*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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11.3.2.3     Einbindung der Finanzmärkte in ein demokratisches europäisches Entwicklungsmodell

Empfehlung

Die PDS fordert den Bundestag und die Bundesregierung auf, die aktuellen Fehlentwicklungen bei der Bildung eines einheitlichen europäischen Finanzmarktes zu korrigieren. Entscheidungen der Politik, besonders der Parlamente, müssen Vorrang haben vor den Interessen der Finanzmärkte, die sich mehr und verselbständigen und Druck ausüben. Es darf nicht darum gehen, einfach das amerikanische Finanzmarktmodell zu übernehmen. Stattdessen ist der europäische Finanzmarkt in den Rahmen einer europäischen Entwicklungskonzeption zu stellen, deren Eckpunkte sinnvolle Beschäftigung, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit sowie mehr Demokratie auch in der Wirtschaft sein sollten.

Trotz Binnenmarkt und Währungsunion ist der Finanzsektor in der EU nach wie vor in hohem Maße ökonomisch und politisch fragmentiert. Die damit verbundenen Probleme sind durch das starke Wachstum in der zweiten Hälfte der 90er Jahre verschleiert worden, machen sich aber nach dem Ende der Überhitzung umso deutlicher bemerkbar. Sie erfordern politische Reaktionen und Gestaltung. Ein funktionsfähiger europäischer Finanzmarkt hat die Aufgabe, erstens die reibungslose Abwicklung des nationalen und internationalen Zahlungsverkehrs zu gewährleisten, zweitens die Finanzierung privater und öffentlicher Investitionen und drittens die Bildung    langfristiger privater Vermögen zu erleichtern. Die Stabilität des Finanzsektors ist ein öffentliches Gut, das politisch gesichert werden sollte. Die Integration der verschiedenen nationalen Finanzmärkte zu einem europäischen Finanzmarkt ist aus Effizienzgründen sinnvoll, und die dabei entstehende große Liquidität erlaubt gestalterische Eingriffe, ohne dass darunter die Funktionsfähigkeit leidet. Ein funktionsfähiger europäischer Finanzmarkt sollte allerdings nicht mit der Herrschaft der Finanzmärkte verwechselt werden. Er sollte weder die Richtlinien von Regierungspolitik noch des Managements von Unternehmen bestimmen, und schon gar nicht sollte er über die Grundlagen der sozialen Sicherheit der Menschen entscheiden. Er muss vielmehr in die Haupt­ orientierungen einer Wirtschaftspolitik eingebunden werden, deren Eckpunkte sinnvolle Beschäftigung, soziale Sicherheit, Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit sowie mehr Demokratie auch in der Wirtschaft als Kennzeichen des spezifischen europäischen Entwicklungsmodells sein sollten.

Gemessen an diesen Kriterien schätzen wir die Entwicklung in den letzten Jahren überwiegend kritisch ein. Was bisher zur Bildung eines europäischen Finanzmarktes geschah, beruht im wesentlichen auf dem Aktionsplan Finanzdienstleistungen von 1999 und dem Lamfalussy-Bericht von 2001. Es zielt in erster Linie auf den Abbau nationaler und den Ersatz durch europäische Regulierungen, die dem amerikanischen Modell folgen, sozialer Schutz und demokratische Kontrolle werden völlig vernachlässigt, die Konzentration und der Aufbau neuer Machtpositionen der großen Finanzinstitute gefördert.

11.3.2.3.1  Fehlentwicklungen bei der Bildung eines europäischen Finanzmarktes

Konzentration, Marktbeherrschung, Machtmissbrauch

Durch die Öffnung der Märkte sind die europäischen Finanzinstitute zwar einem stärkeren Konkurrenzdruck aus anderen Mitgliedsländern und aus den USA ausgesetzt. Sie reagieren aber nicht mit einer Verbesserung und Verbilligung von Finanzdienstleistungen, sondern vor allem mit harter Rationalisierung und dem Aufbau vorwiegend nationaler Dominanzpositionen durch Fusionen und Übernahmen. Diese Positionen werden vielfach durch überhöhte Gebühren zu Lasten der Verbraucher ausgenutzt – was z.B. die nach wie vor hohen Gebühren bei Auslandsüberweisungen in der EU belegen.

