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Das Parlament
Nr. 12 / 21.03.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Elena Stepanova

Nomenklatura in neuem Gewand

Russlands Eliten im Wandel
Vor 1989 war alles, was die Herrschenden der Sowjetunion betraf, ein strenges Geheimnis. Sowohl für westliche "Sowjetologen"als auch für die russischen Wissenschaftler blieb das Funktionieren der Nomenklatura - der sowjetischen politischen Klasse - ein Buch mit sieben Siegeln. Nur wenige konnten hinter die Kulissen schauen und die Strukturen der Entscheidungsträger im größten Land der Welt untersuchen.

Olga Kryschtanowskaja untersucht seit 15 Jahren an der Russischen Akademie der Wissenschaften Struktur und Wandel der russischen Elite. Mit ihrem Buch "Anatomie der russischen Elite" will sie diese Lücke füllen. Es ist sowohl eine chronologische Analyse über die Zeit von 1981 bis 2003 als auch eine Analyse verschiedener Eliteebenen (regionaler und zentraler) und Elitebereiche (politischer und wirtschaftlicher Elite), die mit nahezu anatomischer Genauigkeit unter die Lupe genommen werden. Dabei untersucht die Autorin nicht nur die offizielle Elitestruktur, sondern auch die inoffizielle, also Gefolgschaften und Elite-Clans, die für Russland manchmal sogar wichtiger sind als die offizielle Macht.

Die Autorin geht von der Hypothese aus, dass es zwei unterschiedliche Gesellschaftstypen gibt - den politischen und den ökonomischen. Politische Gesellschaften unterscheiden sich von ökonomischen dadurch, dass in ihnen Reichtum in der Regel erst nach der politischen Macht erworben wird. Dagegen öffnet sich in ökonomischen Gesellschaften der Zugang zur Macht erst, nachdem ein gewisses Niveau an Wohlstand erreicht ist.

Russland pendelt zwischen diesen beiden Bereichen: seltene Phasen der Ökonomisierung wechseln mit langen Perioden, in denen die Politik dominiert. Der Zugang zum Eigentum bleibt vom Verhältnis zum Staat abhängig. Kryschtanowskaja beschreibt den Prozess der Inkorporation in die Elite und stellt fest, dass die Anforderungen an "Kandidaten" unbestimmt und dass konkrete Fähigkeiten weniger wichtig als Beziehungen und Zufall sind.

Es gibt eine institutionalisierte Kaderreserve; an öffentliche Ausschreibungen für vakante Stellen ist nicht zu denken. Gesellschaftliche Kontrolle oder zeitliche Beschränkung sind nicht vorhanden, deshalb kann man die Mobilität der Eliten nicht genau voraussagen. Mit Blick auf die Wahlen auf verschiedenen Ebenen betont Kryschtanowskaja die Rolle der so genannten administrativen Mittel, die die Wahlen im postsowjetischen Russland bestimmen. Gemeint ist die Möglichkeit der Machthaber, Wähler und Wahlergebnisse durch verschiedene Einflussmechanismen zu manipulieren. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Wahlen in Russland ein Bereich sind, in dem einzelne Gruppen der Elite gegeneinander kämpfen.

Die Vertreter der Zivilgesellschaft können nur durch Ernennung in die Elite gelangen. Und von den Parteien haben nur jene ein politisches Gewicht, die von der Elite geschaffen wurden und Erfahrung im Parlament gesammelt haben.

Im Gegensatz zu anderen Forschern, die sich nur mit dem Aufstieg in die Elite beschäftigen, analysiert Kryschtanowskaja auch den Prozess des Ausscheidens. So beschreibt sie, wie aus den Ministerien Anfang der 90er-Jahre Großkonzerne entstanden sind, die ehemalige politische Eliten als Konzernpräsidenten beherbergen. Firmengründungen auf der Basis des politischen Kapitals sind ein beliebter Mechanismus der Eliten, um sich für später eine gute Position zu sichern.

Schließlich beschreibt die Autorin ausführlich den Aufstieg Putins und den Aufbau der so genannten Machtvertikale, gemeint ist die Einführung der Institution der Bevollmächtigten des Präsidenten in den Föderationsbezirken und der Inspektoren der Föderation, wodurch die Macht der Gouverneure geschwächt wird. Gleichzeitig beobachtet sie die Errichtung der Führungshorizontale, also die Durchsetzung aller Sphären der Gesellschaft mit Militärs.

Prozess der Privatisierung

Dieser letzte Teil ist besonders interessant, denn es geht um die russische Business-Elite. Analysiert werden der Prozess der Privatisierung, der Aufbau der Finanz-Industrie-Gruppen und die politischen Verbindungen zwischen Wirtschaft und Macht. Dabei gelingt der Autorin ein genaues soziologisches Porträt der heutigen Wirtschaftselite in Russland. Wertvoll ist auch die Liste aller einflussreichen Persönlichkeiten mit Kurzbiografien im Anhang des Buches.

Das Buch ist ein hervorragender Beitrag nicht nur zur Eliteforschung, sondern auch zum Verständnis der politischen Situation im heutigen Russland. Es ist von einer Insiderin geschrieben, die sich selbst nicht als Russland-Expertin bezeichnet, wie es in Deutschland längst ein Modewort geworden ist - sie ist einfach eine Expertin, wie ihre gründliche, gut recherchierte Studie beweist.


Olga Kryschtanowskaja

Anatomie der russischen Elite.

Die Militarisierung Russlands unter Putin.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005; 281 S., 19,90 Euro

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