4.9.1 Die Ausweitung der informellen
Arbeit – Entwicklung und Bewertung
4.9.1.1 Definition und Charakteristika46
In
den letzten Jahren belebte sich das wissenschaftliche und öffentliche Interesse
am „informellen Sektor“
wieder. Ursächlich dafür ist, dass informelle Beschäftigungsverhältnisse in
den letzten Jahrzehnten spürbar zugenommen haben (Lenz 2002: 48, Altvater und
Mahnkopf 2001).
Die
ILO definierte im Jahre 199347 den „informellen Sektor“ wie folgt:
„[Der informelle Sektor] besteht aus Betrieben, die in der Produktion von Waren
und Dienstleis tungen mit dem primären Ziel tätig sind, Beschäftigung und Einkommen
für die betreffenden Personen zu erzielen. Die Produktionsbetriebe in diesem
Sektor arbeiten auf niedriger Organisationsstufe ohne oder fast ohne Trennung
zwischen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital und in kleinem Rahmen und
weisen die charakteristischen Merkmale von Privathaushalten auf, deren Inhaber
die notwendigen Mittel auf eigenes Risiko aufbringen müssen. Darüber hinaus
sind die Produktionsausgaben oft nicht von den Haushaltsausgaben zu trennen“
(ILO zitiert nach Vereinten Nationen 2000: 128). Der ILO zufolge gibt es im
Wesentlichen drei Status-informell Arbeitender, zwischen denen jedoch alle Arten
von Übergängen und Kombinationen denkbar sind:
– Besitzer/-innen/Betreiber/-innen
von (Mikro- und Klein-)Unternehmen,
– Selbstbeschäftigte
mit unbezahlt mitarbeitenden Familienangehörigen,
– abhängig Beschäftigte
in informellen Unternehmungen, in Gelegenheitsjobs, Heimarbeit, Hausarbeit (domestic
work), in Saison- oder Teilzeitarbeit, unregis trierter Arbeit etc.
Eigenarbeit und Reproduktionsarbeit, d.h. unbezahlte Tätigkeiten für
die Familie und für den familiären Konsum werden nach der ILO-Definition nicht
als „informelle Beschäftigung“ angesehen. Gleichwohl bestehen enge Beziehungen
zwischen unbezahlter Reproduktions- bzw. Care-Tätigkeiten und informeller Arbeit.
Die
ILO-Definition erleichterte die statistische Erfassung des informellen Sektors
in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (Charmes 2000: 4). Sie hat jedoch
auch Nachteile, weil sie weder die Bedingungen der Tätigkeit oder die Charakteristika
des Arbeitsplatzes einbezieht, noch das vorhandene Kapital oder die Dauer und
das Ausmaß der wirtschaftlichen Aktivität berücksichtigt. Auch lässt sie ganze
Gruppen informell Beschäftigter, nämlich alle, die außerhalb von Kleinst- und
Familienunternehmen arbeiten, außer Betracht. Am schlechtesten belegt ist informelle
Arbeit innerhalb des formellen Sektors (Lenz 2002, s. Tabelle 4-7).
Die unternehmensbezogene Betrachtung, der die Verwendung des Begriffes „Sektor“
und die korrespondierende ILO-Definition von 1993 entsprach, wich deshalb zunehmend
einer eher arbeitsplatz- und tätigkeitsbezogenen Sichtweise. Diese ermöglichte
eine genauere Begriffsbestimmung von Informalität und informeller Beschäftigung,
die über eine rein sektorelle Betrachtungsweise hi nausgeht. Unter informeller
Beschäftigung wird nunmehr eine Tätigkeit ohne regulären Vertrag, ohne soziale
Absicherung und bei prekären Arbeitsschutzbedingungen verstanden.
Besonders die wachsende Präsenz informeller Beschäftigung
in Industrie- und Entwicklungsländern führte dann dazu, dass informelle Arbeit
stärker in ihrer Wechselbeziehung mit der Globalisierung und dem „formellen
Sektor“ gesehen wird. Die Entwicklung der formellen wie der informellen Wirtschaft
hängen stark voneinander ab. Die ILO stellt dazu fest, dass ihr Paradigma der
menschenwürdigen Arbeit (Decent Work Paradigma) neue Chancen für Strategien
im informellen Sektor bietet.