Ausdünnung der Kreditversorgung für KMU und ländliche Regionen

Überdies ist durch das Vordringen der Wertpapierfinanzierung und die größere Rolle der institutionellen Anleger in den meisten Ländern eine duale Struktur des Finanzsektors entstanden. Die großen international tätigen Institute ziehen sich allmählich aus dem Massengeschäft zurück und setzen gleichzeitig die regional tätigen Sparkassen und Genossenschaftsbanken unter Druck. Dies ist außerordentlich problematisch. Es ist insbesondere nicht zu vertreten, dass das in verschiedenen Ländern vorhandenen Segment der öffentlichen oder öffentlich geförderten Sparkassen, Depot- und Kreditbanken oder der ge­ nossenschaftliche Sektor einem internationalen Wettbewerb ausgesetzt werden. Diese Institute konzentrieren sich in der Regel auf die regionale oder lokale Kreditversorgung und haben gegen die großen, weltweit agierenden Banken keine Chancen. Wenn sie untergehen, verschlechtert sich über kurz oder lang die Geld- und Kreditversorgung in der Fläche, wie es beispielsweise in Großbritannien der Fall ist.

Hohe soziale Kosten des amerikanischen Finanzmarktmodells

Die meisten Länder der EU sowie die EU-Kommission betreiben eine weitgehend unkritische Übernahme des amerikanischen Finanzmarktmusters und vernachlässigen die sozialen Kosten, die damit verbunden sind. Die sozialen Kosten dieses Modells machen sich zum einen insbesondere bei der Übernahme großer Unternehmen durch Finanzinvestoren bemerkbar, was in der Regel massiven Personalabbau und eine Erhöhung des Arbeitsdrucks zur Folge hat. Zum anderen führt die Kurzfristigkeit vieler Kapitalanlagen zu erhöhter gesamtwirtschaftlicher Instabilität und einem Überhandnehmen der Spekulation gegenüber der produktiven Investition, denn bei diesen Anlagen geht es allein darum, Zinsdifferenzen auszunutzen und die dadurch möglicherweise vernünftigen Zinsunterschiede in unterschiedlichen Ländern werden verhindert. Die Reformen, die durch den Lamfalussy-Bericht angestoßen wurden, werden wegen ihrer ausschließlichen Konzentration auf Effizienz und Kos­ tensenkung diese Tendenzen verstärkten.

Auslieferung der sozialen Sicherheit an die Finanzmärkte

Besonders problematisch im Zusammenhang mit der Entwicklung europäischer Finanzmärkte ist es, zunehmende Teile der Systeme der sozialen Sicherheit über das Kapitaldeckungsverfahren zu finanzieren und damit den Risiken der Finanzmärkte auszusetzen. Auch dort wo einzelne kleinere Länder mit dieser Finanzierung zunächst gute Erfahrungen gemacht haben, stehen sie immer vor hohen Risiken und sind mit dem Ende des Wertpapierbooms in erns­ te Schwierigkeiten geraten, die vor allem zu Lasten der Versicherten gehen. Am stärksten ist dies mittlerweile in Großbritannien zu beobachten. Auch bei einer erneuten Stabilisierung kann es nicht die Aufgabe des europäischen Finanzmarktes sein, die Systeme der Sozialversicherung über das Kapitaldeckungsverfahren zu finanzieren. Zum einen lassen sich Finanzmarktrisiken letztlich nie ausschalten. Zum zweiten führt die Organisation der Alterssicherung über die Kapitalmärkte zwar insgesamt nicht zu einer anderen Verteilung des Sozialproduktes zwischen Aktiven und Inaktiven, wohl aber zu mehr Ungleichheit unter den Rentenbeziehern je nach der Höhe ihrer privaten Rentenversicherungsbeiträge und der unterschiedlichen Entwicklung ihrer jeweiligen Fonds. Hierdurch wird drittens das Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität zerstört und der individuelle Eigennutz zur Hauptverhaltensmaxime.

