*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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4.2.2.2    Dienstleistungslücke und Finanzierungsstruktur des Sozialstaates?

Eine weitere Erklärung für die im internationalen Vergleich verhältnismäßig schlechte Beschäftigungslage in Deutschland setzt an der sogenannten „Dienstleistungslücke“ an. Dabei unterscheidet man einen dem internationalen Wettbewerb „exponierten Sektor“ und einen „geschützten Sektor“ einschließlich des öffentlichen Sektors, der dem internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt ist. Die These lautet, dass die ungünstige Beschäftigungslage Deutschlands ausschließlich auf die im internationalen Vergleich besonders geringe Beschäftigung im geschützten Sektor, speziell bei den Dienstleistungen, zurückzuführen ist, während im exponierten Sektor sogar eine überdurchschnittliche Beschäftigung – höher als in den USA – erreicht wird (Scharpf 2002).

Die besonders niedrige Beschäftigung bei den Dienstleis­ tungen könnte ihrerseits aus dem spezifischen Leis-tungsprofil und aus der Finanzierungsstruktur des Sozialstaates in Deutschland – nicht an seinem quantitativen Umfang – zu erklären sein. Einerseits kennt der deutsche Sozialstaat kein umfassendes und von der Bedürftigkeit unabhängiges Angebot an sozialen Diensten wie es in den skandinavischen Staaten üblich ist; demnach ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor in Deutschland notwendigerweise viel niedriger als dort. Andererseits verteuern in Deutschland die hohen Sozialabgaben die Arbeitskosten und verhindern, dass – wie in den angelsächsischen Ländern – ein breiter Sektor privater, allerdings verhältnismäßig gering bezahlter Dienstleistungen entstehen konnte. Der Grund liegt darin, dass solche einfacheren Dienstleistungen mit Eigenarbeit konkurrieren und nur nachgefragt werden, wenn sie billig sind (Scharpf 2002).

Allerdings gibt es hiergegen auch Einwände:

–   Zum einen ist die empirische Basis der Aussage, in Deutschland gebe es nicht genug einfache Dienstleis-tungen im privaten Sektor, nicht unbestritten. Nach Auffassung von Autoren des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die sich auf Daten des Sozio­ ökonomischen Panels (SOEP) stützen, beruht die Theorie der Dienstleistungslücke – vor allem der häufig gezogene Vergleich zwischen Deutschland und den USA – auf statistischen Verzerrungen. Zunächst werden offenkundig sektorspezifische statt tätigkeitsbezogene Daten verwendet. Nicht erfasst werden die Dienstleis­ tungen von geringfügig Beschäftigten sowie Beamten und Selbstständigen, und außerdem wird die trans­ formationsbedingte Sondersituation Ostdeutschlands nicht berücksichtigt. Ohne diese statistische Verzerrung sei der Dienstleistungsanteil in Westdeutschland mit etwa 75 Prozent der Beschäftigten fast genau so groß wie in den USA (78 Prozent) (Schupp und Wagner 2001: 82f., Haisken-De New u.a. 1998).

–   Zum anderen existieren die analysierten Strukturunterschiede im Sozialsystem der verglichenen Länder schon seit Jahrzehnten unverändert. Noch in den 80er und teilweise in den 90er Jahren hatte Deutschland trotz einer auch damals schon – vermeintlich oder tatsächlich – vorhandenen Dienstleistungslücke eine güns­ tigere Arbeitsmarktsituation als die heute besser gestellten Länder, ohne dass sich dieser Überholprozess aus tiefgreifenden Änderungen des Sozialsystems erklären ließe. Dieser Befund würde eher dafür sprechen, dass die ungünstige Beschäftigungsentwicklung in Deutschland Folge einer allgemeinen Wachstumsschwäche und der Strukturprobleme in Ostdeutschland ist und nicht primär des Mangels an einfachen Dienstleistungen; die Schlussfolgerung wäre also nicht, dass Deutschland sich zwischen dem skandinavischen und dem US-amerikanischen Weg zu entscheiden hätte (Schupp und Wagner 2001: 82f., Haisken-DeNew u.a. 1998), sondern dass die Chancen des spezifischen deutschen Entwicklungspfades mit seiner Konzentration im hochproduktiven Sektor besser genutzt werden müsste, und zwar durch bessere Makrosteuerung und – so lange ein hohes gesamtwirtschaftliches Arbeitsplatzdefizit besteht – neue Formen der Arbeitszeitverkürzung.

   Exkurs: Beschäftigungsquoten im Dienstleistungssektor im internationalen Vergleich

Ein internationaler Vergleich der Beschäftigungsstruktur in entwickelten Industrieländern zeigt, dass eine hohe Beschäftigungsquote im Dienstleistungssektor auf zwei Wegen erreicht werden kann. In den USA wurde eine hohe Beschäftigung im Dienstleistungssektor durch eine niedrige Steuer- und Sozialabgabenquote erzielt, weil damit durch eine Verminderung der Preise für einfache Dienstleistungen eine entsprechende Nachfrage erzeugt wurde (s. Abbildung 4-8).

In Dänemark dagegen wurde eine hohe Beschäftigungsquote im Dienstleistungssektor offenbar durch eine entsprechende Nachfrage des Staates im öffentlichen Sektor erreicht, die über Steuern finanziert wurde und deshalb mit einer hohen Steuer- und Sozialabgabenquote verbunden ist (s. Abbildung 4-9).

Beide Länder konnten im Gegensatz zu Deutschland mit diesen unterschiedlichen Strategien eine deutlich höhere Beschäftigungsquote in der Gesamtwirtschaft erzielen. Da im OECD-Durchschnitt die Beschäftigung in den exponierten Sektoren zurückgeht, können Beschäftigungszuwächse nur in den geschützten Sektoren erzielt werden, die dem internationalen Wettbewerb nicht ausgesetzt sind.

Die Höhe der Beschäftigungsquoten in den geschützten Sektoren steht in einem engen Zusammenhang mit dem Anteil von Frauenerwerbsarbeit (s. Abbildung 4-10).

Die Erklärung für die relativ hohen Quoten der Frauenerwerbstätigkeit liegt in der Struktur des Sozialstaats und in der Struktur seiner Finanzierung. In den skandinavischen Sozialstaaten werden Familien durch öffentlich finanzierte Pflege- und Betreuungsdienste entlastet, die in den liberalen Sozialstaaten als kostengünstige private Dienstleistungen angeboten werden (Scharpf 2002, Esping-Andersen 1999, Scharpf und Schmidt 2000: 310-315).




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Abbildung 4-8

Abbildung 4-9

Abbildung 4-10