Deutscher Bundestag
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Juni 4/2003
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Zusammenspiel in der Praxis

Fairness als Prinzip

Wie kommen die Mitglieder von Bundesregierung und Bundesrat nun an ihre Pulte im Bundestag? Beginnen wir bei der Regierung: Am Anfang sind ihre Bänke leer. Wenn ein neu gewählter Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt, sind zwar die Parlamentsreihen gut gefüllt, machen auch die Bundesratsmitglieder zahlreich dem Bundestag seine Aufwartung, nehmen zumeist auch der Bundespräsident und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts auf den Besuchertribünen teil. Aber auf den Regierungsbänken sitzt niemand. Das ist die deutliche Bestätigung für die Tatsache, dass die Deutschen keinen Kanzler und keine Regierung, sondern den Bundestag wählen. Und erst wenn der sich konstituiert hat, kann eine neue Regierung entstehen.

Wenn klar ist, wer die Mehrheit hinter sich bringt, macht der Bundespräsident dem Bundestagspräsidenten einen Vorschlag zur Wahl des Bundeskanzlers - im Herbst 2002 also beispielsweise den Abgeordneten Gerhard Schröder. Im Bundestag wird darüber geheim abgestimmt. Und wenn der Kandidat dann die Mehrheit der Mitglieder hinter sich hat, fährt er zum Bundespräsidenten und wird dort ernannt. Mit der Ernennungsurkunde fährt er zurück zum Bundestag und wird dort vereidigt (1). Nun kann wenigstens er schon einmal links neben dem Rednerpult Platz nehmen. Aber sonst keiner. Erst schlägt der Kanzler dem Bundespräsidenten eine Reihe von Politikerinnen und Politikern als Minister vor. Der überreicht ihnen die Ernennungsurkunden, und damit fahren dann auch sie wieder hinüber zum Bundestag und werden dort ihrerseits vereidigt. Dann ist erstmals die Regierungsbank gut gefüllt. So ist das auch immer bei allen herausragend wichtigen Debatten und bei den ganz entscheidenden Abstimmungen. Im parlamentarischen Alltag kollidieren häufig andere Terminverpflichtungen der Bundesminister mit den Sitzungen im Bundestag. Dann bleibt auch schon einmal der ein oder andere Stuhl frei, oder es nimmt ein Vertreter des Ministers teil. Zum Beispiel ein Parlamentarischer Staatssekretär (2).

Sitzung des Ältestenrates
Sitzung des Ältestenrates.

Minister können zugleich auch Abgeordnete sein, sie müssen es aber nicht. Der Bundeskanzler hat die Freiheit, Persönlichkeiten seines Vertrauens, die nicht dem Bundestag angehören, mit einem Ministeramt zu betrauen. Parlamentarische Staatssekretäre aber sind die personifizierte permanente Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung. Sie sind Abgeordnete, die die Minister bei der Leitung ihrer Behörde unterstützen. Und zwar nicht irgendwo. In der Hierarchie sind sie unmittelbar unterhalb des Ministers angesiedelt und tragen die Mitverantwortung für das Funktionieren mehrerer Abteilungen, die ihnen unterstellt sind. Sie vertreten den Minister nach außen bei Terminen in der Öffentlichkeit und nach innen, etwa bei der Teilnahme an Kabinettssitzungen (3), und eben in der Präsenz des Ministeriums während der Bundestagssitzungen auf den Regierungsbänken.

Der Bundesrat hingegen ist immer schon da. Er wird als solcher niemals neu gewählt. Er verändert stattdessen andauernd sein Gesicht. Denn jedes Land entsendet entsprechend seiner Größe eine Anzahl von Mitgliedern in den Bundesrat. Ihre Parteizugehörigkeit hat zwar sehr viel mit dem Wählerverhalten in dem jeweiligen Bundesland zu tun. Sie sind aber nicht direkt vom Volk gewählt, sondern sind Mitglieder der Landesregierungen, die sie bestellen.

Nach den Wahlen kommen Neue

Übernimmt nach Landtagswahlen also die bisherige Opposition die Regierung, sitzen wenig später auch andere Vertreter dieses Landes im Bundesrat - und damit auch auf den Bundesratsbänken im Bundestag. Im Alltagsgeschehen können diese Plätze mitunter weitgehend frei bleiben, bei spannenden Fragen, die auch die Länder direkt betreffen, sind sie meistens gut gefüllt. Und wenn es um Schicksalsfragen der Nation geht, finden sich manchmal auch alle 16 Ministerpräsidenten persönlich im Bundestag ein.