   Steuerpolitik und Kapitalflüsse

Die Formierung eines stabilen Finanzmarktes, der im wesentlichen der Finanzierung von Investitionen und der längerfristigen privaten Vermögensbildung dient, wird durch das Fehlen einer rationalen und solidarischen Steuerpolitik in der EU erschwert bzw. verhindert. Dies betrifft vor allem die Unternehmens(gewinn)steuer sowie die Zins- und Dividendenbesteuerung. Statt gemeinsamer Abstimmung herrscht ein Steuerwettbewerb, durch den die Mitgliedsländer Direkt- und Portfolioinvestitionen auf Kosten anderer Mitgliedsländer ins Land holen wollen. Die Verallgemeinerung eines solchen Steuerwettbewerbs führt zu einem „race to the bottom“, in dessen Folge die Steuereinnahmen auf Unternehmensgewinne und Kapitalerträge zurückgehen. Damit steigt erstens der Druck auf die öffentlichen Finanzen, was wiederum zu Kürzungen im sozialen Bereich führt, und zweitens wird die Steuerbelastung stärker auf die Arbeitnehmer und Verbraucher verschoben. Die europäische Kommission hat das Problem des Steuerwettbewerbs zwar thematisiert, beschränkt sich allerdings auf den Bereich des „schädlichen“ Steuerwettbewerbs, worunter sie eine Steuerpolitik versteht, die ausländische Unternehmen oder Finanzinvestoren gegenüber inländischen begünstigt. Für die Zinsbesteuerung hat sie gegen diesen diskriminierenden Steuerwettbewerb den sinnvollen Beschluss gefasst, ab 2010 allgemeine Kontrollmitteilungen über Kapitalerträge in der EU einzuführen, die Umsetzung dieses Beschlusses allerdings von der Kooperation anderer Finanzplätze außerhalb der EU (Schweiz, USA) abhängig gemacht. Bei der Unternehmensbesteuerung plädiert die EU für größere Transparenz und eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen. Das ist zwar sinnvoll, aber bei weitem nicht ausreichend. Im übrigen ist die Zins- und Gewinnsteuerpolitik grundsätzlich falsch angelegt, solange sie sich auf diskriminierenden Steuerwettbewerb beschränkt und nicht gleichzeitig den allgemeinen Steuerwettbewerb unterbindet.

Makropolitik und europäische Finanzmärkte

Die gesamtwirtschaftliche Orientierung der EU ist schädlich für die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte in der EU.

–    Haushaltspolitik

      Die durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt erzwungene Konzentration der EU-Haushaltspolitik auf die Verminderung der öffentlichen Defizite schadet den europäischen Finanzmärkten. Sie hat nämlich bewirkt, dass Staatsschuldentitel als die wichtigsten Absorptionskanäle für Sparer und anlagesuchendes Kapital nur noch in abnehmendem Maße zur Verfügung standen, während andererseits die Masse des anlagesuchenden Kapitals absolut und relativ stieg. Damit trug Europa zur hohen Überschussliquidität bei, deren Aufbau die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) seit Mitte der 90er Jahre beobachtet und kritisch kommentiert.

–    Geldpolitik

      Es gibt nicht nur eine große Diskrepanz zwischen dem völlig vereinheitlichten und zentralisierten Charakter der europäischen Geldpolitik und der ökonomischen und aufsichtsrechtlichen Zersplitterung der Finanzmärkte in Europa. Zu den für die Finanzmärkte folgenreichen Fehlentwicklungen europäischer Politik gehört auch die außerordentlich restriktive Ausrichtung der Geldpolitik der nationalen Zentralbanken seit Maastricht und später der EZB. Sie hielt das Zinsniveau trotz abnehmender Inflationsgefahren vergleichsweise hoch, was dazu führte, dass das Wachstum in Europa in den 90er Jahren außergewöhnlich schwach und die Arbeitslosigkeit hoch blieben. Die gleichzeitig stattfindende Umverteilung zugunsten der Gewinne hat zu einem Aufbau überschüssiger Liquidität geführt, die mangels ausreichender Nachfrage nach Gütern und Dienstleis­ tungen auf die Finanzmärkte gelenkt wurde, von wo sie als Direktinvestitionen, Portfolioinvestitionen und (meist kurzfristige) Bankkredite ins Ausland ging oder zur inländischen Überhitzung der Aktienmärkte beitrug.