Im Sinne einer umfassenderen Definition und Beschreibung von
Informalität der Arbeit argumentieren auch Altvater und Mahnkopf.48
Ihrer breit gefassten Definition zufolge werden zur informellen Arbeit so unterschiedliche
ökonomische Aktivitäten gerechnet wie die Selbstversorgung in Haushalten und
gemeinschaftliche und Selbsthilfeaktivitäten im „Dritten Sektor“. Dabei handelt
es sich in der Regel um die Herstellung bedarfsorientierter, nicht monetär vermarkteter
Produkte und um soziale oder handwerkliche Dienstleistungen. Davon zu unterscheiden
ist die autonome Arbeit „auf eigene Rechnung“ (Schattenwirtschaft), die Tätigkeit
von Mikrounternehmen, bestimmte Formen der Heimarbeit sowie schattenwirtschaftliche
Aktivitäten größerer Unternehmen, die Steuern hinterziehen, Umsätze nicht verbuchen
oder den Eigenverbrauch als Betriebsausgaben deklarieren. Gemeinsam ist diesen
Aktivitäten, dass sie formell geltende arbeits- und sozialrechtliche Normen
nicht beachten.
Davon nochmals abzugrenzen sind schließlich informelle Arbeiten,
die im Rahmen illegaler Organisationen oder durch Einzelpersonen erfolgen und
geltendes Strafrecht verletzen. Dazu zählen u.a. der Handel mit Drogen, Waffen,
Giftmüll und geschützten Tierarten, Schmuggelei, Hehlerei, Bestechung, Menschenhandel,
die erzwungene Prostitution und die Geldwäsche.
Wird dieser breiten Definition von Altvater und Mahnkopf gefolgt,
lassen sich folgende Charakteristika von informeller Arbeit zusammenfassen:
– Bei marktbezogenen informellen Aktivitäten sind die Eintrittsschranken
in den informellen Sektor niedriger als im formellen Sektor. Dies liegt vor
allem an dem vergleichsweise niedrigen Kapitaleinsatz, einfachen Technologien
und niedrigen Einkommen (Souza 1980: 132). Informalität heißt also, dass
der Zugang zu Arbeitsplätzen leichter ist als im formellen Sektor.
– Informelle Aktivitäten sind weniger als formelle Aktivitäten durch
gesellschaftlich legitimierte Regeln, auf die sich jedes Mitglied der Gesellschaft
berufen kann, geschützt. Ihnen mangelt es also an Sicherheit in all ihren Aspekten:
Informalität heißt also: ein geringer Grad von „menschlicher Sicherheit“
(„Human
security“) und „wohlfahrtsstaatlichem Schutz“
(„Social protection“) und ein hoher Grad an „Verwundbarkeit“ („Vulnerability“).
–
Informelle Transaktionen müssen mit „kurzer Reichweite“ ohne den Schutz rechtlich
normierter Rahmenbedingungen auskommen. Informalität ist auch mit mangelhafter
Buchführung, d.h. mit Intransparenz des Geschäftsgebahrens und mit ungesicherten
Eigentumsverhältnissen verbunden. Informalität heißt also: mangelnde Institutionalisierung
von Rechten, ein geringer Grad von Transparenz der „gesellschaftlichen Buchführung“,
Bevorzugung der Mitglieder von Netzwerken und Diskriminierung derjenigen, die
„nicht dazu gehören“.
– Informelle Einheiten
sind in aller Regel klein. Informalität heißt also für kleine Unternehmen
sehr häufig: mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und deren Kompensation durch Missachtung
sozialer und ökologischer Standards. Große Unternehmen hingegen nutzen informelle
Arbeit, um die Kosten zu senken und auf diese Weise die Konkurrenzfähigkeit
auf internationalen Märkten zu verbessern.
– Informalität kann
auch ein niedriges Niveau an gesellschaftlicher Wertschätzung und Anerkennung
bedeuten.
– Nicht selten werden rechtliche Normen umgangen oder gebrochen. Informalität
heißt also: nicht nur eine Grauzone des Übergangs zur Formalität
sondern auch ein „Schattenbereich“ des Übergangs zur Illegalität und Kriminalität
und Abhängigkeit vom Verhalten der Administration.
46 Dieses Kapitel basiertauf einem Gutachten von
Lenz (2002).
47 Durch die XVth International Conference of Labour
Statisticians,
Genf, Januar 1993; dokumentiert in ILO 1993: Statistics of Employment
in the Informal Sektor.
48 Die folgenden Textpassagen basieren auf einer
Textvorlage von
Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf. In ausführlicher Form können
diese Überlegungen in der Publikation Globalisierung der Unsicherheit
Informalisierung von Arbeit, Geld und Politik (Altvater
und Mahnkopf 2002) nachgelesen werden.
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