*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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11.3.2.1     Was der Bericht ausblendet: Die Aushöhlung von Demokratie und Sozialstaatlichkeit durch die Finanzmärkte

11.3.2.1.1  Alleinherrschaft der Eigentümer: Der Druck durch die Shareholder-value-Orientierung

Der Mehrheitsbericht hatte schon im Zwischenbericht unter dem Titel „shareholder value“ die Bedeutung der großen Finanzanleger für die Geschäftspolitik großer Unternehmen in verharmlosender Weise behandelt. Die Ergänzungen im Abschlussbericht sind offensichtlich unter dem Eindruck des Enron-Skandals zustande gekommen und erschöpfen sich auf einen Vergleich amerikanischer und europäischer Methoden der Rechnungslegung. Die hierzu gehörige Handlungsempfehlung (2.3) fällt erheblich schwächer aus als die im Zwischenbericht. Der Hinweis auf die wachsende Macht der institutionellen Inves­ toren, die Kernursache für das Aufkommen der Shareholder-Value-Orientierung, kommt nicht mehr vor.

Es geht bei shareholder value aber nicht in erster Linie um die Einführung einer neuen Meßzahl für den Unternehmenswert, deren wissenschaftliche Solidität mit Recht angezweifelt wird. Die Shareholder-Value-Orientierung ist eine Kampfansage der institutionellen Anleger an eine Unternehmenspolitik, die neben den Interessen der Eigentümer (shareholder) auch noch andere Interessen berücksichtigt (vgl. AG1 AU 14/75). Sie richtet sich gegen Mitbestimmung der Beschäftigten und Gewerkschaften, und allgemeiner gegen eine Unternehmenskultur, die in den vergangenen Jahrzehnten in unterschiedlichen Formen in harten Auseinandersetzungen als Alternative zum angelsächsischen Modell der Unternehmensführung in Kontinentaleuropa durchgesetzt worden war. Der Kern dieser Alternative: Große Unternehmen mit Tausenden von Beschäftigten sollen nicht als Privatveranstaltung von Privatleuten im ausschließlichen Interesse von Privatleuten geführt werden; es handelt sich dabei um soziale Organisationen, in denen zum einen ein Mindestmaß an innerer Demokratie herrschen und die zum anderen in ein Geflecht sozialer, ökologischer und entwicklungspolitischer Verantwortung einzubinden sind.

Eine solche Orientierung war auch in der Vergangenheit immer wieder harten Angriffen ausgesetzt und ist oft verletzt worden. Mit der Entwicklung und Liberalisierung der Finanzmärkte und der dominierenden Rolle der institutionellen Anleger erhalten diese Angriffe neue Wucht, soll die gesellschaftliche Verantwortung privater Unternehmen vollends liquidiert werden. Die Folgen beschränken sich nicht auf die Unternehmen, in denen die institutionellen Anleger unmittelbar präsent sind und direkten Druck auf das Management ausüben. Über die Mechanismen der Börse, Rating und Ranking, die Konkurrenz, über neue Standards und Benchmarks für die Rechnungslegung, Konditionen für Zulieferer und Kunden wird der Druck auf andere Unternehmen übertragen und trifft auch – vielfach in besonderer Härte – mittelständische Firmen. Shareholder-Value-Orientierung ist damit ein Kürzel für eine massive Welle der Gegenreform in der Unternehmensführung. Dieser Aspekt spielt im Abschlussbericht der Mehrheit eine noch geringere Rolle als im Zwischenbericht.

