4.9.3
Nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und
Gleichberechtigung55
Geschlechtliche Gleichberechtigung und
nachhaltiges Wachstum stehen in einem Wechselverhältnis.
Wirtschaftliches Wachstum hat nicht nur Auswirkungen auf die
Verhältnisse der Geschlechter und das Maß der
Gleichberechtigung von Frauen, sondern umgekehrt wirkt
Gleichberechtigung auch auf Wachstumsprozesse. In einer
kürzlich veröffentlichten Studie konstatiert die Weltbank
(2001), dass Geschlechterdiskriminierung in vielen Ländern
einhergeht mit gesamtgesellschaftlichen Folgen wie Armut,
langsameres Wirtschaftswachstum, schlechtere Regierungsführung
und geringere Lebensqualität (Weltbank 2001a; o.V. 2001).
Simulationsstudien der Weltbank über die
Kausalität von Frauenbildung und Wachstum verdeutlichen
exemplarisch die wesentlichen Zusammenhänge zwischen
Geschlechtergleichheit und Wachstum. Errechnet wurden entgangene
Wachstumseffekte durch fehlende Gleichberechtigungsstrategien im
Bildungsbereich für Subsahara-Afrika, Südasien sowie die
Region Nordafrika und Mittlerer Osten in der Zeit von 1960 bis
1992. Hätten diese Regionen 1960 gleiche geschlechtliche
Ausgangsbedingungen beim Schulbesuch gehabt wie die Wachstumsregion
Ostasien und diese bis 1992 auch im gleichen Maße verbessert
wie Ostasien, wären folgende Erhöhungen der
Pro-Kopf-Wachstumsraten möglich geworden: für
Subsahara-Afrika um 0,7% jährlich, für Südasien um
1,7% jährlich und für Nordafrika und den Mittleren Osten
sogar um 2,2% jährlich (Weltbank 2001a: 90f.).
Ein Grund dafür, dass der wirtschaftliche
Nutzen von In ves titionen in die Frauenbildung den
Nutzen von Männerbildung übersteigt, liegt darin, dass
Frauen einen deutlich größeren Teil ihrer
zusätzlichen Einkommensgewinne in die Gesundheit und
Ausbildung ihrer Kinder investieren. Zudem geht mit einem
steigenden Bildungsgrad von Frauen die Ausbreitung von HIV
signifikant zurück. Vor allem für städtische Gebiete
empfiehlt die Weltbank die Erhöhung der Bildungs- und
Beschäftigungsraten von Frauen als eines der wirksamsten
Mittel, um HIV einzudämmen (Weltbank 2001a: 76). Mehr Bildung
von Müttern senkt außerdem die Sterblichkeits- und
Krankheitsraten von Säuglingen und Kleinkindern (Weltbank
2001a: 81).
Empirische Untersuchungen in Brasilien
bestätigen gesamtgesellschaftliche Nutzeneffekte auch in Bezug
auf Einkommenserhöhungen für Frauen. Sie zeigen, dass
auch hier zusätzliches Haushaltseinkommen in den Händen
von Müttern in einem sehr viel höheren Maß der
nächsten Generation zu Gute kommt als Zusatzeinkommen, das
einem männlichen Haushaltsvorstand zufließt.
Eng verbunden mit dem Zugang von Frauen zu
Bildung, Gesundheitseinrichtungen und zur politischen Partizipation
ist auch die Gewährleistung von Ernährungssicherheit, die
die Grundvoraussetzung von gesellschaftlicher Entwicklung
überhaupt darstellt. Insbesondere in Entwicklungsländern
gefährden Benachteiligungen und Diskriminierungen von Frauen
u.a. beim Zugang zu Krediten, zu Grundeigentum oder
Produktionsressourcen die Versorgung von Familien mit Wasser und
Nahrungsmitteln (Okeyo 2002, Murphy 2002: 14).
Darüber hinaus stellt die Weltbank in
ihrer Studie fest, dass mehr rechtliche und politische
Gleichberechtigung korreliert mit weniger Korruption in Wirtschaft
und Politik und einhergeht mit „cleaner business and
government and better governance“ (Weltbank 2001a: 12). Nach
Auswertung von Daten aus mehr als 80 Ländern sinkt unter den
Bedingungen ökonomischer und sozialer Gleichberechtigung von
Frauen der Korruptionsindex auf die Hälfte des Wertes, den er
in Gesellschaften mit ausgeprägter Ungleichheit zwischen
Frauen und Männern annimmt (Weltbank 2001a: 95f). Ein
wesentlicher Grund dafür ist, dass Gesellschaften mit einem
hohen Maß an geschlechtlicher Gleichberechtigung in der Regel
auch demokratisch und transparent strukturiert und in soweit auch
weniger korruptionsanfällig sind.
Gleichzeitig kann sich nachhaltiges
Wirtschaftswachstum positiv auf die Lebensbedingungen von Frauen
und Mädchen auswirken und Geschlechtergleichheit fördern.
