4.7.3
Öffentliche Daseinsvorsorge
Mit der Einigung auf eine neue
Welthandelsrunde bei der WTO-Ministerkonferenz im November 2001 in
Katar treten auch die im Frühjahr 2000 begonnenen
Dienstleistungsverhandlungen in eine intensive Phase ein.
Dabei geht es um die Marktöffnung europäischer
Dienstleis tungssektoren für die
WTO-Mitgliedsländer sowie um die Gleichbehandlung
inländischer und ausländischer Dienstleistungsanbieter.
Die angestrebte Globalisierung der Dienstleistungsmärkte
benötigt eine klare Marktordnungsregelung für die
Behandlung von privaten und öffentlichen Diensten. Die
angestrebte Regelung liegt noch nicht vor. Sie ist deshalb wichtig,
weil die Europäische Union international über Rechte als
auch Verpflichtungen mit den WTO-Mitgliedsländern
verhandelt.
Die in EU-Mitgliedsstaaten ergriffenen
Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwohls sind als potenzielle
Marktzugangsbarrieren kritisiert worden. Artikel 86 des EG-Vertrags
bestimmt, dass Unternehmen, die mit der Bereitstellung von
gemeinwohlorientierten Dienstleistungen betraut sind, den
europäischen Wettbewerbsregeln unterworfen sind.
Im Zuge der Privatisierungs- und
Liberalisierungsentwicklungen in der EU wurden insbesondere in den
politischen Diskussionen zunehmend Befürchtungen hinsichtlich
der Versorgungssicherheit und -qualität geäußert.
Aus diesem Grunde wurde der Vertrag von Amsterdam um Artikel
1638 zur Daseinsvorsorge
ergänzt. In der Mitteilung zur Daseinsvorsorge vom September
2000 stellte die Europäische Kommission fest, dass „wenn
das Mitgliedsland der Meinung ist, dass die Marktkräfte
bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Dienstleistungen
möglicherweise nur in unzureichender Weise bereitstellen,
konkrete Leistungsanforderungen festgelegt werden können,
damit dieser Bedarf durch eine Dienstleistung mit
Gemeinwohlverpflichtungen befriedigt wird“. Sobald Einrichtungen bei der
Erfüllung eines Gemeinwohlauftrags wirtschaftliche
Tätigkeiten aufnehmen, sind die Binnenmarktregeln anzuwenden.
Was jedoch im konkreten Fall wirtschaftliche Tätigkeiten sind,
ist nicht immer bestimmbar.
Diese rechtliche Unsicherheit im Bereich der
öffentlichen Daseinsvorsorge ist aus folgenden Gründen
für die Liberalisierungsverhandlungen von Dienstleistungen in
der WTO problematisch:
1. Das GATS-Abkommen dereguliert
innerstaatliche Regeln, welche Handelsbeschränkungen für
ausländische private Anbieter darstellen. Dienstleistungen,
die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden, sind von
dieser Marktöffnung geschützt, solange sie weder zu
kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren
Dienstleistungserbringern erbracht werden. Dies bedeutet, dass
öffentliche Monopolbetriebe von den jetzigen
Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen sind. In Deutschland gibt
es jedoch öffentliche Aufgaben, die sowohl von staatlichen und
privaten Anbietern geleistet werden (z.B. Bildung). Hier ist nicht
klar, ob diese Ausnahmeregelung noch wirken würde. Diese
Rechtsunsicherheit bietet politischen Interpretationsspielraum
für Urteile im WTO-Streitschlichtungsverfahren.
2. Handelsbeschränkende
Maßnahmen dürfen nur auf objektiven und transparenten
Kriterien beruhen und müssen die Qualität der
Dienstleistung sicherstellen. Welche politischen Ziele aber
handelsbeschränkende Maßnahmen legitimieren können,
ist noch ungeklärt.
3. Die Europäische Union hat sich
bei den allgemeinen Verpflichtungen, die für die
GATS-Vertragsstaaten grundsätzlich in allen
Dienstleistungssektoren gelten, drei wichtige Ausnahmeregelungen
eintragen lassen.
(a) Dienstleistungen, die auf nationaler
oder örtlicher Ebene als öffentliche Aufgaben betrachtet
werden, unterliegen staatlichen Monopolen oder
ausschließlichen Rechten privater Betreiber. Das heißt,
die EU behält sich das Recht vor, den Marktzugang im Bereich
öffentlicher Aufgaben einzuschränken.
(b) Die EU hat sich das Recht
vorbehalten, Zweigstellen von Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten, die
nicht nach dem Recht eines Mitgliedsstaats errichtet worden sind,
vom Prinzip der Inländerbehandlung auszunehmen.