11.3.2.3.2  Vorschläge zur demokratischen Gestaltung eines europäischen Finanzmarktes1

Wettbewerbspolitik

Mit einem größeren europäischen Finanzmarkt erweitern sich die Möglichkeiten für die international tätigen Großbanken; Fusionen und internationale Zusammenarbeit verschaffen ihnen weitere Vorteile. Europäische Politik sollte dafür sorgen, dass diese Größenvorteile sich auch in besseren Konditionen und niedrigeren Preisen für die Nutzer/innen sowie Kund/inn/en niederschlagen. Hierzu gibt es eine Reihe wettbewerbsrechtlicher Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Untersagung missbräuchlicher Ausnutzung von Marktmacht, das Verbot wettbewerbsbeschränkender Absprachen und die Preis- und Gewinnkontrolle.

Finanzaufsicht

Die EU sollte die Stabilität des europäischen Finanzsektors durch schärfere Risikoaufsicht und Beschränkung riskanter Geschäfte von Banken und anderen Finanzunternehmen gewährleisten. Dazu gehört im Rahmen der Bankenaufsicht die Überprüfung der Eigenkapitalvorschriften im Lichte der Entwicklung in den letzten Jahren. Der Ersatz standardisierter Risikokoeffizienten durch bankinterne Risikomodelle, wie er bei der sog. „Basel 2“-Diskussion anvisiert wird, hat allerdings eine Reihe schwerwiegender Nachteile. Der wichtigste liegt darin, dass den Banken damit letztlich selbst die Beurteilung ihrer Risiken und der notwendigen Vorsorge überlassen bleibt. Dieser Ansatz sollte daher nicht weiter verfolgt, sondern durch eine Weiterentwicklung und Korrektur der nach Schuldnergruppen standardisierten Eigenkapitalanforderungen ersetzt werden. Dabei ist insbesondere dem hohen Risikogehalt kurzfristiger (insbesondere reiner    Finanz-)Kredite (Ausfallrisiko) und Wertpapiere (Markt­ risiko) stärker Rechnung zu tragen. Darüber hinaus empfehlen wir, besonders riskante Geschäfte – etwa mit Off­ shorezentren oder Spekulationsfonds – nicht nur durch besonders hohe Eigenkapitalanforderungen, sondern auch administrativ zu diskriminieren. Möglich sind quantitative Beschränkungen oder Verbote derartiger Geschäfte gegenüber den der eigenen Jurisdiktion unterliegenden Instituten.

Bankenstrukturpolitik

Zur Erhaltung der strukturpolitischen Handlungsfähigkeit und zur Gewährleistung der sicheren Geld- und Kreditversorgung in der gesamten EU sollten auf allen Ebenen der EU – Union, Mitgliedsländer, Regionen und Kommunen – entsprechende öffentliche Institutionen zur Verfügung stehen und erhalten werden. Dazu gehören auf EU-Ebene die Europäische Investitionsbank (EIB), auf nationaler Ebene die verschiedenen nationalen und regionalspezifischen Entwicklungsbanken und auf kommunaler Ebene öffentliche Sparkassen oder ähnliche kleinere Institutionen. Es ist insbesondere nicht zu vertreten, das in verschiedenen Ländern vorhandene Segment der öffentlichen oder öffentlich geförderten Sparkassen, Depot- und Kreditbanken oder den genossenschaftlichen Sektor, soweit diese Institute sich auf die regionale oder lokale Kreditversorgung konzentrieren, einem internationalen Wettbewerb auszusetzen, in dem sie keine Chancen haben und untergehen werden. Die Folge wäre, dass über kurz oder lang die Geld- und Kreditversorgung in der Fläche sich verschlechtert, wie es beispielsweise in Großbritannien der Fall ist. Eine Politik, die darauf besteht, dass eine stabile Geld- und Kreditversorgung auch auf dem Lande ein wichtiges öffentliches Gut ist, kann und sollte sich auf die im Sommer 2000 von der EU – als seltener Gegenpol zur vorherrschenden Privatisierungs- und Konkurrenzideologie – verabschiedete Mitteilung zur allgemeinen Daseinsfürsorge (general interest) stützen. Bei der anstehenden Formulierung einer europäischen Richtlinie sollte sie darauf hin wirken, dass die Finanzierung der Daseinsvorsorge zur öffentlichen Aufgabe erklärt wird. Insbesondere die Versorgung von abgelegenen Regionen und Kommunen mit Finanzdienstleistungen sowie die Finanzierung privaten Wohnungseigentums ist eine wesentliche öffentliche Aufgabe und sollte in öffentlicher Regie erfolgen. Das setzt natürlich voraus, dass sich die öffentlichen Institute dieser Aufgabe stellen und nicht ihrerseits in den internationalen Wettbewerb eintreten und damit zum einen ihren öffentlichen Auftrag vernachlässigen und zum anderen den Konkurrenzkampf fördern. Zentrale öffentliche Institute (Landesentwicklungsbanken, KfW) sollten verstärkt zur Entwicklungssteuerung im Sinne ökologischer und sozialer Ziele eingesetzt werden.