Sie alle können jederzeit und unbegrenzt das Wort ergreifen. Die Verfassung kennt keine Einschränkungen. Aber natürlich hat man sich darauf verständigt, die Beratungen trotzdem handhabbar zu machen. Dafür wurde ein simples Anrechnungsverfahren entwickelt. Zu Beginn jeder Wahlperiode einigen sich die Fraktionen darauf, wie viel Redezeit von jeder Debattenstunde (4) den einzelnen Fraktionen entsprechend ihrer Stärke jeweils zustehen soll. Anhand dieses Schlüssels wird dann runtergerechnet, wenn man sich für ein Thema etwa eine halbe Stunde Beratungszeit vornimmt. Und anhand dieses Schlüssels wird hochgerechnet, wenn man für ein Thema zwei, drei oder gar mehr Stunden Beratungszeit braucht. Sowohl die Mitglieder der Bundesregierung als auch die Mitglieder des Bundesrates werden in ihren Wortmeldungen auf diesen Schlüssel „angerechnet“. Spricht also ein SPD-Bundesminister, geht dies vom Redezeitkonto der SPD-Fraktion ab, spricht ein CDU-Landesminister, läuft so lange die Zeit vom Kontingent der Unionsfraktion. Genauso ist es bei Mitgliedern von Bündnis 90/Die Grünen und FDP, die von den Bänken der Bundesregierung oder des Bundesrates an das Pult des Bundestages treten. Dann können Abgeordnete dieser beiden Bundestagsfraktionen weniger lange in die Debatte eingreifen.

Nun kommt es natürlich auch immer wieder vor, dass in den Bundesländern Parteien an der Regierung beteiligt sind, die selbst im Bundestag keine eigene Fraktion stellen, die aber Vertreter in den Bundesrat entsenden und die somit ebenfalls jederzeitiges Rederecht im Bundestag genießen. Also etwa die PDS in Mecklenburg-Vorpommern oder die Schill-Partei in Hamburg. Dann lautet die Absprache, dass deren Redezeit im Plenum von dem Kontingent derjenigen Fraktion gebucht werden soll, deren Partei in dem jeweiligen Bundesland den Regierungschef stellt. In diesen Fällen also die SPD in Mecklenburg-Vorpommern und die CDU in Hamburg.

Fahnen der Bundesländer vor dem Reichstagsgebäude
Fahnen der Bundesländer vor dem
Reichstagsgebäude.

Der Verlauf von Debatten lässt sich letztlich niemals genau voraussehen. So kann es passieren, dass sich nach dem Wortbeitrag eines Ministers aus Bund oder Land im weiteren Gang der Diskussion neue Aspekte ergeben, die es ihm angeraten erscheinen lassen, ein weiteres Mal das Wort zu ergreifen, auch wenn etwa die Redezeit für „seine“ Fraktion bereits abgelaufen ist. Natürlich kann niemand dem Mitglied von Bundesregierung oder Bundesrat diese weiteren Ausführungen verwehren. Aber zur parlamentarischen Fairness gehört es, dann eine neue Runde von Wortmeldungen aus dem Plenum zu eröffnen und den anderen Fraktionen ebenfalls noch einmal die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben.

Feine Unterschiede

Feine Unterschiede pflegen die Parlamentarier, wenn es um die Lebendigkeit ihrer Debatten geht. Mitglieder von Bundesregierung und Bundesrat dürfen zwar zuhören und am Pult auch mitreden. Aber ansonsten müssen sie sich zurückhalten. Zwischenrufe sind ihnen nicht gestattet. Mitglieder der Bundesregierung können sich zwar, wenn sie zugleich Abgeordnete sind, genauso verhalten wie ihre Parlamentarierkollegen, sie können Zwischenrufe machen, Zwischenfragen stellen, Kurzinterventionen einwerfen. Aber dann müssen sie vorher die Regierungsbank verlassen und auf einem Abgeordnetensitz Platz nehmen. Und auch wenn der Redner auf ihre Zwischenfrage antwortet, müssen sie weiter an einem Abgeordnetenplatz stehen bleiben.

Besonders auf die Präsenz der Bundesregierung kommt es immer wieder an. Damit die Regierung besser planen kann, wird sie zur Teilnahme an den Sitzungen des Ältestenrates eingeladen, wenn die Themen und Abfolgen der nächsten Sitzungswoche geplant werden. Dann sitzt nicht irgendein zur Mitschrift entsandter Bediensteter mit am Tisch. Es handelt sich hier um einen der Staatsminister im Bundeskanzleramt, also um Mitglieder der Chefetage. Auch darin kommt die Wertschätzung des einen Verfassungsorgans durch das andere zum Ausdruck. Sämtliche Tagesordnungen und Drucksachen des Bundestages erhält auch der Bundesrat. Immer wieder treffen sich die Direktoren der beiden Häuser, um Details des alltäglichen Zusammenwirkens zu besprechen.

Außenminister Joschka Fischer auf einem Abgeordnetensitz
Außenminister Joschka Fischer auf einem
Abgeordnetensitz.