Die einzelnen Haushalte investieren bei höherem Einkommen
verstärkt in die Ausbildung der Töchter. Dadurch arbeiten
auch mehr Frauen und sind durch ein eigenes Einkommen
unabhängiger in ihren Entscheidungen. Darüber hinaus
führt Wirtschaftswachstum meist zu mehr Investitionen in die
Infrastruktur, Wasserversorgung, Transport und Energie, was die
Arbeitszeit von Frauen und Mädchen im Haushalt deutlich
verringert. Damit wird Zeit gewonnen, die jetzt für
Schulbesuch, Lohnarbeit oder Gesundheitsvorsorge zur Verfügung
steht. Allerdings darf die Auswirkung des Wirtschaftswachstums auf
die Gleichberechtigung nicht überschätzt werden. Sie
erfolgt zudem nicht automatisch, sondern hängt ab von anderen
Faktoren wie z. B. dem Rechtsstatus der Frau, dem Zugang zu und der
Kontrolle über Produktionsmittel oder den politischen
Rahmenbedingungen. Deshalb müssen sich ökonomische
Entwicklung und institutionelle Reformen ergänzen (Nord
Süd 2002: 2)
Spiegelbildlich zur positiven Korrelation von
Geschlechtergleichheit und Wachstum führt ein ein hohes
Maß an Geschlechterungleichheit zu gesamtgesellschaftlichen
und ökonomischen Kosten. Enorm hoch, wenn auch schwer zu
beziffern, sind beispielsweise die gesellschaftlichen Kosten von
Gewalt gegen Frauen. In ihren Untersuchungen der
sozioökonomischen Kosten von Gewalt gegen Frauen unterscheidet
die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) verschiedene
Kos tenarten (UNICEF 2000: 12f.) Zu den direkten Kosten
geschlechtlicher Gewalt gehören danach u.a. die
Behandlungskosten für gesundheitliche Kurz- und
Langzeitschäden der Opfer, die Kosten für Polizeidienste
und die Kosten für die strafrechtliche Verfolgung der
Täter sowie die Kosten für Frauenhäuser.
Ökonomische Multiplikationseffekte von Gewalt gegen Frauen
liegen beispielsweise in Fehlzeiten und verminderter
Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, in Einkommensverlusten und
daraus folgend einem Rückgang der privaten Investitionen in
Bildung und Ausbildung der Kinder. In armen Ländern verursacht
Gewalt gegen Frauen demnach vor allem Kosten in Form von
entgangenen Entwicklungschancen. Für Industrieländer
existieren außerdem Schätzungen der monetären Kosten
geschlechtlicher Gewalt. So kommt eine kanadische Studie zu dem
Ergebnis, dass Gewalt gegen Frauen den Staat jährlich mit
Kosten von mehr als einer Milliarde kanadischer Dollar belastet
(UNICEF 2000: 12). Dies entspricht einem Prozent des kanadischen
BSP (Weltbank 2001a: 78).
Zwischen Gleichberechtigung und Wachstum
können jedoch auch Zielkonflikte auftreten. Dies verdeutlicht
beispielsweise eine neuere vergleichende Untersuchung über den
Zusammenhang zwischen Wachstumseffekten, wie sie für den
Prozess ökonomischer Globalisierung geradezu als idealtypisch
gelten können, und geschlechtlicher Einkommensverteilung in
semi-industrialisierten, export orientierten Ökonomien
mit einem hohen Anteil an Frauen in der verarbeitenden
Exportproduktion. Dazu zählen etwa Länder wie Malaysia,
Sri Lanka und Taiwan (Seguino 2000). Diese empirische Studie kommt
zu dem Ergebnis, dass Lohndiskriminierung von Frauen in solchen
Ökonomien durchaus wachstumsfördernd sein kann (Seguino
2000: 1212). In allen betrachteten Fällen führte die
geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes zunächst dazu,
dass in bestimmten Bereichen der Exportindustrie, in denen die
Preiselastizitäten der Nachfrage vergleichsweise hoch sind,
vorzugsweise Frauen beschäftigt wurden – und zwar
deshalb, weil die im Vergleich zu Männern schlechtere
Verhandlungsposition von Frauen es erlaubt, ihnen niedrigere
Löhne zu zahlen. Exporterlöse bauen hier also gezielt auf
Geschlechterungleichheit auf (Seguino 2000: 1222).
Selbst wenn argumentiert
wird, dass über den Zugewinn an
Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen neue
Gleichberechtigungseffekte entstehen können, ändert dies
nichts an der Tatsache, dass auf der anderen Seite Ungleichheit
zwischen Frauen und Männern in Bezug auf die Bezahlung
manifestiert wird. Globalisierung als komplexer Prozess mag solche
Widersprüchlichkeiten begünstigen. Ohne Einbettung in
einen normativen Rahmen kann Wachstum das Ziel der Gleichstellung
konterkarieren und zu gesellschaftlich gänzlich
unerwünschten Effekten führen. So stellt auch die
Weltbank unmissverständlich fest: „growth alone will not
deliver the desired results. Also needed are an institutional
environment that provides equal rights and opportunities for women
and men and policy measures that address persistent
inequalities“ (Weltbank 2001a: 1). Rechtliche und
institutionelle Rahmenbedingungen, die Gleichberechtigung auch auf
dem Arbeitsmarkt gewährleisten, sind damit eine zentrale
Voraussetzung für Wachstum und Gleichberechtigung.
Ohne politische
Steuerungen, ohne Gleichstellungsgesetze und ohne ein bestimmtes
Maß an Frauenfördermaßnahmen sind solche
Entwicklungen, wie die Weltbank zu Recht betont, kaum zu erwarten
(Ruppert 2002: 18-27).
55 Dieses Kapitel basiert auf einem Gutachten von
Ruppert (2002).
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