9.4.2
Weltbevölkerungspolitik als chancenreiche politische
Herausforderung im Zeitalter der Globalisierung
Die zur
Jahrtausendwende nachlassende Bereitschaft insbesondere der
Industrienationen, die Weltbevölkerungsentwicklung als
zentrale globale politische Gestaltungsaufgabe nachhaltiger
Entwicklung anzunehmen, steht im krassen Kontrast zu den
großen Erfolgen, die mit entsprechenden humanitären
Maßnahmen erzielt wurden, und den mit solchen Maßnahmen
verbundenen Vorteilen.
Doch selbst wenn es gelingen sollte, die
spezifisch bevölkerungspolitischen Beschlüsse der
Kairo-Konferenz umzusetzen und eine Verlangsamung des
Weltbevölkerungswachstums entsprechend der mittleren
UN-Projektion zu erreichen, dürfte die Bewältigung des
Weltbevölkerungswachstums in den nächsten Jahrzehnten
schwieriger werden als in der Vergangenheit. Zum einen kommen, wie
ausgeführt, in den meisten Entwicklungsländern in den
nächsten Jahrzehnten mehr Menschen hinzu als in dem
Vergleichzeitraum der Vergangenheit, und zwar auch bei drastisch
verringerter Fertilität und langsamerem
Bevölkerungswachstum entsprechend der mittleren UN-Projektion.
Und dieses Wachstum trifft auf vergleichsweise ungünstigere
Bedingungen als früher. Die Schädigung und der Verbrauch
natürlicher Ressourcen wie z.B. Wasser führt in den
nächsten Jahrzehnten für immer mehr Länder zur
Unterschreitung kritischer Grenzwerte. Dasselbe gilt für die
landwirtschaftliche Nutzfläche pro Kopf und die Bodenverschlechterung.
Ganze Ökosysteme sind schwerer geschädigt als vor einigen
Jahrzehnten, die Meere überfischt und der Artenverlust hat
sich beschleunigt. Die Folgen des Klimawandels sind heute
deutlicher zu spüren als vor einigen Jahrzehnten, vor allem in
Entwicklungsländern, und die Wüstenbildung ist erheblich
weiter fortgeschritten. Migration und Urbanisierung sind
dynamischer als je zuvor und kommen als Belastung der
Gesellschaften hinzu. Die Zahl der Arbeitslosen oder
Unterbeschäftigten ist höher denn je und steigt, und
immer mehr Menschen finden nur noch im informellen Sektor eine
Beschäftigung. Die Schere bei den Einkommen klafft immer
weiter auseinander. Innerhalb der Entwicklungsländer und
-regionen ist auch die demographische Entwicklung von zunehmender
Divergenz geprägt. Die Entwicklungsländer sind mit Waffen
überflutet. In einer zunehmend vernetzten Welt treffen Krisen
immer mehr Menschen auch in anderen Regionen.
Dies sind nur
einige der Bedingungen, die es heute gegenüber den letzten
vier Dekaden erschweren, die absehbare Wiederholung des
Bevölkerungswachstums um drei Milliarden Menschen zu
bewältigen.
Die vergangenen
Jahrzehnte brachten enorme Fortschritte für den Zugang zu
Familienplanung und anderen unmittelbar fertilitätsrelevanten
Dienstleistungen. Sie waren aber auch geprägt von
Menschenrechtsverletzungen bei der Durchsetzung demographischer
Zielsetzungen nicht nur in Indien und China. Auch die Qualität
der Familienplanungsdienste entspricht in zahlreichen
Entwicklungsländern nicht dem als Minimum anerkannten Niveau.
Und nach wie vor haben über 300 Millionen Paare im
reproduktiven Alter (allgemein zwischen 15 und 40 Jahren) keinen
Zugang zu Familienplanung und zugehörigen reproduktiven
Gesundheitsdienstleistungen. Über 100 Millionen davon
möchten die nächste Schwangerschaft hi nausschieben
oder keine weitere Schwangerschaft mehr, jedoch haben sie keinen
Zugang zu moderner Kontrazeption. Dass ungewollte Schwangerschaften
einer der beiden Hauptfaktoren des heutigen
Weltbevölkerungswachstums sind, wurde bereits dargelegt.
Betrachtet man
die Gesundheitssituation insgesamt, ist das Bild noch düsterer
auch im Bereich der Reproduktionsmedizin. Dies gilt sowohl bei der
medizinischen Betreuung von Schwangerschaft und Geburt wie auch
beispielsweise der weit verbreiteten Praxis von
Genitalverstümmelungen (in Ländern wie Äthiopien und
Ägypten sind davon mehr als 80 Prozent der Mädchen
betroffen).
Gleichwohl bleibt
festzuhalten, dass die Nutzung der Basisgesundheitsdienstleitung
Familienplanung seit den frühen sechziger Jahren in allen
Entwicklungsregionen außer Afrika erheblich gestiegen ist
– von zehn auf über 50 Prozent der maßgeblichen
Altersgruppe, woran die Entwicklungszusammenarbeit einen
erheblichen Anteil hat. Dies hat u.a. zu einem historisch
einmaligen Rückgang der Fertilität geführt und war
für eine Reihe anderer Entwicklungserfolge eine wichtige
Voraussetzung.
Nach
Schätzungen sind in den Entwicklungsländern allein mit
Familienplanungsprogrammen der letzten Jahrzehnte 700 Millionen
unerwünschte Geburten verhütet worden (Cincotta,
Engelmann 2001: 139), und die Zahl der verhüteten Abtreibungen
dürfte in ähnlicher Größenordnung liegen.
Hochrechnungen
zufolge werden bis zum Jahr 2050 weitere 3,1 Milliarden ungewollte
Schwangerschaften nicht stattfinden, wenn die in Kairo
beschlossenen Investitionen in Familienplanung i.w.S. getätigt
werden (Bongaarts 1990: 299ff.). Noch größer ist der
demographische und humanitäre Effekt, wenn dies mit
Grundbedürfnisbefriedigung auf anderen Gebieten, insbesondere
auch der Bildung, kombiniert wird.
Der Unterschied
zwischen mittlerer und hoher Projektionsvariante – fast zwei
Milliarden Menschen zusätzlich bis 2050 – und die
evidenten negativen Folgen sehr schnellen
Bevölkerungswachstums für die ganze Welt sollten Grund
genug sein, die Chancen zu nutzen, die sich mit der Verwirklichung
des Kairoer Plans verbinden.
Es hätte nur
Vorteile, weltweit und für Generationen. Kurz um:
Bevölkerungspolitik ist erfolgversprechende Politik
nachhaltiger Entwicklung.
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