(c) Im Falle von Subventionen steht auch
Zweigstellen, die nach dem Recht eines Mitgliedsstaats errichtet
worden sind, nicht das Recht auf Inländerbehandlung zu. Nach
der auf zehn Jahre befristeten Ausnahmeregelung kommt die
Europäische Union jedoch unter Druck, diese Bestimmung neu zu
verhandeln. Die entsprechende Regelung wurde nämlich im Jahr
1995 beschlossen, sodass Neuverhandlungen vor der Tür
stehen.
Zur Frage, in welchen Bereichen die
Wettbewerbsregeln und Binnenmarktvorschriften des EU-Vertrages
nicht zur Anwendung kommen, liegen mittlerweile einige
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes vor. Danach sind
die nationalen Bildungssysteme und die Pflichtmitgliedschaft in
Grundversorgungssystemen der sozialen Sicherheit, sofern kein
Gewinnzweck verfolgt wird, sowie die nicht-wirtschaftlichen
Tätigkeiten von Gewerkschaften, politischen Parteien oder
Kirchen dezidiert ausgenommen. Daneben zeichnen sich Bereiche wie
die Wasserver- und -entsorgung dadurch aus, dass deren Erbringung
nach den Regeln der freien Marktwirtschaft nicht funktionieren
kann. Die betreffenden „Güter“ stellen keine
Handelsware im herkömmlichen Sinne dar, sondern ein Erbe, das
geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss
(Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie 2000/60/EUV zur Schaffung
eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im
Bereich der Wasserpolitik).
Gleichwohl bleibt nach dem derzeitigen Stand
des Gemeinschaftsrechts offen, welche Leistungen der
Daseinsvorsorge tatsächlich dem EU-Vertrag unterliegen bzw.
wie gemeinwohlorientierte Dienstleistungen unter dem Blickwinkel
des Wettbewerbsrechtes zu beurteilen sind.
Der Europäische Rat von Lissabon
ersuchte deshalb die Europäische Kommission, ihre Mitteilung
über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa aus dem Jahr
1996 im Einklang mit dem Vertrag zu überarbeiten. Der Bericht
der Europäischen Kommission an den Europäischen Rat von
Laaken über Leistungen der Daseinsvorsorge stellt einen
wichtigen Schritt in Richtung Europäisches Sozial- und
Gesellschaftsmodell dar. Aber auch der Artikel 16 des Vertrages von
Amsterdam und der Artikel 36 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union sind weitere Schritte in diese
Richtung.
Das Europäische Parlament hat in diesem
Zusammenhang mit seiner Entschließung zur Mitteilung der
Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“
die Europäische Kommission aufgefordert „rasch eine
genaue und vergleichende Bewertung der tatsächlichen
Auswirkungen der Liberalisierung der Leistungen der Daseinsvorsorge
vorzunehmen, bevor neue Liberalisierungsmaßnahmen eingeleitet
werden“ (Europäisches Parlament 2001c)39. Des Weiteren weist das
Europäische Parlament darauf hin, „dass Dienstleistungen
im Gemeinwohl-Interesse den gleichberechtigten Zugang,
Versorgungssicherheit, Kontinuität, hohe Qualität und
demokratische Rechenschaftspflicht gewährleisten
müssen.“40
Der Europäische Gewerkschaftsbund und
der Europäische Zentralverband der öffentlichen
Wirtschaft setzen sich für eine verbindliche Rahmenrichtlinie
der Europäischen Union ein. Darin sollen die gemeinsamen Werte
sowie die Grundsätze und Bedingungen der Leistungen der
Daseinsvorsorge präzise ausgeführt werden. Unternehmen
mit gemeinwohlorientiertem Auftrag haben hohen
Qualitätsstandards zu genügen. Dazu zählen insbe
sondere die
Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs für alle
Nutzer zu erschwinglichen Preisen, die umfassende territoriale
Abdeckung, die Kontinuität der Leistung auf qualitativ hohem
Niveau, eine hohe Qualifikation des Personals, die
Durchschaubarkeit der Tarife und Vertragsbedingungen sowie faire
und effiziente Beschwerdeeinrichtungen für die Nutzer.
38 Art. 16 EGV: „Unbeschadet der Artikel 73, 86
und 87 und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von
allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen
Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der
Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen
die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer
jeweiligen Befungnisse im Anwendungsbereich dieses Vertrages
dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen für
das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren
Aufgaben nachkommen können.“
39 Forderung Nr. 2 des
Entschließungsantrages.
40 Forderung Nr. 4 des Entschließungsantrages.
Gemeinwohlorientierte Dienstleistungen werden im EU-Vertrag auch
als „Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen
Interesse“ bezeichnet.
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