*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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11.3.5.2     Globalisierungsbedingter Strukturwandel auf dem deutschen Arbeitsmarkt

11.3.5.2.1  Anstieg der Qualifikations­ anforderungen

Ein Zusammenhang zwischen Globalisierung und Arbeitsmarkt liegt für die Enquete-Kommission in der vertieften internationalen Arbeitsteilung und einem daraus resultierenden beschleunigten Strukturwandel. Mit diesem Strukturwandel haben sich gleichzeitig die Qualifikationsanforderungen an die nachgefragte Arbeitsmenge verändert: Arbeitsintensive und geringqualifizierte Tätigkeiten im Industriebereich wurden in den letzten zwanzig Jahren verstärkt abgebaut und teilweise durch eine Nachfrage nach hochqualifizierten Tätigkeiten ersetzt. Die diesbezüglichen Handlungsempfehlungen des Endberichts gehen in die richtige Richtung. Diese berücksichtigen jedoch nicht, dass die Situation durch einen gesunkenen Einsatz des Staates und der Unternehmen für die Weiterbildung mit verursacht und verschärft wird. Stattdessen wird verstärkt an die Eigenverantwortung des Individuums appelliert, ohne dass überhaupt die Bedingungen bestehen, die jede und jeden in die Lage versetzen würden, diese Verantwortung wahrnehmen zu können. Ganz zu schweigen davon, dass diese Art der „Eigenverantwortung“ in zunehmendem Maße auf Eigenfinanzierung reduziert wird. In diesem Kontext führt die Weiterbildung lediglich zur Verschärfung der bildungsbedingten und sozialen Selektion.

Obwohl sich der Anteil der Erwerbstätigen ohne formalen Berufsabschluss, die an einer beruflichen Weiterbildung teilnehmen, zwischen 1979 und 1997 von vier auf 17 Prozent erhöht hat, war dies immer noch mit Abstand der geringste Anteil im Vergleich zu den Berufsgruppen mit einer „höheren“ beruflichen Qualifikation, wie z.B.    Facharbeitern (35 Prozent) oder leitenden Angestellten (56Prozent) (Kuwan 2000). Gerade im Zusammenhang mit dem Strukturwandel und der Bedeutung von Qualifizierung als Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit, hat daher die Herstellung von Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt für uns einen zentralen Stellenwert. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die niedrig qualifizierten Erwerbstätigen bevorzugt in der Weiterbildung gefördert werden. Insofern ist es aus unserer Sicht erfreulich, dass die Mehrheit der Enquete-Kommission empfiehlt, ein Bundesrahmengesetz für die Weiterbildung und einen gesetzlichen Anspruch auf Weiterbildung für Geringqualifizierte zu entwickeln. Mit dieser Empfehlung wird an den nicht eingelösten Anspruch aus der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre angesetzt, die Weiterbildung zu einer gleichberechtigten „4. Säule des Bildungswesens“ auszubauen. Wir sind der Auffassung, dass unter dem Aspekt der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse diese rahmengesetzliche Regelung des Bundes durch eine entsprechende Ergänzung des Artikels 75 GG abgesichert werden sollte. Zugleich ist die öffentliche Verantwortung für die Weiterbildung zu erhöhen, um eine kontinuierliche Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger zu ermöglichen und insbesondere Geringqualifizierten und Erwerbslosen einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung zu sichern. Hierbei ist zu gewährleisten, dass die öffentliche Finanzierung gestärkt wie auch die Beteiligung durch die Unternehmen an der Finanzierung ausgeweitet wird und es sind Kriterien und Standards für die Qualitätssicherung festzulegen.

Ein Rahmengesetz für Weiterbildung widerspricht keineswegs dem Gestaltungsanspruch durch die Tarifpartner, es schränkt auch nicht die Spielräume der Länder und Kommunen ein. Im Gegenteil. Ein Rahmengesetz soll bundesweite Prinzipien und Mindeststandards festlegen, die durch Länder und Kommunen ausgestaltet und weiterentwickelt werden können. Gewerkschaften und Betriebsräte werden gegenüber den Unternehmen gestärkt, die Ausgestaltung in Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen durchzusetzen. Dies setzt voraus, dass auch im Betriebsverfassungsgesetz ein Mitbestimmungsrecht in Qualifizierungsfragen verankert wird.

