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Das Parlament
Nr. 12-13 / 15.03.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Udo Scheer

"Wenn's nach mir ginge, sähe ich meinen Sohn lieber im Gefängnis"

Pierre Booms Erinnerungen an seinen Vater Günter Guillaume

Es war der größte Spionagefall der Bundesrepublik Deutschland. Nach der Entschlüsselung von Funksprüchen der DDR-Aufklärung schnappte am 24. April 1974 die Falle zu für den persönlichen Kanzlerreferenten Günter Guillaume und seine Frau Christel. Zwei Wochen später begründete Bundeskanzler Willy Brandt seinen Rücktritt mit der Spionageaffäre und äußerte "tiefe menschliche Enttäuschung". So überraschend sein Schritt für die Öffentlichkeit kam, so bekannt war intern seine Amtsmüdigkeit. Die eingeleiteten Reformen der Renten- und Sozialversicherung hatten zur Wirtschaftskrise und einer Inflationsrate von 6,9 Prozent geführt. Nicht nur Herbert Wehner bescheinigte ihm Führungsschwäche.

Über all das erfährt der Leser in Pierre Booms Erinnerungen an seinen "fremden Vater" so wenig wie über die eigentliche Spionagetätigkeit seiner Eltern. Die Brisanz der durch Günter Guillaume beschafften Dokumente und ihre Bedeutung - etwa für die Verhandlungsposition der DDR-Seite im Vorfeld des Grundlagenvertrages - bleibt ebenso ausgeblendet wie die Arbeitsteilung des "Kundschafterpaares", bei dem Christel Guillaume zunehmend zuständig war für Treffs mit Instrukteuren und Kurieren.

Dennoch ist es ein lesenswerter Erinnerungsbericht, den der Fotograf Pierre Boom nach gemeinsamen Recherchen und Gesprächen mit dem Publizisten Gerhard Haase-Hindenberg vorlegt. Im Zentrum des Buches steht die Suche des Sohnes nach der wahren Identität seines Vaters. Zunächst glaubt er der Mutter, als die angesichts der Verhaftung von einer Verwechslung spricht. Er erlebt den Vater in ihren Disputen als "rechten Sozialdemokraten"; in der SPD galt er als "Kommunistenfresser". Um so unverständlicher erschien ihm dessen Selbstenttarnung während der Festnahme: "Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier. Respektieren Sie das!"

Die Vater-Sohn-Gespräche während der U-Haft und nach Günter Guillaumes Verurteilung zu 13 Jahren Haft geraten angesichts der Bewachung zum Smalltalk; sie sparen das Thema Spionage ebenso aus wie die einsetzende Fürsorge von DDR-Stellen für den 17-jährigen Pierre Guillaume. Er idealisiert das Vaterbild in dem Maße, in dem sich seine zu acht Jahren verurteilte Mutter als Opfer und missbraucht stilisiert.

Es ist der Münchner Anwalt Dr. Pötschke, der im Auftrag der Staatssicherheit die Rolle des Ersatzvaters einnimmt und der ihn subtil auf die Übersiedlung vorbereitet: Nur so könne die Familie nach dem Agentenaustausch zusammen sein. Er darf in die DDR reisen, bekommt unter Rundumbetreuung des MfS die Schokoladenseite des Landes vorgeführt. Erst Jahre später begreift er die Dimension des Stasi-Coups. Er wurde zum Faustpfand gegen möglichen Geheimnisverrat oder eigenmächtige Entscheidungen seiner Eltern.

Gleich einem Zaungast liefert er Impressionen des realen Sozialismus mit seinen "hässlichen Waren" in Kaufhäusern, "graugesichtigen" Warteschlangen vor Restaurants, uniformierten Blauhemden beim Fahnenappell und dem nachzubetenden Staatsbürgerkundestoff. Zugleich genießt er die Privilegien der Herrschenden. Seine Stasi-Betreuer verschaffen ihm eine Neubauwohnung und trotz geschmissenen Abiturs ein Volontariat bei "Neues Deutschland", eine Fachschulausbildung und seiner Neigung gemäß eine Anstellung als Fotograf bei der "Neuen Berliner Illustrierten".

Der Name Guillaume verschafft ihm Eintritt in den inneren Zirkel der Macht. Das Buch berichtet vom konspirativen Empfang seiner Eltern beim HVA-Chef Markus Wolf, von Pierre Guillaumes Hochzeit mit der Tochter eines Obersts des MfS als "gesellschaftlichem Großereignis", bei dem sie sich als Komparsen wiederfinden. Diskussionen mit seinem Vater in dessen Villa am Bötzsee oder bei Feiern im Kreis hochrangiger Stasi-Leute und SED-Funktionäre öffnen ihm zunehmend die Augen über deren Realitätsverlust. Der Vater passt sich einmal mehr perfekt an, schlüpft in die Identität des Vorzeigekundschafters und dogmatischen Hardliners. Es sind vor allem die subjektiv-kritischen Einblicke in das Selbst- und Menschenbild diktatorischer Machteliten, die das Buch interessant machen.

1988, nach 13 Jahren, entledigen sich Pierre Guillaume und seine Familie der zunehmend als erniedrigend empfundenen Fürsorge und Einmischung der Staatsicherheit durch einen Ausreiseantrag und Namenswechsel. Ihr Kampf gegen die Umklammerung des Apparats gerät dabei zu einem bemerkenswerten Stück Zivilcourage.

Pierre Boom/Gerhard Haase-Hindenberg

Der fremde Vater.

Der Sohn des Kanzlerspions erinnert sich.

Aufbau-Verlag, Berlin 2004; 415 S., 22,50 Euro

Udo Scheer arbeitet als Schriftsteller und Publizist in Leipzig.

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