*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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11.1.5.9   Kompetenzen der Akteure zur Gestaltung der Globalisierung international aufeinander abstimmen: Global Governance-Konzepte pragmatisch angehen

Nationalstaat

Träger der globalen Weltordnung sind auch heute noch die Nationalstaaten. In Demokratien dient der Staat der Freiheit und der Würde des Menschen. Seine Autorität bezieht er aus seiner Bindung an die unveräußerlichen Grundrechte der Bürger. Der demokratische Staat soll die innere und äußere Sicherheit garantieren, muss seine Bürger vor Willkür und Machtmissbrauch schützen, verbindet verschiedene Gruppen und fördert den gesellschaftlichen Konsens. Der Staat bündelt die Kräfte der Gemeinschaft und verteilt die Macht auf die Funktionsträger Legislative, Exekutive und Judikative. In Zeiten der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung und weiterer globaler Entwicklungen stoßen Nationalstaaten jedoch an Grenzen ihrer Möglichkeiten bei der Lösung dieser Aufgaben.

Nach den Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg hat der Nationalstaat seine Gestalt und seine Aufgaben deutlich verändert. Auf vielen Politikfeldern haben die Zahl und die Dichte völkerrechtlicher Normen sowie die Gründung neuer internationaler Organisationen zugenommen und damit die souveräne Eigenständigkeit einseitig staatlichen Handelns zusehends eingeschränkt.

Dabei bleiben die Nationalstaaten jedoch unverzichtbar. Sie sind nach wie vor die Träger des sogenannten Gewaltmonopols, d. h. nur sie können Rechtsverletzungen, auch solche des Völkerrechts, sanktionieren und so dem Recht die nötige Achtung verschaffen. Alleine die Nationalstaaten sind originäre Völkerrechtssubjekte, die aus eigener Souveränität für ihr Staatsgebiet normatives, also zwingendes Gesetzesrecht setzen können. Nur Nationalstaaten können – gemeinsam mit anderen Staaten – neues Völkerrecht generieren und bestehendes abändern oder aufheben. Wenn dem Völkerrecht die Rolle eines sich verdichtenden Netzwerks bis hin zu einer Konzeption einer Global Governance zuwachsen soll, so ist jeder Schritt in diese Richtung nur durch die Nationalstaaten möglich, und damit ist auch für die Zukunft die entscheidende Rolle der Nationalstaaten vorgegeben.

Zivilgesellschaft

Nach Einschätzung vieler Kritiker sind im Laufe der Kompetenzübertragungen von nationalen zu internationalen Regelungen Demokratiedefizite entstanden. Viele Menschen sehen ihre Interessen gerade bei internationalen Entscheidungsprozessen oft nicht ausreichend repräsentiert und fordern daher, die Rolle der Bürger in der Gesellschaft – auf nationaler, vor allem aber auf internationaler Ebene – zu stärken. Nichtregierungsorganisationen (NGO) versuchen, dieses von vielen ausgemachte „Machtvakuum“ zu besetzen und nehmen dabei in Anspruch, als „Zivilgesellschaft“ aufzutreten. Organisationen wie „amnesty international“ oder „Greenpeace“ gelten in der breiten Öffentlichkeit als glaubwürdig und haben einen hohen Vertrauensvorschuss. Diese Organisationen sind Sympathieträger und präsentieren sich als Anwälte universaler und gemeinnütziger Anliegen.

Nichtregierungsorganisationen als Teile der Zivilgesellschaft

Die Zivilgesellschaft ist aber weder eine Plattform altruis­ tischer Akteure, noch per se demokratieförderlich. NGO sind zu einer neuen Herausforderung für die Politik    geworden. Die Demokratisierungspotenziale der Zivilgesellschaft können nur kontextabhängig erschlossen werden. Die Akteurspalette der internationalen Zivilgesellschaft zeichnet sich durch eine große Vielfalt, Heterogenität und Konkurrenzverhältnisse aus. NGO repräsentieren naturgemäß immer nur einen Ausschnitt der Gesellschaft, den ihrer Mitglieder und das auch nur in einem speziellen Thema. Entsprechend verfügen NGO meistens über eine sehr spezifische Expertise in wenigen Themenfeldern. NGO sind im politischen System offen positioniert und benötigen keine langwierigen internen Abstimmungsprozesse. NGO können dadurch schnell und flexibel handeln, gerade auch in Hinblick auf die Formulierung von Kritiken und die Umsetzung von Protesten.