11.3.5.2.2  Arbeitszeit

Auf unser Drängen hin ist die skeptische Formulierung gegenüber einer gesetzlichen Überstundenbegrenzung entfallen und die Forderung nach Zeitsouveränität im Zusammenhang mit der Arbeitszeitflexibilisierung aufgenommen worden. Allerdings bleibt die entsprechende Empfehlung im Endbericht zum Abbau der Überstunden unverbindlich formuliert. Zum einen wird dies als nur „denkbar“ benannt, zum anderen bezieht sich die Forderung nach einer Begrenzung der Arbeitszeit ausschließlich auf die Jahresarbeitszeit.

Allerdings haben Appelle zum Überstundenabbau in der Vergangenheit und im Bündnis für Arbeit keinen Erfolg gehabt. Die Reduktion der Überstunden ist aber zu wichtig für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, als dass die Politik weiterhin auf einen freiwilligen Abbau hoffen sollte – rund zwei Milliarden bezahlter Überstunden entsprechen rein rechnerisch 1,2 Millionen Arbeitsplätzen. In einem ersten Schritt ließen sich so knapp zehn Prozent der geleisteten Mehrarbeit in neue Stellen umwandeln. Eine gesetzliche Begrenzung der Jahreshöchstarbeitszeit würde für diesen positiven Arbeitsmarkteffekt allerdings nicht ausreichen. Wir halten deshalb eine Begrenzung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit für zwingend notwendig. Dafür spricht auch, dass die vergangene Produktivitätssteigerung ohne Umwandlung in Arbeitszeitverkürzung oder Lohnsteigerung erheblich zur Massenarbeitslosigkeit beigetragen hat. Die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit widerspricht nicht der Tarifautonomie. Im Gegenteil. Die Kluft, die bereits jetzt zwischen gesetz­ licher wöchentlicher Höchstarbeitszeit und durchschnitt­ licher tarifvertraglich vereinbarter Arbeitszeit besteht, erschwert den Gewerkschaften bereits heute, eine wöchentliche Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen. Insofern würde durch eine gesetzliche Regelung der Spielraum der Gewerkschaften, weitere Arbeitszeitverkürzung auf tarifvertraglicher Basis zu vereinbaren, erweitert.

Die im Endbericht angeführten Empfehlungen zur eingeschränkten Förderung von Langfrist-Arbeitszeitkonten bedürfen unsere Ansicht nach dringender Ergänzungen, welche die Ansprüche der Arbeitnehmer allgemeinverbindlich festlegen sollen:

–    Zuschlagspflicht für Arbeitszeiten, die über die tarifvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit hinausgehen, auch wenn sie durch Zeitguthaben kompensiert werden;

–    Rechtsanspruch auf eine entgeltliche Umwandlung des Zeitarbeitskontos bei Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Betrieb bzw. bei Insolvenz;

–    Schutz des Zeitguthabens vor der Anrechnung auf Lohnersatzleistungen. Bisher wird im Falle einer Kündigung mit anschließender Arbeitslosigkeit die Umwandlung von Zeitguthaben in Entgelt von den Arbeitsämtern wie eine Abfindung behandelt und führt zu einer Minderung der Lohnersatzleistungen;

–    Sicherung der Zeitsouveränität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die Handlungsempfehlung im Endbericht zur verstärkten Hilfe bei der Existenzgründung ist nach unserer Ansicht keine sinnvolle Forderung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Insbesondere lässt sich dadurch kein Abbau der Arbeitslosigkeit bei „geringqualifizierten“ Personen erreichen. Wir befürchten vielmehr, dass durch einen solchen Ansatz eher der „informelle Sektor“ in Deutschland gestärkt würde. Unserer Ansicht nach ist der im internationalen Vergleich relativ geringe Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen nicht das Ergebnis zu geringer Hilfen zur Existenzgründung, sondern auf eine zu schlechte Geschäftsaussicht zurückzuführen, die sich unmittelbar aus der seit Jahren schwachen Binnenkonjunktur ergibt. Unterstrichen wird dieses durch die anhaltend hohe Anzahl der Unternehmensinsolvenzen in der Bundesrepublik Deutschland.




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