*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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9.4.2       Weltbevölkerungspolitik als chancenreiche politische Herausforderung im Zeitalter der Globalisierung

Die zur Jahrtausendwende nachlassende Bereitschaft insbesondere der Industrienationen, die Weltbevölkerungsentwicklung als zentrale globale politische Gestaltungsaufgabe nachhaltiger Entwicklung anzunehmen, steht im krassen Kontrast zu den großen Erfolgen, die mit entsprechenden humanitären Maßnahmen erzielt wurden, und den mit solchen Maßnahmen verbundenen Vorteilen.

Doch selbst wenn es gelingen sollte, die spezifisch bevölkerungspolitischen Beschlüsse der Kairo-Konferenz umzusetzen und eine Verlangsamung des Weltbevölkerungswachstums entsprechend der mittleren UN-Projektion zu erreichen, dürfte die Bewältigung des Weltbevölkerungswachstums in den nächsten Jahrzehnten schwieriger werden als in der Vergangenheit. Zum einen kommen, wie ausgeführt, in den meisten Entwicklungsländern in den nächsten Jahrzehnten mehr Menschen hinzu als in dem Vergleichzeitraum der Vergangenheit, und zwar auch bei drastisch verringerter Fertilität und langsamerem Bevölkerungswachstum entsprechend der mittleren UN-Projektion. Und dieses Wachstum trifft auf vergleichsweise ungünstigere Bedingungen als früher. Die Schädigung und der Verbrauch natürlicher Ressourcen wie z.B. Wasser führt in den nächsten Jahrzehnten für immer mehr Länder zur Unterschreitung kritischer Grenzwerte. Dasselbe gilt für die landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf und die    Bodenverschlechterung. Ganze Ökosysteme sind schwerer geschädigt als vor einigen Jahrzehnten, die Meere überfischt und der Artenverlust hat sich beschleunigt. Die Folgen des Klimawandels sind heute deutlicher zu spüren als vor einigen Jahrzehnten, vor allem in Entwicklungsländern, und die Wüstenbildung ist erheblich weiter fortgeschritten. Migration und Urbanisierung sind dynamischer als je zuvor und kommen als Belastung der Gesellschaften hinzu. Die Zahl der Arbeitslosen oder Unterbeschäftigten ist höher denn je und steigt, und immer mehr Menschen finden nur noch im informellen Sektor eine Beschäftigung. Die Schere bei den Einkommen klafft immer weiter auseinander. Innerhalb der Entwicklungsländer und -regionen ist auch die demographische Entwicklung von zunehmender Divergenz geprägt. Die Entwicklungsländer sind mit Waffen überflutet. In einer zunehmend vernetzten Welt treffen Krisen immer mehr Menschen auch in anderen Regionen.

Dies sind nur einige der Bedingungen, die es heute gegenüber den letzten vier Dekaden erschweren, die absehbare Wiederholung des Bevölkerungswachstums um drei Milliarden Menschen zu bewältigen.

Die vergangenen Jahrzehnte brachten enorme Fortschritte für den Zugang zu Familienplanung und anderen unmittelbar fertilitätsrelevanten Dienstleistungen. Sie waren aber auch geprägt von Menschenrechtsverletzungen bei der Durchsetzung demographischer Zielsetzungen nicht nur in Indien und China. Auch die Qualität der Familienplanungsdienste entspricht in zahlreichen Entwicklungsländern nicht dem als Minimum anerkannten Niveau. Und nach wie vor haben über 300 Millionen Paare im reproduktiven Alter (allgemein zwischen 15 und 40 Jahren) keinen Zugang zu Familienplanung und zugehörigen reproduktiven Gesundheitsdienstleistungen. Über 100 Millionen davon möchten die nächste Schwangerschaft hi­ nausschieben oder keine weitere Schwangerschaft mehr, jedoch haben sie keinen Zugang zu moderner Kontrazeption. Dass ungewollte Schwangerschaften einer der beiden Hauptfaktoren des heutigen Weltbevölkerungswachstums sind, wurde bereits dargelegt.

Betrachtet man die Gesundheitssituation insgesamt, ist das Bild noch düsterer auch im Bereich der Reproduktionsmedizin. Dies gilt sowohl bei der medizinischen Betreuung von Schwangerschaft und Geburt wie auch beispielsweise der weit verbreiteten Praxis von Genitalverstümmelungen (in Ländern wie Äthiopien und Ägypten sind davon mehr als 80 Prozent der Mädchen betroffen).

Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Nutzung der Basisgesundheitsdienstleitung Familienplanung seit den frühen sechziger Jahren in allen Entwicklungsregionen außer Afrika erheblich gestiegen ist – von zehn auf über 50 Prozent der maßgeblichen Altersgruppe, woran die Entwicklungszusammenarbeit einen erheblichen Anteil hat. Dies hat u.a. zu einem historisch einmaligen Rückgang der Fertilität geführt und war für eine Reihe anderer Entwicklungserfolge eine wichtige Voraussetzung.

Nach Schätzungen sind in den Entwicklungsländern allein mit Familienplanungsprogrammen der letzten Jahrzehnte 700 Millionen unerwünschte Geburten verhütet worden (Cincotta, Engelmann 2001: 139), und die Zahl der verhüteten Abtreibungen dürfte in ähnlicher Größenordnung liegen.

Hochrechnungen zufolge werden bis zum Jahr 2050 weitere 3,1 Milliarden ungewollte Schwangerschaften nicht stattfinden, wenn die in Kairo beschlossenen Investitionen in Familienplanung i.w.S. getätigt werden (Bongaarts 1990: 299ff.). Noch größer ist der demographische und humanitäre Effekt, wenn dies mit Grundbedürfnisbefriedigung auf anderen Gebieten, insbesondere auch der Bildung, kombiniert wird.

Der Unterschied zwischen mittlerer und hoher Projektionsvariante – fast zwei Milliarden Menschen zusätzlich bis 2050 – und die evidenten negativen Folgen sehr schnellen Bevölkerungswachstums für die ganze Welt sollten Grund genug sein, die Chancen zu nutzen, die sich mit der Verwirklichung des Kairoer Plans verbinden.

Es hätte nur Vorteile, weltweit und für Generationen. Kurz­ um: Bevölkerungspolitik ist erfolgversprechende Politik nachhaltiger Entwicklung.




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