11.3.2.1.2  Aushebelung der Demokratie: der „disziplinierende“ Druck der Finanzmärkte auf die Politik

Der Endbericht verliert kein Wort über die Gefährdung der parlamentarischen Demokratie, die von dem „disziplinierenden“ Druck der großen Akteure auf den Finanzmärkten auf die Politik von Parlamenten und Regierungen ausgeht. Dabei wird dieser Druck von denen, die ihn ausüben, gar nicht bestritten, sondern sogar als Vorzug der modernen Finanzmärkte herausgestellt: Sie reagieren schnell und hart auf politische „Fehler“ und erzwingen    politische Korrekturen. Als Fehler gilt alles, was nicht im Interesse der ,,Finanzinvestoren“ liegt: ein starkes öffentliches System der sozialen Sicherheit, hohe Löhne, energische Beschäftigungs- und Umweltpolitik, großzügige Entwicklungspolitik, zu hohe Steuern. Die „Korrektur“ dieser Fehler erfolgt seit den 80er Jahren durch restriktive Geld- und Finanzpolitik, Sozialabbau und die Lockerung arbeits-, sozial- und umweltrechtlicher Standards. Die Hebel, mit denen die institutionellen Investoren ihre Interessen gegenüber der Politik und der Gesellschaft durchsetzen, sind die Konkurrenz um Neuanlagen und ihre „Exit-Option“, d.h. ihre Fähigkeit, das Kapital, das sie in einem Land angelegt haben, schnell und praktisch ohne Kosten abzuziehen. Allein die Drohung mit Kapitalverlagerung veranlasst Regierungen, sich auf einen „Stand­ ortwettbewerb“ einzulassen, bei dem Schritt für Schritt soziale und demokratische Fortschritte im Namen der Standortattraktivität geschleift werden. Darüber hinaus spielen die Bewertungen der Rating-Agenturen mit ihren Bonitätsprüfungen alleine nach zu erwartender Renditehöhe als Anlagemaßstab eine besondere Rolle für die Konzentration der Finanzanlagen. Die auf den Finanzmärkten dominierenden Banken und Anleger haben auf diese Weise dazu beigetragen, dass sich die wirtschaftspolitische Hauptausrichtung in den letzten beiden Jahrzehnten grundlegend zugunsten eines neoliberalen Marktradikalismus gewandelt hat. Die Rolle der Politik soll sich darauf beschränken, privates Eigentum zu schützen und öffentliches zu privatisieren, Märkte zu öffnen und für stabile Preise zu sorgen – notfalls durch Auslösung von Krisen und Arbeitslosigkeit.

Im internationalen Rahmen spielen seit den 70er Jahren der Internationale Währungsfonds und die Weltbank als globale, von den großen Finanzzentren des Nordens dominierte Finanzorganisationen vor allem gegenüber den Entwicklungsländern eine ähnlich disziplinierende Rolle mit polarisierenden Folgen. Sie verbinden mit ihren Strukturanpassungsprogrammen wirtschaftspolitische Auf­ lagen, die im wesentlichen auf Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung und eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik zielen. Diese Politik hat zum einen zu schweren Finanzkrisen mit erheblichen sozialen, ökologischen und politischen Kosten geführt. Zum anderen haben IWF und Weltbank die Handlungsautonomie der jeweiligen Regierungen, Parlamente, der Bürger und Bürgerinnen, demokratisch über ihre Wirtschafts­ politik zu entscheiden, weitgehend beseitigt. Die Verteilung des Stimmrechts bei IWF und Weltbank aus­ schließlich entsprechend der Einlagen gibt den USA und den Industrie­ ländern ein massives Übergewicht und unterstreicht den inakzeptablen undemokratischen Charakter beider Institutionen.

Diese Politik ist aus mehreren Gründen schädlich: Zum einen untergräbt die politische Dominanz der Finanzmärkte die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie. Disziplinierung und Kontrolle der Regierung und die Korrektur von Regierungspolitik werden nicht mehr als Aufgabe der Parlamente und Gerichte angesehen, sondern von den Finanzmärkten diktiert, oder Parlamente geraten zu machtlosen Exekutoren der von den Finanzmärkten erhobenen Anforderungen. Zum anderen trägt die Dominanz der Finanzmärkte dazu bei, dass die soziale Polarisierung in den meisten Ländern und zwischen den Ländern des Nordens und denen des Südens zunimmt. Der Preis dieser Politik in den Industrieländern war Wachstumsschwäche, höhere Arbeitslosigkeit und eine rigorose Umverteilung zu Lasten der Löhne und Gehälter. Im Verhältnis zwischen dem Norden und dem Süden hat sich die Kluft zwischen dem ärmsten Fünftel und dem reichsten Fünftel der Welt – gemessen am Prokopfeinkommen – von 1960 bis 1999 von 1: 30 auf 1: 72 vergrößert, und die Zahl der Armen – die weniger als einen US-Dollar pro Tag zum Leben haben – hat zwischen 1988 und 1998 um mehr als 100 Millionen zugenommen.

