*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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   11.3.5.3   Stärkung der Binnenmarktorientierung

Der Bericht stellt zwar berechtigter Weise die wachsende Bedeutung einer internationalen Kooperation vor allem in der EU und einer Koordination der europäischen Makropolitik heraus, um der Standortkonkurrenz entgegenzuwirken. Im Endbericht werden aus dieser Perspektive Empfehlungen entwickelt, die auch für uns von zentraler Bedeutung sind. Es fehlen allerdings entsprechende wirtschaftspolitische Empfehlungen, die konkrete Schritte für eine verstärkte Binnenmarktorientierung insbesondere in den einzelnen Mitgliedsstaaten beinhalten müßten. Dabei lagen mit einem Gutachten (Scharpf 2001) durchaus interessante Analysen und Ansätze genau für diesen Aspekt vor.

Für uns stellt die primäre Ausrichtung auf die Erhöhung von Exporten einen wesentlichen Grund für den angeführten Verlust staatlicher Autonomie in der Arbeits- und Sozialpolitik dar. Jede wirtschaftliche Entwicklung benötigt eine ausreichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage. In Deutschland wird versucht, diese Nachfrage primär über die Ausweitung des Exports und eine Dominanz der deutschen Unternehmen auf dem Weltmarkt zu steigern.

Im Zuge der europäischen Integration sind nicht nur Industrie und Landwirtschaft, sondern auch die Energie- und Bauwirtschaft, der Luft-, Wasser-, Schienen und Straßengüterverkehr, die Post, Telekommunikation, die Finanzdienstleistungen und die unternehmensbezogenen Dienstleistungen dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt worden, ohne soziale Standards und Grundrechte zu sichern. In der Konkurrenz um Direktinvestitionen, verbunden mit der Drohung der Kapitalverlagerung steigt die Abhängigkeit von den Gewinnerwartungen der mobilen Investoren. Zur Stabilisierung der Aktienkurse, insbesondere zur Abwehr von Übernahmen erfolgen Entlassungen oder ein mittelfristiger Stellenabbau, wo früher regional- und beschäftigungspolitisch orientierte Lösungen angestrebt wurden (vgl. PDS-Minderheitsvotum, zu AG Finanzmärkte). Unter diesen Bedingungen haben transnationale Konzerne in der Vergangenheit den Druck auf Regierungen erhöht, um Deregulierungen durchzusetzen, soziale Standards und Rechte erodierten und der gewerkschaftliche Einfluss wurde geschwächt. Die Tarifautonomie, als Grundbestandteil sozialer Demokratie, wird in der politischen Diskussion vor allem von den konservativen und liberalen Kräften zunehmend angegriffen. Der soziale Konsens wurde weitgehend aufgekündigt und durch einen „Wettbewerbskorporatismus“ ersetzt, in dem alle sozialen und ökologischen Anforderungen an Unternehmen der Verbesserung der Weltmarktstellung untergeordnet werden. Die Reallohnsenkungen (seit 1993 um 6,4Prozent) führten nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern schwächten nur die Binnennachfrage.

Hinzu kommt, dass im Durchschnitt in den hochentwickelten Industrieländer die Beschäftigungsquoten (Anteil der tatsächlich Beschäftigten an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren) in den Branchen, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten sind, kontinuierlich von 41 Prozent (1970) auf 33Prozent Ende der neunziger Jahre abnahmen (vgl. Scharpf 2001:6). Die im Endbericht geforderten europäischen Mindeststandards und Mindestsozialeistungsquoten sind eine überfällige Reaktion auf die sozialen Probleme. Darüber hinaus halten wir jedoch Reformen für dringend notwendig, damit die Sozialbindung des Eigentums und von Unternehmen gestärkt wird sowie die Möglichkeit gewerkschaftliche und betriebliche Gegenmacht auch in den wettbewerbsintensiven Branchen zu organisieren, erweitert werden kann.

Obwohl alle hochindustrialisierten Länder in den wettbewerbsintensiven Branchen dem gleichen Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, geht aus dem angeführten Gutachten (Scharpf 2001) hervor, dass es erhebliche Unterschiede bei den Beschäftigungsquoten der Länder gibt: Der Anteil der Beschäftigten an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 Jahren lag im Jahre 1998 in der Schweiz, Norwegen, Dänemark, Japan, den USA und Großbritannien über 70 Prozent, in Belgien, Finnland, Frankreich und Italien dagegen unter 60 Prozent. Deutschland lag mit 60,5 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt von 66,5 Prozent (ebd.). Diese Unterschiede sind laut Gutachten auf die unterschiedlichen Entwicklungen in den Dienstleistungsbereichen zurückzuführen. Dänemark weist dort beispielsweise eine Beschäftigungsquote von 38,4Prozent auf, während Deutschland mit 28,1 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt (33,6 Prozent) blieb.

