*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.1.4       Wissensorientierte Dienstleistungen17

Deutschland ist bis zur Gegenwart in besonders ausgeprägter Weise eine Industriegesellschaft. Dies hat auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften eine starke Konzentration auf die industrielle Produktion und eine jahrzehntelange Vernachlässigung der Dienstleistungsentwicklung nach sich gezogen – mit der doppelten Konsequenz, dass wir – bezogen auf die Entwicklungsdynamik des Dienstleistungssektors – auf sehr viel weniger wissenschaftliche Expertise zurückgreifen können als für die Industrie und dass die amtliche Statistik die Dienstleis­ tungsprozesse höchst unzulänglich abbildet. Obwohl dieser Sachverhalt seit Jahren bekannt ist und eine Verbesserung der amtlichen Statistik von vielen Experten immer wieder angemahnt worden ist, hat sich in der Realität wenig verändert. Die Restriktionen der statistischen Basis beeinträchtigen auch Expertisen für die Politik.

Für die wenigen klassischen wissenschaftlichen Ansätze zur Dienstleistungsgesellschaft und -ökonomie ist insbesondere das Thema der Internationalisierung von Dienstleistungen randständig geblieben und gewinnt erst in jüngster Vergangenheit mehr Aufmerksamkeit, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Aktivitäten der WTO für eine Liberalisierung des Handels mit Dienstleistungen (GATS). Dienstleistungen galten in der ökonomischen wie in der sozialwissenschaftlichen Debatte bis weit in die 80er Jahre hinein als wenig rationalisierbar und stark ortsgebunden. Beide Annahmen – hohe Rationalisierungsresistenz und starke Ortsgebundenheit – begründen die „große Hoffnung“ der Beschäftigungspolitik, dass die Dienstleistungen die rationalisierungsbedingten Arbeitsplatzverluste im industriellen Sektor durch Ausweitung tertiärer Beschäftigung kompensieren werden.

Beide Annahmen waren vermutlich selbst in der Vergangenheit nicht ganz zutreffend. Man denke etwa in der Büroarbeit an den Übergang von der handschriftlichen zur maschinellen Bearbeitung von Texten oder den Übergang von der schriftlichen zur telefonischen Kommunikation sowie an die Kreditwirtschaft, die sich schon vor Jahrhunderten internationalisiert hat. Spätestens seit dem Siegeszug der neuen IuK-Medien aber sind beide Annahmen endgültig obsolet geworden.

   Im Zusammenhang mit der Globalisierung ist die Frage des Ausmaßes von Standortgebundenheit oder -ungebundenheit von Dienstleistungen von besonderem Interesse. Die Annahme basiert auf der Vorstellung von der Einheit von Herstellung und Konsum einer Dienstleistung (uno actu-Prinzip), die auch heute für viele Dienstleistungen immer noch eine gewisse Gültigkeit hat, so z.B. für viele Beratungs-, Gesundheits-, Bildungs- und Pflegedienstleis­ tungen.

Für zunehmend mehr Dienstleistungen aber wird durch die Anwendung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologie die Standortgebundenheit und die räum­ liche Einheit von Produktion und Konsum von Dienstleis­ tungen weitgehend aufgehoben. Durchsetzung und Fortentwicklung der IuK-Technologien setzen völlig neue Bedingungen für die räumliche und institutionelle Verteilung von Dienstleistungstätigkeiten und für die globale Konkurrenz in den Dienstleistungsangeboten, wie sie noch vor einem Jahrzehnt kaum vorstellbar waren. Dies ist nicht so zu verstehen, dass das Internet und die neuen Tele­ kommunikationsmedien räumliche Aspekte vollkommen gleich­ gültig machten und dass es schnell zu einer globalen virtuellen Dienstleistungswelt käme, in der räumliche Bindungen von Dienstleistungsprozessen keine Rolle mehr spielten. Aber es kommt zu einer neuen Kombination von virtuellen und an den physischen Raum gebundenen Prozessen. Man kann sich diesen Zusammenhang an den Finanzdienstleistungen klar machen: Obwohl kein anderer Bereich so sehr globalisiert ist wie die Finanzdienstleis-tungen, behält die räumliche Nähe eine hohe Bedeutung, weil man bei den sensiblen Finanzgeschäften als Kunde den Finanzdienstleistern ins Auge schauen möchte und eine Vertrauensbasis durch Face-to-face-Kommunikation sichern will. Die Transferierungsprozesse kann man computerisieren, die Entscheidungsprozesse kaum. Ein Teil der Dienstleistungen, insbesondere solche der Information und des Zahlungsverkehrs, kann über das Internet weltweit abgewickelt werden, während ein anderer Teil, der auf Beratung zielt, meistens auch physische Kontaktmög­ lichkeiten erfordert. Im Resultat führt eine derartige Kombination von Internet- und physisch gebundenen Dienstleis­ tungen dazu, dass es in den wichtigen Finanzdienstleistungszentren der Welt zu einer Ballung auch physischer Präsenz der Global Player der Finanzdienstleis­ tungen kommt.

Insofern ist auch das Bild der „flüchtigen Dienstleistungen“ die gegen die bodenständigen Dienstleistungen stehen, nicht ganz richtig. Es trifft gleichwohl den wichtigen Sachverhalt, dass es bei einer Reihe von wissens- und kommunikationsintensiven Dienstleistungen zunehmend zu globalen Verteilungen von Tätigkeiten und Angeboten kommt. Dieser Sachverhalt ist selbstverständlich nicht nur durch die Informationstechnik bedingt, sondern basiert auf der verstärkten Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen.

Der Grad der Raumgebundenheit von Dienstleistungen hängt von ihren Eigenschaften ab. Entsprechend sind unterschiedliche Dienstleistungssektoren auch unterschiedlich stark dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Handel, Hotel und Gaststätten sowie Reinigungsgewerbe beispielsweise sind dies weniger, informations- und wissensintensive Dienstleistungen sind dem internationalen Wettbewerb demgegenüber in besonderer Weise ausgesetzt. Das sind die Dienstleistungsbereiche, in denen die deutsche Dienstleistungswirtschaft relativ schwach ist und vor allem im letzten Jahrzehnt im internationalen Handel an Boden verloren hat. Dies ist beschäftigungspolitisch besonders prekär, weil die wissensintensiven Dienstleistungen strategische Bedeutung für die Entwicklung sowohl von Unternehmen als auch von anderen personenbezogenen Dienstleistungen haben; letzteres vor allem deswegen, weil sie zumeist hochbezahlt sind, so dass von ihnen auch verstärkt eine Nachfrage nach personengebundenen Dienstleistungen ausgehen kann.



17 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Referat von Baethge vor der Enquete-Kommission „Globalisierung“ (Baethge 2002).

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