*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.1.4.1    Deutschland innerhalb der internationalen Dienstleistungs­ entwicklung

Mit einer gewissen Verspätung hat sich auch in Deutschland der Strukturwandel zur Dienstleistungsökonomie am Ende des letzten Jahrhunderts unübersehbar durchgesetzt. Der Streit, ob es in der Bundesrepublik eine Dienstleis-tungslücke gäbe, hat in den letzten Jahren die Expertendiskussion sehr stark beherrscht. Bezogen auf den Anteil von Dienstleistungstätigkeiten kann man sagen, dass die Bundesrepublik mit anderen Ländern in etwa gleichgezogen hat. Nach der sektoralen Gliederung hinkt sie zwar immer noch ein beträchtliches Stück hinter vergleich­ baren In-dustrienationen hinterher. Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus den letzten Jahren aber zeigen, dass in Bezug auf die Berufs- und Tätigkeitssystematik auch in der Bundesrepublik der Anteil der Erwerbstätigen, die mit Dienstleis­ tungsarbeiten befasst sind, ähnlich hoch ist wie in den USA oder vergleichbaren Mitwettbewerbern am Weltmarkt; der Anteil liegt in all diesen Ländern zwischen 70 und 75 Prozent. Das Problem der Bundes­ republik aber besteht darin, dass sich diese Entwicklung in Deutschland auf einem deutlich niedrigeren Niveau der Erwerbstätigkeit insgesamt vollzieht als etwa in den USA oder auch in vergleichbaren europäischen Ländern. Denn: Wäre in Deutschland die Beschäftigung insgesamt höher, so gäbe es auch mehr Beschäftigte, die Dienstleistungen erbrächten. Da dies aber nicht der Fall ist, gibt es doch eine Dienstleistungslücke (vgl. 4.2.2.2). Diese Lücke bezieht sich nicht allein auf die personengebundenen Dienstleistungen, die in der beschäftigungspolitischen Diskussion der letzten Jahre oft im Vordergrund gestanden haben, sondern sie betrifft die unterschiedlichen Bereiche der Dienstleistungswirtschaft.

Die Suche nach den Ursachen dieser Lücke soll im Folgenden auf die wissensintensiven und unternehmens- bezogenen Dienstleistungen konzentriert werden – und zwar sowohl wegen ihrer strategischen Bedeutung für die Beschäftigungsentwicklung insgesamt als auch wegen der Tatsache, dass sie im besonderen Maße dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Zur Beantwortung der Frage nach der Stellung Deutschlands in der internationalen Entwicklung der wissensintensiven Dienstleis­ tungen kann man auf unterschiedliche Indikatoren    zurückgreifen. Im Folgenden sollen die Anteile an den Erwerbstätigen sowie Daten der Außenhandelsbilanzen herangezogen werden.

Die wissensintensiven Dienste sind von allen Beschäftigungsbereichen in den 90er Jahren der am stärksten expandierende Bereich. Er erhöhte seinen Anteil an der Gesamtheit der Erwerbstätigen um über sechs Prozentpunkte auf etwa 24 Prozent der Gesamterwerbstätigen (s. Abbildung3-2).

Besonders dynamisch entwickeln sich hierbei die unternehmensbezogenen wissensintensiven Dienste. Sie nehmen im Langzeitvergleich zwischen 1980 und 1997 in Westdeutschland um 112 Prozent zu und steigern ihren Anteil an allen Beschäftigen in diesem Zeitraum von 2,2 Prozent auf 4,4 Prozent. Zieht man einen noch längeren Zeitraum für die Entwicklung der Erwerbstätigkeit insgesamt heran, so zeigt sich, dass zwischen 1977 und 1999 der primäre Sektor um 20 Prozent, der sekundäre Sektor um 15 Prozent seiner Beschäftigten schrumpft, der tertiäre Sektor insgesamt um 42Prozent zunimmt, die unternehmensbezogenen Dienste sogar um 162 Prozent. In den 90er Jahren stagniert der Anteil der nicht-wissensintensiven Dienstleistungen an den Erwerbstätigen insgesamt bei etwa 42 Prozent.

Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass der Anteil der wissensintensiven Dienstleistungen in der Bundes­ republik sich in den 90er Jahren in etwa mit der gleichen Dynamik entfaltet wie in den USA und Frankreich, aber von einem deutlich niedrigeren Ausgangsniveau  ausgehend (s. Abbildung 3-2).Analysiert man die aktuellen Austauschbeziehungen von Dienstleistungen, so wird man feststellen müssen, dass im Gegensatz zum Produktionssektor, wo Deutschland immer noch eine Spitzenposition einnimmt, im Bereich der Dienstleistungen die Bilanz im internationalen Dienstleistungsverkehr negativ ist. Es ist aufschlussreich, dass die beiden noch am stärksten industriell geprägten Volkswirtschaften Deutschland und Japan die höchste Negativbilanz im Dienstleistungsverkehr aufweisen, während die USA eine deutliche Positiv­ bilanz zeigt (+ 5,4 Prozent gegenüber jeweils – vier Prozent für Deutschland und Japan).

Trotz nicht unerheblicher Steigerung in der Wertschöpfung des Dienstleistungssektors insgesamt und wesentlicher einzelner Dienstleistungssektoren verschlechtert sich die Außenhandelsbilanz der Bundesrepublik mit Dienstleis-tungen insgesamt zwischen 1991 und 2001 um 266 Prozent, für die hier besonders interessierenden wissensintensiven Dienstleistungen verschlechtert sich die Bilanz noch in deutlich höherem Maße. Man kann gegenüber den Daten der Außenhandelsbilanz sicherlich einwenden, dass hier Veränderungen der Währungsparitäten etwa zwischen    Dollar und DM nicht eingingen. Dies mag die Größenordnung der Veränderung etwas relativieren, nach Auffassung von Experten kann die Bereinigung nicht über die generelle Richtung der Verschlechterung der Dienstleistungsbilanzen hinweg täuschen. Im Vergleich mit anderen Ländern fällt im Laufe der 90er Jahre der Dienstleistungssaldo (ohne Touristik) in Deutschland (s.Ab­ bildung 3-3). Selbst der Anteil der Dienstleis­ tungen am Gesamtexport hat in diesem Zeitraum eine fallende Tendenz im Gegensatz zu den USA und Großbritannien.

Es wird häufig gesagt, dass diese Bilanzen die tatsächliche Situation zu Ungunsten der Bundesrepublik verzerren, weil ein hoher Dienstleistungsanteil – ca. 40 Prozent am eigentlichen Produktwert – in den industriellen Exportgütern enthalten sei und dieser Anteil an Dienstleistungen nicht in die Bilanz mit einfließe. Der hohe Außenhandelsexport enthalte also mehr „versteckte Dienstleistungswerte“ als bei weniger starken industriellen Exportnationen. Das Argument ist richtig, wiegt aber den möglichen Beschäftigungszuwachs in der Dienstleistungsbilanz nicht auf. Tatsächlich ging die Beschäftigung in den 90er Jahren trotz eines zunehmenden Anteils an Dienstleistun- gen in den Industrieprodukten in der Industrie insge- samt und auch in den wissens- und/oder FuE-intensiven Indus­ trien deutlich zwischen 30 und 35 Prozent zurück. Insofern ist die strategische Empfehlung, statt auf Export von Dienstleistungen (Export of Services) auf die Dienstleistungsunterstützung von Exportgütern (Servicing Exports) zu setzen, nicht unproblematisch. Will man eine dauerhafte Verbesserung der Beschäftigungssituation, muss man beides intensiv betreiben. Die Frage, wie man die Bilanz im Dienstleistungssektor, insbesondere in den wissensintensiven unternehmensbezogenen Diensten verbessern kön­ ne, bleibt also aktuell. Ihre Beantwortung setzt zunächst eine Klärung der Ursachen für die Schwäche der wissens-/unternehmensbezogenen Dienstleistungen voraus. Hier lassen sich drei zentrale strukturelle Standortfaktoren identifizieren (Ochel, zitiert nach Baethge 2002), von denen der erste schwerer zu beeinflussen ist als die beiden anderen:

1.   Die internationale Marktstruktur in den unternehmensbezogenen Dienstleistungen ist nicht zufällig durch amerikanische und britische Unternehmen dominiert. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass zum einen das angelsächsische Handelsrecht und die Bilanzierungsvorschriften frühzeitig internationale Anerkennung fanden, zum anderen die USA bis in die 80er Jahre hinein das führende Land in der Mikroelektronik schlechthin war und damit die Standards festlegen konnte, innerhalb derer sich der Markt    für die DV-Dienstleistungen weltweit entwickelte. Wenn heute unter den 50 größten Unternehmen der Welt im Bereich wirtschaftsnaher Dienstleistungen (Rechts-, Steuer-, Unternehmensberatung, Wirtschaftsprüfung, Markt- und Meinungsforschung, Werbeagentur) sich kein deutsches Unternehmen befindet, spricht dies eine deutliche Sprache über die Wirkung der historischen Strukturen. Nur ein deutscher Unternehmensberater hat sich zu einem großen, multinational tätigen Unternehmen seiner Branche entwickelt.