Wertpapierhandel

Bei der Gestaltung der Rahmenbedingungen für den Wertpapierhandel geht es einerseits um die Fusion oder die Übernahme von Kapitalgesellschaften, andererseits um die Beschränkung kurzfristiger destabilisierender Kapitalbewegungen.

Stakeholdermodell bei Übernahmen: Hinsichtlich der Übernahme von Kapitalgesellschaften sollte eine europäische Richtlinie nicht nur den Schutz der (Klein)Anleger, sondern in besonderer Weise auch den der Beschäftigten und der von eventuellen Verlagerungen betroffenen Regionen vorsehen. Arbeitnehmervertreter/innen und Vertreter/innen der Regionen sollten frühzeitig über Fusions- und Übernahmeabsichten informiert und dazu angehört werden. In für die Beschäftigten und die Region wesentlichen Belangen sollten sie ein Mitentscheidungsrecht, zumindest aber ein Vetorecht mit aufschiebender Wirkung haben. Im Falle von Verlagerungen von Betrieben oder Unternehmen sollten die Muttergesellschaften einen finanziellen Ausgleich für die Regionen bereitstellen, von deren Infrastruktur sie profitiert haben. Für die Beschäftigten sollte ein Verbot von Entlassungen gesetzlich erlassen oder tarifvertraglich verabredet werden. Derartige Regelungen stehen zwar im Widerspruch zur amerikanischen Tradition der Shareholder-Value-Orientierung, die aktuell auch in Europa um sich greift. Sie würden vermutlich auch das Tempo der Umstrukturierungen auf Unternehmensseite drosseln und sich insofern dem Vorwurf aussetzen, an veralteten Strukturen fest zu halten. Die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts haben die Voreiligkeit, Unausgereiftheit und Misserfolge vieler Fusionen und Übernahmen demonstriert, die oft unter einem selbstgemachten Handlungsdruck zustande gekommen sind oder auf eingebildete Zwänge, den Druck von Finanzinvestoren, Machtbesessenheit oder Größenwahn von Konzernvorständen zurückzuführen waren. Demgegenüber erscheint das europäische stakeholder Modell zwar schwerfälliger, aber insgesamt nicht nur solider zu sein und mehr den Interesse auch der Nichteigentümergruppen zu entsprechen. Auch hinsichtlich der längerfristigen Effizienz braucht das europäische Managementmodell einen Vergleich mit dem angelsächsischen Shareholdermodell nicht zu scheuen. Damit Unternehmen nicht einseitig dem Druck des Shareholder-Value-Interesses von Seiten der Finanzanleger ausgesetzt sind, sollten die Rechte der Belegschaften und der Öffentlichkeit durch Ausweitung der Mitbestimmung in den Betrieben und den Unternehmen gestärkt werden, in besonderem Maße bei Großunternehmen.

