*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

 zurück weiter  Kapiteldownload  Übersicht 


11.3        Minderheitenvotum der PDS-Arbeits­ gruppe zum Endbericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft“, Ulla Lötzer, MdB, Prof. Dr. Jörg Huffschmid (Sachverständiger)

11.3.1     Einleitung – Die Herausforderung: Demokratische Politik gegen die neoliberale Deformation der Globalisierung

Der Endbericht formuliert in der Einleitung den konzeptionellen Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Problemfelder der Globalisierung diskutiert werden. Dabei wird die mit der aktuellen Form der Globalisierung verbundene massive Verschärfung von Ungleichheit, die steigenden Ungleichgewichte in der Weltwirtschaft und die negativen sozialen und ökologischen Folgen thematisiert. Insoweit stimmen wir dem Bezugsrahmen des Endberichts zu. Was wir vermissen, ist eine deutlichere Analyse der Interessen, Macht- und Kräfteverhältnisse, die eine derartige Entwicklung vorangetrieben haben. Es handelt sich in unserer Sicht nicht um einen quasi-automatischen, durch die Technologie gestützten Vorlauf der Ökonomie, bei dem die Politik aufholen und gestaltet muss. Es handelt sich vielmehr um eine auch bisher schon von der Politik gestützte und vorangetriebene Entwicklung im Interesse der Kapitalgruppen, die auf internationale Expansion angewiesen sind und diese ohne Rücksicht auf die sozialen und ökologischen Kosten betreiben. Damit sind die potenziell positiven Wirkungen internationaler Arbeitsteilung faktisch für den größten Teil der Menschen nicht zum Tragen gekommen, Globalisierung ist zur Spaltung der Welt deformiert worden. Daher brauchen wir nicht nach einem ökonomischen Vorlauf eine nachfolgende Politik, sondern eine andere Wirtschaft und eine andere Politik. Im folgenden wollen wir den konzeptionellen Bezugsrahmen für unser Minderheitsvotum skizzieren:

Die „Globalisierung der Weltwirtschaft“ ist Thema einer Enquete-Kommission geworden, weil die Gesellschaft die Entwicklung zunehmend als Problem empfunden hat. Dies ist spätestens seit den Demonstrationen von Seattle anlässlich der Ministerratstagung der WTO Ende 1999 der Fall. Seitdem sehen immer mehr Menschen die Globalisierung nicht mehr nur als unabwendbares – im wesentlichen durch den technologischen Fortschritt verursachtes – Schicksal, an das sich Menschen, Unternehmen und Länder bei Strafe des Untergangs anpassen müssen. Sie erkennen, dass die Globalisierung ein Resultat des Zusammenwirkens von ökonomischen und politischen Entwicklungen ist, hinter denen wirtschaftliche und politische Kräfte und Interessen stehen. Die Ergebnisse sind für eine zunehmende Zahl von Menschen weder sozial, noch ökologisch und politisch akzeptabel.

Der empirische Befund von dem wir ausgehen, ist folgender: Im letzten Vierteljahrhundert haben Umfang und insbesondere Tempo von grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs- und ganz besonders Kapitalströmen enorm zugenommen. Neue Technologien und insbesondere das Internet versprechen grenzenlosen Fortschritt und neue demokratische Partizipationsmöglichkeiten in einer informationell vernetzten Wissensgesellschaft. Gleichzeitig ist die Spaltung der Welt in Arm und Reich viel tiefer geworden, sowohl zwischen armen Entwicklungs- und reichen Industrieländern als auch innerhalb der meisten Länder. Die Zahl der Armen, die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben, ist während des letzten Jahrzehnts absolut gestiegen. Der durch die sozialen Sicherungssysteme geschaffene gesellschaftliche Zusammenhalt wird in den Industrieländern unter dem Druck von Sozialabbau und Privatisierung brüchig; in vielen Entwicklungsländern kommt nach der Zerstörung traditioneller Sozialstrukturen kein neuer Zusammenhalt zustande. Wir sind Zeugen neuer Wellen und Formen von Aggressivität, Gewaltbereitschaft und Gewaltausbrüchen in zahlreichen Gesellschaften und sind mit einer neuen    Dimension militärischer Interventionen im Namen globaler Werte konfrontiert. Diese Entwicklungen fördern fundamentalistische Tendenzen in allen Teilen der Welt und gefährden die Demokratie.

