4.2.2.2 Dienstleistungslücke und
Finanzierungsstruktur des Sozialstaates?
Eine weitere
Erklärung für die im internationalen Vergleich
verhältnismäßig schlechte Beschäftigungslage in
Deutschland setzt an der sogenannten
„Dienstleistungslücke“ an. Dabei unterscheidet man
einen dem internationalen Wettbewerb „exponierten
Sektor“ und einen „geschützten Sektor“
einschließlich des öffentlichen Sektors, der dem
internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt ist. Die These lautet,
dass die ungünstige Beschäftigungslage Deutschlands
ausschließlich auf die im internationalen Vergleich besonders
geringe Beschäftigung im geschützten Sektor, speziell bei
den Dienstleistungen, zurückzuführen ist, während im
exponierten Sektor sogar eine überdurchschnittliche
Beschäftigung – höher als in den USA –
erreicht wird (Scharpf 2002).
Die besonders
niedrige Beschäftigung bei den Dienstleis tungen
könnte ihrerseits aus dem spezifischen Leis-tungsprofil und
aus der Finanzierungsstruktur des Sozialstaates in Deutschland
– nicht an seinem quantitativen Umfang – zu
erklären sein. Einerseits kennt der deutsche Sozialstaat kein
umfassendes und von der Bedürftigkeit unabhängiges
Angebot an sozialen Diensten wie es in den skandinavischen Staaten
üblich ist; demnach ist die Beschäftigung im
öffentlichen Sektor in Deutschland notwendigerweise viel
niedriger als dort. Andererseits verteuern in Deutschland die hohen
Sozialabgaben die Arbeitskosten und verhindern, dass – wie in
den angelsächsischen Ländern – ein breiter Sektor
privater, allerdings verhältnismäßig gering
bezahlter Dienstleistungen entstehen konnte. Der Grund liegt darin,
dass solche einfacheren Dienstleistungen mit Eigenarbeit
konkurrieren und nur nachgefragt werden, wenn sie billig sind
(Scharpf 2002).
Allerdings gibt es hiergegen auch
Einwände:
– Zum einen ist die
empirische Basis der Aussage, in Deutschland gebe es nicht genug
einfache Dienstleis-tungen im privaten Sektor, nicht unbestritten.
Nach Auffassung von Autoren des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung, die sich auf Daten des Sozio
ökonomischen Panels (SOEP) stützen, beruht die Theorie
der Dienstleistungslücke – vor allem der häufig
gezogene Vergleich zwischen Deutschland und den USA – auf
statistischen Verzerrungen. Zunächst werden offenkundig
sektorspezifische statt tätigkeitsbezogene Daten verwendet.
Nicht erfasst werden die Dienstleis tungen von
geringfügig Beschäftigten sowie Beamten und
Selbstständigen, und außerdem wird die trans
formationsbedingte Sondersituation Ostdeutschlands nicht
berücksichtigt. Ohne diese statistische Verzerrung sei der
Dienstleistungsanteil in Westdeutschland mit etwa 75 Prozent der
Beschäftigten fast genau so groß wie in den USA (78
Prozent) (Schupp und Wagner 2001: 82f., Haisken-De New u.a.
1998).
– Zum anderen existieren
die analysierten Strukturunterschiede im Sozialsystem der
verglichenen Länder schon
seit Jahrzehnten unverändert. Noch in den 80er und teilweise
in den 90er Jahren hatte Deutschland trotz einer auch damals
schon – vermeintlich oder tatsächlich – vorhandenen
Dienstleistungslücke eine güns tigere
Arbeitsmarktsituation als die heute besser gestellten
Länder, ohne dass sich dieser Überholprozess aus
tiefgreifenden Änderungen des Sozialsystems erklären
ließe. Dieser Befund würde eher dafür sprechen, dass
die ungünstige Beschäftigungsentwicklung in Deutschland
Folge einer allgemeinen Wachstumsschwäche und der
Strukturprobleme in Ostdeutschland ist und nicht primär des
Mangels an einfachen Dienstleistungen; die Schlussfolgerung
wäre also nicht, dass Deutschland sich zwischen dem
skandinavischen und dem US-amerikanischen Weg zu entscheiden
hätte (Schupp und Wagner 2001: 82f., Haisken-DeNew u.a. 1998),
sondern dass die Chancen des spezifischen deutschen
Entwicklungspfades mit seiner Konzentration im hochproduktiven
Sektor besser genutzt werden müsste, und zwar durch bessere
Makrosteuerung und – so lange ein hohes
gesamtwirtschaftliches Arbeitsplatzdefizit besteht – neue
Formen der Arbeitszeitverkürzung.
Exkurs:
Beschäftigungsquoten im Dienstleistungssektor im
internationalen Vergleich
Ein internationaler
Vergleich der Beschäftigungsstruktur in entwickelten
Industrieländern zeigt, dass eine hohe
Beschäftigungsquote im Dienstleistungssektor auf zwei Wegen
erreicht werden kann. In den USA wurde eine hohe Beschäftigung
im Dienstleistungssektor durch eine niedrige Steuer- und
Sozialabgabenquote erzielt, weil damit durch eine Verminderung der
Preise für einfache Dienstleistungen eine entsprechende
Nachfrage erzeugt wurde (s.
Abbildung 4-8).
In
Dänemark dagegen wurde eine hohe Beschäftigungsquote im
Dienstleistungssektor offenbar durch eine entsprechende Nachfrage
des Staates im öffentlichen Sektor erreicht, die über
Steuern finanziert wurde und deshalb mit einer hohen Steuer- und
Sozialabgabenquote verbunden ist (s.
Abbildung 4-9).
Beide Länder
konnten im Gegensatz zu Deutschland mit diesen unterschiedlichen
Strategien eine deutlich höhere Beschäftigungsquote in
der Gesamtwirtschaft erzielen. Da im OECD-Durchschnitt die
Beschäftigung in den exponierten Sektoren zurückgeht,
können Beschäftigungszuwächse nur in den
geschützten Sektoren erzielt werden, die dem internationalen
Wettbewerb nicht ausgesetzt sind.
Die Höhe der
Beschäftigungsquoten in den geschützten Sektoren steht in
einem engen Zusammenhang mit dem Anteil von Frauenerwerbsarbeit (s.
Abbildung 4-10).
Die Erklärung
für die relativ hohen Quoten der Frauenerwerbstätigkeit
liegt in der Struktur des Sozialstaats und in der Struktur seiner
Finanzierung. In den skandinavischen Sozialstaaten werden Familien
durch öffentlich finanzierte Pflege- und Betreuungsdienste
entlastet, die in den liberalen Sozialstaaten als
kostengünstige private Dienstleistungen angeboten werden
(Scharpf 2002, Esping-Andersen 1999, Scharpf und Schmidt 2000:
310-315).
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