Darüber hinaus haben sie es verstanden, sich weltweit zu vernetzen und zu professionalisieren. Einige haben sich zu regelrechten „NGO-Multis“ entwickelt und operieren als „Global Player“. In Verbindung mit hohem emotionalem Engagement macht all dies sie zu einflussreichen und ernstzunehmenden Interessenvertretern. Während sie anfangs alleine durch ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung Einfluss auf Entscheidungsprozesse ausgeübt haben, nehmen sie zunehmend für sich in Anspruch, für die Zivilgesellschaft im Allgemeinen sprechen zu können. Sie leiten daraus einen Anspruch ab, an den politischen Entscheidungsverfahren direkt beteiligt zu werden.

Jedoch alleine die Parlamente und Regierungen sind durch allgemeine, freie Wahlen legitimiert, für einen Staat oder eine Region zu sprechen und zu entscheiden. Es muss kritisch hinterfragt werden, auf Basis welcher Legitimationsprozesse und daraus abgeleitet – ob, unter welchen Bedingungen und in welchen Fällen – NGO für die Bürger und die Zivilgesellschaft sprechen können. Zu fragen ist, welches Mandat von welchen Bürgen NGO mit welcher Verbindlichkeit erhalten. Zu fragen ist auch, wem sie Rechenschaft abliefern und von wem sie finanziert werden.

Transparenz und Rechtschaffenheit von NGO

Zweifellos gibt es eine ganze Reihe von Funktionen, die zivilgesellschaftliche Akteure im Rahmen des Globalisierungsprozesses übernehmen können. Nur NGO, deren Organisation und interne Entscheidungsprozesse transparent sind und rechtschaffend ablaufen und auf jedwede Form von Gewalt verzichten, sind überhaupt legitimiert, als Interessenvertreter beim politischen Entscheidungsprozess gehört zu werden. Wir begrüßen ausdrücklich das Engagement, den Sachverstand und die beratende Mitwirkung an vielfältigen Problemfeldern solcher NGO bei der Kontrolle und Kritik an Entscheidungen, bei der Kontrolle um die Rechenschaft internationaler Organisationen sowie im legislativen Vorfeld. Ihre positive Wirkung auf die Bewusstseinserweiterung in den Gesellschaften hat einen eigenen zusätzlichen, erheblichen Wert.

Da NGO jedoch – wie alle anderen Interessengruppierungen auch – immer nur Partikularinteressen verfolgen, haben sie die Gesamtlage nicht notwendig im Blick. Sie können daher gar nicht für die Zivilgesellschaft im Ganzen sprechen, geschweige denn Verantwortung für das Ganze übernehmen. Es muss also eine deutliche Grenze gezogen werden: Entscheidungen müssen immer von den Parlamenten und Regierungen getroffen werden, deren Legitimation sich durch allgemeine, freie Wahlen begründet. Diese übernehmen für ihre Entscheidungen auch die Verantwortung.