Wertpapierumsatzsteuer: Kurzfristige Kapitalbewegungen ohne allokationspolitische Effizienz sollten wegen ihres Destabilisierungspotentials beschränkt, der Kapitalverkehr insgesamt also entschleunigt werden. Dies kann am besten dadurch geschehen, dass Wertpapiertransaktionen auf den Sekundärmärkten (also nicht beim Ersterwerb neu ausgegebener Finanztitel) besteuert werden. Dabei sollte die Höhe der Besteuerung umgekehrt proportional zur Laufzeit der Wertpapiere und zur Haltungsdauer gestaltet werden. Hierdurch wird vermutlich der Gesamtumfang des Sekundärmarkthandels zurückgehen. Mit einer Austrocknung der Märkte ist dennoch nicht zu rechnen, weil mit fortschreitender Integration die bislang vorherrschende Segmentierung der Wertpapiermärkte aufgehoben wird und dadurch die Liquidität des neuen Gesamtmarktes erheblich steigt. Ein großer und liquider europäischer Finanzmarkt mit gebremstem Handel ist ein Konzept, das zwar nicht den Interessen derer entspricht, die an jedem Umsatz verdienen, das aber dem Konzept eines stabilen Finanzmarktes als öffentlichen Gutes nahe kommt.

   Devisentransaktionssteuer (Tobinsteuer): Ein wesentliches Segment der Wertpapiermärkte sind die Devisenmärkte, auf denen der Umsatz besonders groß ist – auch wenn die Einführung des Euro, die Fortschritte des elektronischen Handels sowie die zunehmende Konzentration bei den beteiligten Banken schon zu einem gewissen Rückgang geführt haben. Zur weiteren Beruhigung der Devisenmärkte und zum Schutz gegen den Aufbau spekulativer Wellen ist auch hier die Besteuerung aller Devisenumsätze zu empfehlen. Wir begrüßen sehr, dass auch die Mehrheit der Kommission diese Forderung übernommen hat. Die Steuer sollte – dem neuesten Stand der Diskussion über die Tobinsteuer entsprechend – so ausgestaltet werden, dass der Steuersatz in ruhigen Zeiten sehr niedrig (etwa bei 0,5 Prozent) liegt, jedoch in Zeiten zunehmender Turbulenzen entsprechend den Wechselkursausschlägen steigen sollte, notfalls auf prohibitive Höhen, die dann als eine Art Wellenbrecher gegenüber der Spekulation wirken würden. In diesen Fällen sollten der Waren- und Dienstleistungshandel und die Direktinvestitionen durch entsprechende Ermäßigungen der Einfuhrumsatzsteuer und der Gewinnsteuern geschützt werden.

Auch die Wertpapierumsatzsteuer und die Tobinsteuer werden zu Umsatzrückgängen auf den einzelnen europäischen Finanzmärkten führen. Das ist im Falle einer Finanzkrise der ausdrückliche Zweck. In Normalzeiten ist jedoch wegen der Integration der einzelnen nationalen Märkte kein Mangel an Liquidität zu befürchten, sondern eine Beruhigung und Stabilisierung des Marktes zu erwarten.

Kapitalverkehrskontrollen: Die EU verfügt nach Art. 59 (ex 73f) EU-Vertrag über die Möglichkeit, zumindest befristet (dies aber nicht nur einmal) alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, die eine aktuelle oder drohende Störung des Funktionierens der Wirtschafts- und Wäh­ rungsunion durch Kapitalzu- oder -abflüsse aus Drittländern oder nach Drittländer abwehren. Hierzu gehören je nach Beurteilung der Lage und Interpretation nicht nur Steuern oder Bardepotpflichten, sondern u.U. administrative Kapitalverkehrskontrollen und -beschränkungen. Diese Bestimmung bleibt in der vorherrschenden Diskussion in der Regel unerwähnt, stellt aber eine wichtige Grundlage für den wirksamen Schutz des europäischen Finanzmarktes gegenüber Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte und spekulativen Attacken dar.

Trennung von Finanzmärkten und sozialer Sicherung

Auch bei einer weitgehenden Stabilisierung kann es nicht die Aufgabe des europäischen Finanzmarktes sein, die Systeme der Sozialversicherung über das Kapitaldeckungsverfahren zu finanzieren. Zum einen lassen sich Finanzmarktrisiken letztlich nie ausschalten. Zum anderen führt die Organisation der Alterssicherung über die Kapitalmärkte zwar insgesamt nicht zu einer anderen Verteilung des Sozialproduktes zwischen Aktiven und Inaktiven, wohl aber zu mehr Ungleichheit unter den Rentenbezieher/innen je nach der Höhe ihrer privaten Rentenversicherungsbeiträge und der unterschiedlichen Entwicklung ihrer jeweiligen Fonds. Hierdurch wird das Prinzip der gesellschaftlichen Solidarität zerstört und durch das des individuellen Eigennutzes als Hauptverhaltensmaxime ersetzt.