In den Industriegesellschaften wächst der Bedarf an sozialen, kulturellen und ökologischen Dienstleistungen. In den skandinavischen Ländern wurde hierzu die öffentliche Daseinsvorsorge umfassend ausgebaut: Der Staat stellt ein universelles Angebot von sozialen Dienstleis­ tungen für Familien mit Kindern, für Kranke, Behinderte und alte Menschen bereit, das einerseits die Familien von Pflege- und Betreuungsleistungen entlastet, Bildungsleis­ tungen verbessert und andererseits eine erhebliche Zahl von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor geschaffen hat. Die Beschäftigungsquote im öffentlichen Sektor liegt in diesen Ländern mit 20-25 Prozent deutlich höher als in Deutschland mit 9,1 Prozent. Im Zuge dieser Entwicklung wurde auch die Frauenerwerbstätigkeitsquote signifikant erhöht. Sie liegt mit ca. 75 Prozent weit über der in Deutschland von 61,8 Prozent. Darüber hinaus wurden Dienstleistungen im personenbezogenen, eher lokal erbrachten und konsumierten Bereich ausgeweitet. In den anderen Industriestaaten werden soziale Dienste, wie beispielsweise die für den Erhalt der Gesellschaft unerlässlichen Pflege- und Betreuungsdienste, zu einem größeren Anteil entweder außerhalb des formellen Arbeitsmarktes in der Familie erbracht, oder über den Markt bezogen. Ein Teil der Länder, z.B. die USA, haben diese Dienstleistungen über einen Niedriglohnsektor organisiert. Diese Länder weisen eine höhere Beschäftigungsquote in privaten personenbezogenen Dienstleistungen und eine höhere Frauenerwerbstätigenquote aus als in Deutschland.

Während die positiven skandinavischen Erfahrungen bei der Beschäftigung im öffentlichen Dienstleistungssektor ausgeblendet werden, ist die politische Diskussion zunehmend vom Ausbau eines Niedriglohnsektors für private Dienstleistungen geprägt. Mit letztgenannten Lösungsan    satz befasst sich der Endbericht erfreulicher Weise im Ganzen eher kritisch. Wir teilen diese Sicht und fügen weitere kritische Argumente hinzu:

–    Die Aufnahme eines subventionierten Arbeitsplatzes im Niedriglohnsektor ist für den Betroffenen keine Alternative zu einem qualifizierten Arbeitsplatz, denn im „Mainzer Modell“ übersteigt die geförderte Lohnspanne zuzüglich der staatlichen Förderung kaum das Existenzminimum und schützt damit nicht vor Armut trotz Arbeit.

–    Eine Finanzierung aus den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit würde bedeuten, dass andere arbeitsmarkt­ politische Fördermaßnahmen abgebaut werden müssten. Damit würde sich der marginale Beschäftigungseffekt des „Mainzer Modells“ zur Bedeutungslosigkeit reduzieren.

–    Eine Bezuschussung oder Beitragsentlastung von Niedriglöhnen ist im Zusammenhang mit einem teilweise auftretenden Fachkräftemangel das falsche wirtschaftspolitische Signal und reduziert langfristig das Innovationspotential der Wirtschaft.

–    Eine Niedriglohnsubventionierung untergräbt den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. Er ist ein Anreiz, der die Polarisierung des Arbeitsmarktes verfestigt: Hier die durch den beschleunigten Strukturwandel gesuchten, hoch bezahlten und mit Normal­ arbeitsplätze ausgestatteten hochqualifizierten Arbeitnehmer, dort der geringqualifizierte Rest, der nur noch gering produktive Tätigkeiten ausführt, die deshalb nur niedrig bezahlt und vom Staat bezuschusst werden müssen, um die Existenzsicherung zu gewährleisten.

–    Die erforderlichen Leistungen werden auf diese Weise oftmals schlecht, inhuman oder einkommensabhängig und damit Einkommensschwache ausgrenzend erbracht.