Global Governance

Der Begriff der Global Governance suggeriert globale Strukturen, die sich dem Begriff „Regierung“ allenfalls annähern, wobei dabei oft eine stärkere Beteiligung der Zivilgesellschaft am internationalen Entscheidungsprozess impliziert wird. Aus verschiedenen Richtungen wird sich in den kommenden Jahren immer wieder die Frage nach der neuen Austarierung der Kompetenzen von Einzelstaat, Staatengemeinschaft und Zivilgesellschaft zu Gunsten verstärkter Internationalität der Politik stellen, wie folgende Beispiele zeigen:

–    Faktisch globale Entwicklungen ergeben Sachzwänge, denen der einzelne Staat kaum begegnen kann. Die Einigung auf die WTO 1994 etwa war die richtige Antwort auf die Forderung nach mehr Wachstum und Wohlfahrt durch weltweiten Handel. Oder: Im Umweltbereich haben faktisch globale Zusammenhänge bei der Schädigung der Umwelt zu neuen Normen geführt, etwa im Bereich der Ozonschicht oder beim Schutz des Klimas.

–    Forderungen der langfristigen Friedenswahrung und der weltweiten Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene müssen zu neuen Formen zwischenstaatlicher Kooperation führen.

–    Im Gefolge der Globalisierung der Wirtschaft müssen internationale Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einen effizienten und gerechten Wettbewerb erlauben (Vorschlag der Bildung einer G24, s.u.).

–    Die Homogenität regionaler Werte und Interessen bietet sich als Grundlage an, auf regionaler Ebene neue Formen der Kooperation und des Souveränitätsverzichts zu entwickeln. Ein besonderes und erfolgreiches Beispiel hierfür ist die EU.

Staatliche, zwischenstaatliche und supranationale Zuständigkeiten berücksichtigen

Die Schwäche vieler Versuche eines neuen Austarierens der staatlichen, zwischenstaatlichen und supranationalen Zuständigkeiten sowie der Beteiligung der Zivilgesellschaft besteht darin, dass sie die heutige Rolle des Staates unterschätzen und diejenigen Ansätze überbetonen, die auf einem verstärkten Willen zwischenstaatlicher Kooperation beruhen. Gegen Entwürfe zu globalen Denkens und Regierens sprechen rationale Gründe. So findet der einzelne Bürger seine Identität etwa auch heute am stärksten auf der Ebene der Gruppen, Völker und Staaten. In vielen Bereichen kann der Staat in seiner Funktion der Herstellung der Sicherheit und Wohlfahrt des Bürgers nur schwer durch zwischenstaatliche Mechanismen der Kooperation ersetzt werden, auch wenn solche Kooperation dem Staat    bei der Erfüllung seiner Aufgabe hilft. Selbst auf jenen Feldern, auf denen sich inhaltlich die Übertragung der Aufgabe an internationale Organisationen anbietet, haben die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte mehr Fragen als Antworten aufgeworfen.

Die Abgrenzung zwischen nationalstaatlicher Souveränität und der Kompetenz internationaler Organisationen einerseits und der Beteiligung der Zivilgesellschaft andererseits muss sich daher weniger an großen Visionen einer neuen Weltordnung ausrichten, sondern pragmatisch-punktuell an sektorspezifischen Besonderheiten. Insbesondere sollten folgende Überlegungen in die weiteren Diskussionen um Global Governance-Strukturen eine Rolle spielen:

–    Um Effizienz, Verantwortlichkeit und Transparenz vieler internationaler Organisationen steht es nicht überall beim Besten, wie etwa die Diskussionen um die Vereinten Nationen, den IWF oder die WTO zeigen. Deren Arbeit muss sich aber an diesen Kriterien messen lassen, die weltweit zum Maßstab des Regierens geworden sind. Mit dieser Maßgabe ist die Arbeit internationaler Organisationen zu stärken, um den legitimen Interessen aller Staaten und Menschen an einer offenen und gerechten internationalen Ordnung gerecht zu werden.

–    Rechtsstaatlichkeit muss viel stärker als bisher als das gemeinsame Fundament für eine Reihe von bisher eher als separat betrachtete Felder internationaler Politik angesehen werden.