In den meisten EU-Ländern werden Alterssicherung und Gesundheitsfürsorge nach wie vor überwiegend durch Steuern oder Pflichtbeiträge finanziert. Das wird allerdings seitens der EU stark attackiert. Wir meinen, die Sozialsysteme sollten nicht weiter abgebaut und den Finanzmärkten übertragen, sondern im Gegenteil als ein wesentlicher Grundbestandteil des europäischen Sozialmodells gefestigt und weiter ausgebaut werden. Ziel ist die vollständige Finanzierung lebensstandardsichernder gesetzlicher Sozialsysteme durch paritätisch aufgebrachte Beiträge und/oder Haushaltsmittel. Letzteres kann beispielsweise durch europäische Vereinbarungen und schließlich auch Richtlinien geschehen, die eine öffentlich finanzierte Mindestversorgung sichern und zur Finanzierung alle Einkommen, also auch Kapital- und Vermögenseinkommen, heranziehen.

Besteuerung von Kapitalerträgen und Unternehmensgewinnen

Ein stabiler europäischer Finanzmarkt erfordert eine abgestimmte Steuerpolitik in Bezug auf Kapitalerträge und Unternehmensgewinne. Dabei müssen Steuerkonkurrenz und Steuererosion vermieden werden. Bei der Zinsbesteuerung wären eine europäische Harmonisierung der Besteuerung und die Abführung an den EU-Haushalt im Zuge einer Reform des Eigenmittelsystems die beste Lösung. Solange dies nicht durchgesetzt werden kann, sollte die EU zumindest verbindlich verabreden, erstens die Inländer diskriminierende Steuerbefreiung ausländischer Kapitalanleger zu beenden und zweitens auf eine schnelle Einführung von Kontrollmitteilungen gegenüber den Finanzämtern hinarbeiten, diese Einführung also nicht von der Kooperation dritter Staaten abhängig machen. Eine einheitliche europäische Regelung, bei der die Mitgliedsländer nicht gegeneinander ausgespielt werden können, wird die Funktionsfähigkeit des europäischen Kapitalmarktes deshalb nicht beeinträchtigen, weil erstens die Liquidität auf diesem Markt groß ist (und daher eine gewisse Abwanderung nicht nur verkraftet werden kann, sondern möglicherweise zur Stabilisierung günstig ist), und weil zweitens die EU auch nach Durchsetzung der Zinsbesteuerung einer der wenigen Wirtschaftsräume mit stabilen Anlageperspektiven für langfristig orientierte Investoren bleiben wird.

Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen kann auf absehbare Zeit nicht harmonisiert, sie kann und sollte aber so gestaltet werden, dass ausschließlich steuerlich bedingte Kapitalflüsse vermieden werden. Schritte dazu wären die Harmonisierung der Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbesteuerung sowie die Einführung des Sitzlandsprinzips mit Anrechnung von im Ausland gezahlten Steuern. Erstere dient der Verbesserung der Transparenz über die tatsächliche Belastung von Unternehmensgewinnen, letztere vermeidet die Verlagerungen von Tochtergesellschaften ins Ausland aus steuerlichen Gründen. Bei Einführung des Sitzlandprinzips würde der gesamte Gewinn eines Konzerns, wo auch immer er ausgewiesen wird, im Mutterland mit dem Steuersatz des    Mutterlandes versteuert, wobei von der Steuerschuld im Mutterland bereits im Ausland gezahlte Gewinnsteuern abgezogen werden. Durch eine solche Regelung wird es ökonomisch uninteressant, Gewinne in eigens zu diesem Zweck gegründeten Tochtergesellschaften in Niedrigsteuerländern auszuweisen. Eine Verlagerung von Unternehmenshauptsitzen in Niedrigsteuerländer wird dadurch allerdings nicht verhindert. Hiergegen sind weitergehende Kooperationsmaßnahmen wie die Einführung von Mindestsätzen bei der Körperschaftssteuer erforderlich.