Diese alarmierenden Tatsachen sind nicht in erster Linie auf die Internationalisierung der Wirtschaft zurückzuführen. Sie haben aber sehr viel mit der Art zu tun, wie sie von den Industrieländern und deren führenden Unternehmen durchgesetzt und gestaltet wurde. Die internationale Ausdehnung der Wirtschaft enthält positive Perspektiven: Sie kann Entwicklung durch Unterstützung und Kooperation fördern, den Wohlstand aller Beteiligten durch Arbeits­ teilung und Handel steigern, und durch wirtschaftliche Verflechtung zum Frieden auf der Welt beitragen. Diese Perspektiven verwirklichen sich allerdings nicht automatisch, sondern erfordern bewusstes und kooperatives politisches Handeln. Die Dynamik der Märkte, auf denen sich immer die Stärkeren zu Lasten der Schwächeren durchsetzen, muss eingebettet werden in einen nationalen und internationalen Rahmen der Zusammenarbeit und des sozialen Ausgleiches, und dieser Rahmen kann nicht von den Großen diktiert, sondern muss gemeinsam abgesteckt werden. Tatsächlich ist wirtschaftliche Internationalisierung jedoch nicht in diese, sondern in die entgegengesetzte Richtung politisch forciert und gestaltet, sind ihre positiven Perspektiven hierdurch bis zur Unkenntlichkeit deformiert worden. Internationale Kooperation ist zunehmend durch Konkurrenz, die Politik einer schrittweisen Stärkung ökonomischer Grundstrukturen in den Entwicklungsländern durch radikale und rücksichtslose Marktöffnung, demokratische politische Willensbildung durch den Druck und das Diktat der großen internationalen Finanz­ institutionen ausgehebelt worden. Auch in den Industrie­ ländern hat stärkere Internationalisierung die Versprechen nicht eingelöst, mit deren Hilfe sie vorangetrieben worden war. Die Politik hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten weniger daran orientiert, den Wohlstand, die Beschäftigung und die soziale Sicherheit der Menschen zu sichern als daran, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der nationalen Unternehmen – insbesondere der großen Konzerne – auf Kosten der Mehrheit zu steigern. Demokratie ist zunehmend unter den Druck der großen Akteure auf den Finanzmärkten und der transnationalen Konzerne geraten.

Diese Art, wie Internationalisierung als „Wettlauf der Besessenen“ rücksichtslos politisch vorangetrieben, organisiert und begleitet wird, sehen wir als den Kern der gegenwärtigen Globalisierung an. Es handelt sich dabei um ein von Anfang an politisches Projekt: Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen sollen vor allem im Interesse der Privatwirtschaft und besonders der großen international tätigen Kapitalgruppen gestaltet werden. Dieses Projekt richtet sich faktisch, zum Teil auch explizit, gegen einen gesellschaftlichen Reformanspruch, der wirtschaftliche Strukturen und Prozesse in eine demokratisch festgelegte Entwicklungsstrategie einbinden, Bildung und Kultur, Gesundheit und die Grundversorgung der Menschen als öffentliche Güter erhalten und dem dominierenden Zugriff privater Profitstrategien entziehen will. Die Globalisierung, mit der wir heute konfrontiert sind, ist eine Strategie der neoliberalen Gegenreform. Globalisierungskritik richtet sich nicht gegen Internationalisierung an sich, sondern gegen ihre neoliberale Deformation.

Diese Sicht haben wir in der Enquete-Kommission vertreten und in den Arbeitsgruppen konkretisiert. Wir unterstützen die Empfehlungen der Kommission, die auf eine Korrektur der von uns kritisierten Fehlentwicklungen zielen. Unsere Position ist in den einzelnen Arbeitsgruppen in unterschiedlichem Ausmaß akzeptiert und gelegentlich von der Mehrheit der Kommission geteilt worden; in diesen Fällen taucht sie auch im Hauptbericht auf. Dies gilt besonders für das Mehrheitsvotum der Arbeitsgruppe „Wissensgesellschaft“, das sich in der Analyse und den Empfehlungen an der „Nachhaltigkeit“ von Wissen orientiert. Das heißt, Wissen gilt als öffentliches Gut, als Mittel zur Herstellung einer demokratischen Öffentlichkeit und von sozialer Gerechtigkeit. Die Überwindung der „Wissenskluft“ wird somit als Aufgabe formuliert.

In anderen Arbeitsgruppen sind wir bei wesentlichen Fragen mit unseren Ansichten in der Minderheit geblieben. Zu einigen davon stellen wir im folgenden unsere von der Mehrheit abweichenden Ansichten und die daraus folgenden Handlungsempfehlungen vor.




 zurück weiter  Top  Übersicht 


Volltextsuche