Die rot-grüne Regierungskoalition hat im Übrigen die Möglichkeit eingeführt, dass die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen an den Sitzungen des Bundeskabinetts teilnehmen können, um auch in diese Richtung die Information sicherzustellen. In Sitzungswochen berichtet die Bundesregierung nach den Sitzungen auch in öffentlicher Sitzung dem Plenum des Bundestages über die Kabinettssitzung und steht für Nachfragen zur Verfügung. Genauso regelmäßig antworten Regierungsvertreter auf Fragen der Abgeordneten in einer als ständig wiederkehrendem Tagesordnungspunkt vorgesehenen Fragestunde (5). Daneben befassen sich Aktuelle Stunden (6) oft mit dem Handeln der Regierung.

Intensive Kooperation

Aber nicht nur in den für jeden sichtbaren Aspekten des Redeparlamentes wird die Zusammenarbeit sichtbar. Auch in den weniger in der Öffentlichkeit präsenten Teilen des Bundestages als Arbeitsparlament gibt es eine intensive Kooperation. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die einzelnen Fachausschüsse, die in ständigem Kontakt zu „ihrem“ Ministerium stehen. Immer wieder beraten sie Fachberichte ihres Zuständigkeitsfeldes, die in dem jeweiligen Ministerium entstanden sind und im Ausschuss intensiv erläutert werden. Regelmäßig nehmen hochrangige Vertreter des entsprechenden Fachministeriums an den Ausschusssitzungen teil, um den Abgeordneten Rede und Antwort zu stehen oder von sich aus über die laufenden Projekte in ihrem Haus zu informieren. Selbst wenn die Fachausschüsse sich nicht mit Vorgängen im jeweiligen Fachministerium beschäftigen, sondern beispielsweise Gesetzentwürfe diskutieren, sitzen Angehörige des Ministeriums dabei, damit die Regierung stets auf der Höhe des Entscheidungsstandes ist.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in der letzten Sitzung des 14. Deutschen Bundestages
Der bayerische Ministerpräsident Edmund
Stoiber in der letzten Sitzung des
14. Deutschen Bundestages.

Die vom Bundestag beschlossenen Gesetze erreichen als Entwürfe aus drei verschiedenen Richtungen das Parlament: entweder aus der Mitte des Hauses selbst oder aus dem Bundesrat oder aber von der Bundesregierung. Von den 1.002 Gesetzesvorhaben, die in der vergangenen Wahlperiode in den Bundestag eingebracht wurden und wenigstens in Erster Lesung dort auch beraten wurden, stammten 450 von der Regierung, 328 aus dem Bundestag und 224 vom Bundesrat. Die Regierung gibt aber auch bei den von den Abgeordneten entwickelten Gesetzesinitiativen immer wieder „Formulierungshilfen“, wobei sie die Fachkompetenz der einzelnen Ministerien besonders den Koalitionsfraktionen zur Verfügung stellt.

Auch der Bundesrat ist sowohl direkt als auch indirekt dabei. Sobald die Regierung einen Gesetzentwurf fertig hat, schickt sie ihn an den Bundesrat, bevor sie ihn in den Bundestag einbringt. Denn da der Bundesrat am Ende auf jeden Fall beteiligt werden muss, ist vorgesehen, dessen Meinung bereits zum Beginn der Beratungen im Bundestag zu kennen und sie somit auch berücksichtigen zu können. Die praktische Arbeit der Landesregierungen auf Bundesebene leisten in den Zeiten zwischen den Bundesratssitzungen vor allem die jeweiligen Landesvertretungen. Die Mitarbeiter dieser Landesvertretungen (7) nehmen - je nach Partei-„Farbe“ ihrer Landesregierung an den Sitzungen der jeweiligen Bundestagsfraktion teil. So kann sich die Landesregierung ein Bild vom Diskussionsstand in der Bundestagsfraktion machen und ihr eigenes späteres Abstimmungsverhalten im Bundesrat auch im Licht dieser Überlegungen planen.

Die Kompromissfindung im Vermittlungsausschuss zeigt schließlich die ganze Vernetzung zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. Die 32 Mitglieder sind nicht weisungsgebunden, damit sie ganz frei eine Verständigung erzielen können. Doch natürlich gibt es rund um die Treffen stets Beratungen der verschiedenen Seiten und intensive Telefonate mit Spitzen aus Fraktionen, Parteien, Bundes- und Landesregierungen, um Stück für Stück das Knäuel aus mitunter sehr verwickelten Sachproblemen, aus unterschiedlichen Befürchtungen zur Auswirkung einzelner Gesetzesformulierungen und sicherlich auch taktischen und strategischen Überlegungen der Fraktions- und Parteimanager zu entwirren. Manchmal klappt das nicht. Aber immer wieder gibt es auch Erfolge.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2003/bp0304/0304024
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