Im Endbericht werden aus diesen negativen Effekten aber keine Konsequenzen gezogen bzw. Handlungsempfehlungen abgeleitet, um den sozialen und ökologischen Umbau ähnlich wie in den skandinavischen Ländern auch bei uns zu organisieren. Wir fordern deshalb ergänzend zum Endbericht nachhaltig wirkende öffentliche Investitionen in den Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und die gesellschaftliche Infrastruktur, die mit sozial und tariflich geschützten Arbeitsverhältnissen zu verbinden sind.

Ein Teil der höheren öffentlichen Ausgaben sollte in den Ausbau der kommunalen Infrastruktur fließen. Hierzu hat beispielsweise das Institut für Urbanistik ermittelt, dass der Investitionsbedarf der Kommunen die tatsächlich geleisteten Investitionen bei weitem übersteigt – für die Kommunen wird ein Investitionsbedarf von 650 Milliarden Euro errechnet. Demgegenüber liegt der Anteil der öffentlichen Bruttoinvestitionen – hierzu zählen die Ausgaben für die Infrastruktur – am Bruttoinlandsprodukt im Jahre 2002 voraussichtlich nur noch bei 1,6 Prozent. Im Jahr 1994 lag dieser Anteil noch bei 2,7 Prozent und Mitte der 60er Jahre bei fünf Prozent. Im Jahr 2001 sind die kommunalen Investitionen um 30 Prozent unter den Stand des Jahres 1992 gefallen. In der EU ist die Bundesrepublik das Schlusslicht. Denn in der EU betragen die Infrastrukturausgaben im Durchschnitt 2,5 Prozent des BIP und selbst in den USA liegt der Anteil der öffentlichen Bruttoinvestitionen bei 3,4 Prozent des BIP (ver.di Tarifbewegung 2002).

Empfehlung: Kommunales Infrastrukturprogramm

Wir empfehlen, dass Bund, Länder und Gemeinden ein Programm zur Infrastrukturentwicklung auflegen. Dabei geht es vorrangig um Stadt- und Dorferneuerung, öffentliche Bildungsstätten, Forschungseinrichtungen, sowie soziale und kulturelle Einrichtungen und um die Verbesserung der ökologischen Situation.

Empfehlung: Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor

Wir empfehlen den Aufbau eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors, in dem gesellschaftlich sinnvolle Arbeit mit öffentlicher Finanzierung vorwiegend von gemeinnützigen oder genossenschaftlichen Trägern geleistet wird. Ein Teil der notwendigen Mittel kann durch die Projekte und Unternehmungen selbst erwirtschaftet werden. Im ÖBS sollen tariflich bezahlte und unbefristete Arbeitsplätze geschaffen werden und er soll beispielsweise folgende Tätigkeitsfelder beinhalten:

–    Unterstützung gesellschaftlicher Selbstorganisation: Qualifizierung und Weiterbildung von Ehrenamtlichen aus Politik, Vereinen, Bürgerinitiativen, Dienstleistungsagenturen für Vereine, Unterstützung für Selbsthilfe und Nachbarschaftsprojekte, Entwicklung von Stadtteilkultur.

–    Verbesserung der öffentlichen Daseinsvorsorge: Altenpflege, Psychosoziale Beratungsgruppen, Schuldner- und Verbraucherberatung, Gemeinwesenarbeit und multikulturelle Projekte, Jugend- und Seniorenfreizeitprojekte, Breitensport.

–    Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur: Vorbereitende Arbeiten zur Entwicklung ökologisch verträglicher Naherholungsprojekte, Renaturierung von Biotopen und Entsiegelung von Flächen, Begrünung von Wohngebieten, Anlage und Unterhalt von Spiel- und Sportplätzen.

–    Förderung sozialer und ökologischer Innovationen: Wissenschafts- und Gesundheitsläden, Förderung ökologischer Produktinnovationen bis zur Marktreife, Ökologieberatung für Haushalte, Handwerk usw.

Empfehlung: Stärkung gewerkschaftlicher und betrieblicher Interessensvertretung

Stärkung von Binnenmarktorientierung und Beschäftigung setzen neben dem Ausbau öffentlicher Infrastruktur und Daseinsvorsorge Maßnahmen voraus, mit denen die Sozialbindung von Unternehmen auch in den wettbewerbsintensiven Branchen wieder verstärkt wird. Dies schließt u.a. die Mitbestimmung in bezug auf beschäf­ tigungssichernde Maßnahmen und bei Fusionen und    Übernahmen, die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und ein Verbandsklagerecht, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sowie das Verbot von Aussperrungen ein.




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