11.3.2.1.3  Die Auslieferung der sozialen Sicherheit an die Finanzmärkte

Ein gravierender Mangel des Endberichts liegt darin, dass er den Einfluss der großen Akteure auf den Finanzmärkten bei der massiven Beschädigung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht thematisiert. Unter dem Titel „Modernisierung der Sozialsysteme“ wird gegenwärtig in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem Tempo in allen großen Ländern Kontinentaleuropas privatisiert. Das wird u.a. mit der Behauptung begründet, die geltenden gesetzlichen und paritätisch oder aus den öffentlichen Haushalten finanzierten Umlagesysteme seien angesichts einer älter werdenden Bevölkerung nicht mehr finanzierbar und müssten zunehmend durch private Systeme ergänzt bzw. ersetzt werden. Diese Begründungen halten einer theoretischen und empirischen Überprüfung nicht stand. Bei Änderungen der demografischen Struktur der Bevölkerung, muss, wenn der Lebensstandard in den Sozialsystemen aufrecht erhalten werden soll, in jedem Fall ein Realtransfer von den Beschäftigten zu den im Sozialsystem befindlichen Personen stattfinden – unabhängig von der Organisationsform dieses Transfers. Bei der Privatisierung der Systeme der sozialen Sicherheit handelt es sich vielmehr allgemein um eine doppelte Umverteilung zugunsten von Unternehmen und höheren Einkommensschichten: Zum einen werden die Beiträge von Unternehmen zur Sozialversicherung beschränkt, wäh­ rend sie für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihren bislang durch die gesetzliche Rente gesicherten Lebensstandard im Alter auch weiterhin behalten wollen, durch private Beiträge erhöht werden. Zum anderen werden die Leistungen zugunsten der Einkommensschichten umverteilt, die sich höhere Beiträge leisten können. Vor allem aber handelt es sich um eine Subvention in Billionenhöhe für die großen Versicherungen und anderen institutionellen Anleger: Die Beiträge zur Sozialversicherung, die in umlagefinanzierten öffentlichen Systemen unmittelbar – d.h. ohne den Umweg über die Kapitalmärkte – für Leistungen ausgegeben werden, fließen im Zuge der Privatisierung zunächst als disponible Mittel in die Portfolios der institutionellen Anleger, was negativ auf die effektive Konsumnachfrage wirkt, und stärken ihre Position als global players auf den internationalen Finanzmärkten. Die Versicherungen und Finanzanleger, die eine Privatisierung    der sozialen Sicherungssysteme gefordert und maßgeblich betrieben haben, sind zugleich die unmittelbar Begünstigten dieser sozialstaatlichen Gegenreform. Benachteiligt ist die große Mehrheit der Bevölkerung. Die Leistungen der gesetzlichen Versicherungssysteme sinken, die Beitragsbelastung für einen unveränderten Leistungsumfang steigt, und überdies unterliegen die tatsächlichen Leistungen den Risiken der Kapitalmärkte.

Es ist ein zentrales Versäumnis der Kommissionsmehrheit, diese Zusammenhänge im Bericht nicht angesprochen und kritisch diskutiert zu haben. Der Grund dafür liegt allerdings auf der Hand. Während der gut zwei Jahre, in denen die Kommission arbeitete, hat die Bundesregierung den Einstieg in die Privatisierung der Rentenversicherung durchgesetzt. Der damit beschrittene Weg führt dazu, die soziale Sicherheit der Menschen schrittweise an die Risiken der Finanzmärkte auszuliefern. Wenn die Kommissionsmehrheit auf zwei Zeilen in der Handlungsempfehlung 2.6 empfiehlt, die „Systeme der sozialen Sicherheit in Europa so auszugestalten, dass sie vor den Risiken der Finanzmärkte abgeschirmt bleiben“, dann ignoriert sie damit die bereits jetzt in Europa ablaufenden und politisch forcierten Entwicklungen.




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