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Das Parlament
Nr. 12 / 21.03.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Karlheinz Lau

Eine große Geste der Versöhnung

Eine deutsch-polnische Aktenedition zur Vertreibung
Ende des vergangenen Jahres wurde im Herder-Institut in Marburg der letzte Band der vierteiligen Dokumentensammlung aus polnischen Archiven über die Schicksale der Deutschen aus Zentralpolen und den ehemaligen Ostprovinzen Deutschlands jenseits von Oder und Neiße zwischen 1945-1950 vorgestellt. Die Edition erscheint in beiden Ländern. Die vier Bände behandeln alle Regionen des damaligen polnischen Staates sowie die ostdeutschen Vertreibungsgebiete, der nunmehr vorgestellte Abschlussband Westpreußen und Niederschlesien.

Die Präsentation geschah im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Kulturstaatsministerin Weiß und den beiden Herausgebern der Reihe, Wlodzimierz Borodziej und seinem deutschen Kollegen Hans Lemberg. Die Ministerin ergriff die Gelegenheit zu einigen grundsätzlichen Anmerkungen und bescheinigte dem Herder-Institut, dass es konkurrenzlos das Zentrum für ost- und ostmitteleuropäische Forschung in Deutschland ist. Die vierbändige Sammlung ist für die Ministerin eine überzeugende grenzüberschreitende Arbeit und geeignet, die Sichtweise des Nachbarn Polen auf die tragischen Ereignisse von Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung kennen zu lernen. Notwendig sei aber, eine über den nationalen Blickwinkel hinausgehende Perspektive zu gewinnen, und zwar bei Polen und bei Deutschen, ohne das eigene nationale Geschichtsbild aufzugeben.

Genau in diese Richtung zielt die Initiative der Kulturminister Polens, Deutschlands, der Tschechischen Republik zu einem europäischen Netzwerk, das Flucht und Vertreibungen während der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft vergleichend erforschen und untersuchen soll. Beide Herausgeber zogen in Marburg Bilanz: sie würdigten die Arbeit deutscher und polnischer Historikerinnen und Historiker, die 1997 mit der Sammlung von Dokumenten aus polnischen Archiven begann; nur die katholische Kirche verweigert den Zugang zu ihren Archiven. Es sind eindrucksvolle Zahlen: aus mehreren zehntausend Quellen - Befehlen, Rundschreiben, Bekanntmachungen, Protokollen, Meldungen - wurde eine Auswahl von etwa 1.350 Dokumenten zusammengestellt mit umfangreichen Einleitungen und Erläuterungen sowie Übersichtskarten versehen. Die gesamte Quellenedition umfasst über 3.000 Seiten. Gefördert wurde sie von der Stiftung Deutsch-Polnische Zusammenarbeit und der Robert Bosch Stiftung; das Herder-Institut fungiert als institutioneller Herausgeber.

Lemberg sprach von einer neuen Qualität in der Diskussion und Beurteilung der Vertreibung durch die Gegenüberstellung von persönlichen Erlebnisberichten in der vom damaligen Vertriebenenministerium herausgegebenen "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" und den nunmehr veröffentlichten amtlichen polnischen Dokumenten. Dabei wurde der Begriff Vertreibung bewusst vermieden; er erscheint zu eng für eine Beschreibung von Geschehnissen, durch die Menschen hin- und hergeschoben, repatriiert, in die Verbannung geschickt oder zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, wo sie ausreisen mussten, aber auch vertrieben wurden.

In den Einleitungen zu den einzelnen Regionalkapiteln werden diese unterschiedlichen Konfrontationen für die betroffenen Menschen deutlich beschrieben; sie zeigen aber auch die historischen Hintergründe - etwa das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen in der Zwischenkriegszeit, in Zentral-Polen oder in Oberschlesien - und räumen mit der immer noch zählebigen Legende auf, Vertreibungen hätten erst nach 1945 begonnen, und Opfer seien nur die Deutschen gewesen. Die Edition klagt nicht an, sie ist ein Baustein zum Verständnis eines bis heute emotional beladenen Zeitabschnittes in der deutsch-polnischen Geschichte.

Borodziej, einer der Vorsitzenden der gemeinsamen Schulbuchkommission, kündigte an, dass sich die nächste Sitzung des Gremiums in Stettin mit der Frage beschäftigen werde, wie aus dieser Masse an Informationen eine schuldienliche Ausgabe herausgefiltert werden könne. Auf diesem Gebiet gibt es bis heute mindestens in Deutschland einen großen Nachholbedarf an Informationen und Kenntnissen. Was indirekt durch die vier Bände transportiert wird, ist das große Wunder, wie viel nach den Abgründen und Brüchen im deutsch-polnischen Verhältnis heute an Normalisierung und auch Freundschaften erreicht wurde.

Eine wichtige Information kam aus dem Herder-Institut: eine Arbeitsgruppe bereitet eine Sammlung von Dokumenten aus tschechischen Archiven vor. Angesichts der Brisanz der sudetendeutschen Frage, die wesentlicher Teil des Vertreibungsschicksals der Deutschen in Mittel-Osteuropa ist, ein nicht weniger bedeutsames Vorhaben.


Wlodzimierz Borodziej, Hans Lemberg (Hrsg.)

Die Deutschen östlich von Oder und Neiße.

Dokumente aus polnischen Archiven.

Verlag Herder-Institut, Marburg 2002-2004; 4 Bände, 199,- Euro.

Band 1: Zentrale Behörden, Wojewodschaft Allenstein.

Band 2: Zentralpolen, Wojewodschaft Schlesien (Oberschlesien).

Band 3: Wojewodschaft Posen, Wojewodschaft Stettin (Hinterpommern).

Band 4: Wojewodschaften Pomerellen und Danzig (Westpreußen), Wojewodschaft Breslau (Niederschlesien).

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