationen wie die UN, Weltbank und EU
sind dazu übergegangen, zur Durchführung gemeinsamer
Projekte den NGO Mittel zur Verfügung zu stellen. Je mehr sich
NGO in Politikabsprachen einbinden lassen, desto geringer werden
ihre Handlungsspielräume.
Zusammenfassung
Die Vorstellung einer zentralen Rolle
zivilgesellschaftlicher Gruppen als Träger einer globalen
Ordnung ist unrealistisch und entspricht nicht dem
ordnungspolitischen Grundkonsens in breiten Teilen der
Weltöffentlichkeit. Die Lösung globaler Probleme darf
nicht in den Zuständigkeitsbereich zivilgesellschaftlicher
Akteure übertragen werden, sondern muss Aufgabe der politisch
verantwortlichen Entscheidungsträger bleiben. Bei der
Einbeziehung des Sachverstands zivilgesellschaftlicher Akteure in
den Meinungsbildungsprozess muss die Legitimationsgrundlage und die
Repräsentativität genau geprüft werden. Die neue
Austarierung der Kompetenzen von Einzelstaat, Staatengemeinschaft
und Zivilgesellschaft muss sich weniger an großen Visionen
einer neuen Weltordnung ausrichten, sondern pragmatisch-punktuell
an sektorspezifischen Besonderheiten.
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