Erweiterte Regulierung der institutionellen Investoren

Da institutionelle Investoren und Rating-Agenturen durch ihre Anlagepolitik und Bewertung großen Einfluss nicht nur auf einzelne Unternehmen, sondern auch auf Branchen und – insbesondere kleinere – Länder ausüben, sollten sie gesellschaftlicher Kontrolle unterliegen. In den Aufsichtsgremien sollten Gewerkschaften sowie Umweltverbände und entwicklungspolitische Organisationen vertreten sein. Die Anlagetätigkeit ist nach sozialen, ökologischen und entwicklungspolitischen Kriterien zu bewerten und auszurichten. Die bisherige Beschränkung der Anlagetätigkeit im Gesetz über Kapitalanlagegesellschaften zielt ausschließlich auf den ökonomischen Schutz der Anleger. Die internationale Koordination bezüglich des Ratings beschränkt sich bislang auf ökonomische Bonitätsforderungen. Ihnen sollten soziale und ökologische Bonitätsanforderungen zur Seite gestellt werden. Die Berichtspflicht der Unternehmen und institutionellen Anleger sollte um ökologische, soziale und entwicklungspolitische Aspekte erweitert werden, wie sie auch von der „Global Reporting Initiative“ entwickelt wurden. In diesem Zusammenhang sollte auch die jüngste deutsche Regelung korrigiert werden, nach der Unternehmen, die einmal erklärt haben, Nachhaltigkeitskriterien bei ihrer Anlagepolitik nicht zu berücksichtigen, für die Zukunft von jeder Berichtspflicht befreit sind. Es ist auch sinnvoll, Anlagen in ökologisch/sozial fortschrittlichen Unternehmen steuerlich zu fördern, Anlagen in Unternehmen dagegen steuerlich zu diskriminieren, deren Aktivität hohe gesellschaftliche Kosten oder Risiken mit sich bringt.

Makropolitik zur Stabilisierung des europäischen Finanzmarktes

Instabilitäten, Krisen und spekulative Turbulenzen an den Finanzmärkten sind durch verfehlte Makropolitiken in der EU teilweise verursacht, zumindest aber verstärkt worden. Die fundamentalistischen Bestimmungen hinsichtlich der Haushaltspolitiken der Mitgliedsländer und der Geldpolitik der nationalen Notenbanken und dann der Europäischen Zentralbank haben das Wachstum gebremst und den Aufbau von nicht real investierbaren Liquiditätsüberschüssen gefördert. Deren Ausweichen auf die Finanzmärkte hat einen Beitrag zur spekulativen Überhitzung geleistet, dem die Krise folgte.

Eine vernünftigere Makropolitik würde demgegenüber auch die Bedingungen für einen stabilen europäischen Finanzmarkt verbessern, der weniger durch güterwirtschaftlich funktionslose Überschüsse und mehr durch reale Investitionsperspektiven und solide Chancen zur langfristigen privaten Vermögensbildung gekennzeichnet ist. Makropolitik zur Förderung einer stetigen Entwicklung sowie eines Umbaus in Richtung auf ökologisch verträgliche Produktions- und Konsumstrukturen führt zu auch für Finanzmärkte stabilen Rahmenbedingungen. Wichtig sind eine Korrektur der Geldpolitik der EZB durch Übernahme wachstums- und beschäftigungspolitischer Verantwortung und eine Änderung der Haushaltspolitiken der EU und der Mitgliedsländer durch Abkehr vom Fetisch des Haushaltsausgleichs zugunsten einer verbindlich koordinierten Politik für Vollbeschäftigung und sozialen Zusammenhalt. Das würde nicht nur diesen beiden Zielen unmittelbar zugute kommen, sondern auch wesentliche Ursachen für die Instabilität der Finanzmärkte beseitigen. Ein solches Herangehen könnte das angelsächsische Modell der „Herrschaft der Finanzmärkte“ zurückdrängen und die Finanzmärkte ihrerseits in ein eigenständiges europäisches Entwicklungsmodell einbinden, dessen demokratische, soziale und ökologische Eckpfeiler allerdings noch erheblich gestärkt werden müssten.



1 Vgl. hierzu Huffschmid AG 1 14/152 und 14/152a.

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