–    Die Kohärenz der Arbeit internationaler Organisationen muss verbessert werden. Dies gilt insbesondere im Verhältnis zwischen Weltbank, dem IWF, der WTO, der UNEP und UNDP. In der Vergangenheit sind immer wieder erhebliche Defizite bei der gegenseitigen Abstimmung und damit bei der Durchführung der jeweiligen Aufgaben aufgetreten. Die bisherigen lockeren Formen der Kooperation bedürfen deshalb einer Straffung, die im Ergebnis die gegenseitige Unterstützung effektiver gewährleistet. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, ist eine Kommission unter Leitung einer unabhängigen international anerkannten Persönlichkeit einzurichten, die Vorschläge in dieser Richtung erarbeiten soll. Der Kommission sollen die Vertreter wichtiger Staaten sowie der beteiligten Organisationen angehören.

–    Im Sinne der verbesserten weltweiten Abstimmung der unterschiedlichen globalen Politikfelder muss verstärkt über eine informelle Gruppe nachgedacht werden, die ähnlich wie die G7/G8 arbeitet, aber aus Vertretern aller Regionen der Welt zusammengesetzt ist. Dabei kann angeknüpft werden an die schon jetzt bewährte Zusammensetzung des Exekutivdirektoriums von Weltbank und IWF. Im Rahmen der G7/G8 wird häufig informell über Fragen entschieden, die in erheblicher Weise Auswirkungen auf die dritte Welt und die Arbeit internationaler Institutionen haben. Eine solche G24 („Global Governance Group“) könnte Fragen globaler Bedeutung mit sehr viel größerer Legitimität als die G7/G8 ansprechen. Die Bundesregierung wird hiermit ersucht, diesen Vorschlag in die internationalen Debatten einzubringen. An der Existenz der G7/G8 sollte sich nichts ändern, da die Vorteile ihrer homogenen Zusammensetzung nicht aufgegeben werden sollen. Eine Überstimmung potenzieller Geberländer mit der Folge finanzieller Verpflichtungen wäre in einer G24 nicht möglich, weil bindende Beschlüsse in diesen Gremien nicht getroffen werden.

–    Internationale Institutionen müssen immer wieder im Hinblick auf ihre Legitimität und ihren Bedarf überprüft werden. Die meisten heutigen Organisationen spiegeln die politischen Verhältnisse nach 1945 wider. Einrichtungen, die sich bei einer Überprüfung als überflüssig erweisen, sollten nicht mehr unterstützt werden.

–    Beim Dialog mit der Zivilgesellschaft stellt sich angesichts der Vielfalt und unklaren Abgrenzungen der NGO immer das Problem der Auswahl der Teilnehmer. Bislang gibt es kein allgemein akzeptiertes Regelwerk für die Partizipation von NGO bei internationalen Verhandlungsprozessen.

–    Schließlich birgt eine Partizipation auch immer die Gefahr der Instrumentalisierung. Organisationen wie die UN, Weltbank und EU sind dazu übergegangen, zur Durchführung gemeinsamer Projekte den NGO Mittel zur Verfügung zu stellen. Je mehr sich NGO in Politikabsprachen einbinden lassen, desto geringer werden ihre Handlungsspielräume.

Zusammenfassung

Die Vorstellung einer zentralen Rolle zivilgesellschaftlicher Gruppen als Träger einer globalen Ordnung ist unrealistisch und entspricht nicht dem ordnungspolitischen Grundkonsens in breiten Teilen der Weltöffentlichkeit. Die Lösung globaler Probleme darf nicht in den Zuständigkeitsbereich zivilgesellschaftlicher Akteure übertragen werden, sondern muss Aufgabe der politisch verantwortlichen Entscheidungsträger bleiben. Bei der Einbeziehung des Sachverstands zivilgesellschaftlicher Akteure in den Meinungsbildungsprozess muss die Legitimationsgrundlage und die Repräsentativität genau geprüft werden. Die neue Austarierung der Kompetenzen von Einzelstaat, Staatengemeinschaft und Zivilgesellschaft muss sich weniger an großen Visionen einer neuen Weltordnung ausrichten, sondern pragmatisch-punktuell an sektorspezifischen Besonderheiten.




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