Die beiden anderen Argumente lassen sich auf den Nenner bringen: Die jahrzehntelange Stärke der Industrie ist aufgrund der spezifischen Industrialisierungstradition und -schwerpunkte der deutschen Wirtschaft mit einer Schwäche in den industriebezogenen Diensten erkauft. Dies liegt an zwei Punkten:

2.   Die Spezialisierung Deutschlands auf Industriegüter beeinträchtigte die Dienstleistungsentwicklung insgesamt und somit auch die wirtschaftsnahen Dienste. Die starke Ausrichtung auf industrielle Leistungsfähigkeit und technologische Innovation führte dazu, dass anderen Dienstleistungsfeldern zu wenig Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Die Folge: Der Sektor blieb in seiner Entwicklung hinter seinen Möglichkeiten zurück. Entsprechend sind sowohl die Institutionen sowie der wirtschaftspolitische Ordnungsrahmen noch stark auf die Bedingungen einer Industriegesellschaft ausgerichtet.

3.   Das deutsche Modell industrieller Produktion zeichnete sich ein Jahrhundert lang durch eine hohe Fertigungstiefe und „Inhouse“-Erstellung von Dienstleis­ tungen aus, was sich durchaus positiv auf ihre interne Qualität und Wirkung ausgewirkt haben mag. Gleichzeitig muss diese Struktur sich negativ auswirken, wenn es darum geht, Dienstleistungen zu verkaufen. Die heute sichtbar werdenden Grenzen der Entwicklungsfähigkeit unternehmensbezogener Dienstleistungen sind offensichtlich stark von den Pfeilern des „Modells Deutschland“ und der ihm eigenen Unternehmenskultur bestimmt, und deswegen sind sie nicht leicht zu korrigieren. Sie spiegeln eine Erfolgsgeschichte über lange Zeit wider. Sie machten Sinn, solange die Produktion das strategische Zentrum der Wirtschaft ausmachte und den höchsten Anteil an der Wertschöpfung hatte. Wo dies nicht mehr der Fall ist und wo Wissen, FuE, Marketing sowie Innovation in den modernen Industrien das entscheidende strategische Gewicht und einen zunehmenden Wertschöpfungsanteil haben, wird diese Struktur problematisch.

Die genannten Schwächen zwingen Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, Unternehmer und Betriebsräte einerseits, aber auch die Politik zu raschem Handeln. Man muss sich nur die Dimensionen der notwendigen Veränderungen klar machen, darf Effekte aber zugleich nicht von heute auf morgen erwarten und braucht einen langen Atem. Eine breite Verbesserung der Bedingungen für eine Stärkung von Qualität und Quantität wissensintensiver unternehmensbezogener Dienstleistungen ist nicht allein wegen neuer Beschäftigungspotentiale, sondern auch wegen der Stabilisierung der Industrieexporte wichtig.

Zunächst gilt, dass heute auch für den Verkauf von Indus­ trie­ gütern im Ausland das Konzept technischer Exzellenz nicht mehr ausreicht.18 Die produzierenden Unternehmen sollten sich vom Produktentwickler zum Problemlöser entwickeln. Produkte sind in Leistungen einzubetten, die dem Kunden helfen herauszuarbeiten, welches Produkt er braucht und wie er es bestmöglich nutzt. Hierdurch kann es zu einer Erhöhung der Kundenbindung kommen. Gerade bei vielen Exportgütern entsteht die Situation, dass indus-trielle Produkte nur noch mit zugleich komplementären Dienstleistungen zu verkaufen sind. Dies gilt etwa für höherwertige Anlagen und Industriegüter, die heute in der Regel nur mehr mit „Local Content“-Verträgen zu vertreiben sind. Die Industrie ist nicht mehr nur Produkthersteller, sondern zu einem servo-industriellen Komplex geworden.



18 Dies haben etwa Untersuchungen des Fraunhofer Instituts (ISI) sowie des IFO-Instituts ergeben.

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Abbildung 3-2


























Abbildung 3-3