*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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4.7.3       Öffentliche Daseinsvorsorge

Mit der Einigung auf eine neue Welthandelsrunde bei der WTO-Ministerkonferenz im November 2001 in Katar treten auch die im Frühjahr 2000 begonnenen Dienstleis­tungsverhandlungen in eine intensive Phase ein. Dabei geht es um die Marktöffnung europäischer Dienstleis­ tungssektoren für die WTO-Mitgliedsländer sowie um die Gleichbehandlung inländischer und ausländischer Dienstleistungsanbieter. Die angestrebte Globalisierung der Dienstleistungsmärkte benötigt eine klare Marktordnungsregelung für die Behandlung von privaten und öffentlichen Diensten. Die angestrebte Regelung liegt noch nicht vor. Sie ist deshalb wichtig, weil die Europäische Union international über Rechte als auch Verpflichtungen mit den WTO-Mitgliedsländern verhandelt.

Die in EU-Mitgliedsstaaten ergriffenen Maßnahmen zum Schutz des Gemeinwohls sind als potenzielle Marktzugangsbarrieren kritisiert worden. Artikel 86 des EG-Vertrags bestimmt, dass Unternehmen, die mit der Bereitstellung von gemeinwohlorientierten Dienstleistungen betraut sind, den europäischen Wettbewerbsregeln unterworfen sind.

Im Zuge der Privatisierungs- und Liberalisierungsentwicklungen in der EU wurden insbesondere in den politischen Diskussionen zunehmend Befürchtungen hinsichtlich der Versorgungssicherheit und -qualität geäußert. Aus diesem Grunde wurde der Vertrag von Amsterdam um Artikel 1638 zur Daseinsvorsorge ergänzt. In der Mitteilung zur Daseinsvorsorge vom September 2000 stellte die Europäische Kommission fest, dass „wenn das Mitgliedsland der Meinung ist, dass die Marktkräfte bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Dienstleistungen möglicherweise nur in unzureichender Weise bereitstellen, konkrete Leistungsanforderungen festgelegt werden können, damit dieser Bedarf durch eine Dienstleistung mit Gemeinwohlverpflichtungen    befriedigt wird“. Sobald Einrichtungen bei der Erfüllung eines Gemeinwohlauftrags wirtschaftliche Tätigkeiten aufnehmen, sind die Binnenmarktregeln anzuwenden. Was jedoch im konkreten Fall wirtschaftliche Tätigkeiten sind, ist nicht immer bestimmbar.

Diese rechtliche Unsicherheit im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ist aus folgenden Gründen für die Liberalisierungsverhandlungen von Dienstleistungen in der WTO problematisch:

1.  Das GATS-Abkommen dereguliert innerstaatliche Regeln, welche Handelsbeschränkungen für ausländische private Anbieter darstellen. Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden, sind von dieser Marktöffnung geschützt, solange sie weder zu kommerziellen Zwecken noch im Wettbewerb mit einem oder mehreren Dienstleistungserbringern erbracht werden. Dies bedeutet, dass öffentliche Monopolbetriebe von den jetzigen Liberalisierungsverhandlungen ausgenommen sind. In Deutschland gibt es jedoch öffentliche Aufgaben, die sowohl von staatlichen und privaten Anbietern geleistet werden (z.B. Bildung). Hier ist nicht klar, ob diese Ausnahmeregelung noch wirken würde. Diese Rechtsunsicherheit bietet politischen Interpretationsspielraum für Urteile im WTO-Streitschlichtungsverfahren.

2.  Handelsbeschränkende Maßnahmen dürfen nur auf objektiven und transparenten Kriterien beruhen und müssen die Qualität der Dienstleistung sicherstellen. Welche politischen Ziele aber handelsbeschränkende Maßnahmen legitimieren können, ist noch ungeklärt.

3.  Die Europäische Union hat sich bei den allgemeinen Verpflichtungen, die für die GATS-Vertragsstaaten grundsätzlich in allen Dienstleistungssektoren gelten, drei wichtige Ausnahmeregelungen eintragen lassen.

(a) Dienstleistungen, die auf nationaler oder örtlicher Ebene als öffentliche Aufgaben betrachtet werden, unterliegen staatlichen Monopolen oder ausschließlichen Rechten privater Betreiber. Das heißt, die EU behält sich das Recht vor, den Marktzugang im Bereich öffentlicher Aufgaben einzuschränken.

(b) Die EU hat sich das Recht vorbehalten, Zweigstellen von Unternehmen aus Nicht-EU-Staaten, die nicht nach dem Recht eines Mitgliedsstaats errichtet worden sind, vom Prinzip der Inländerbehandlung auszunehmen.

(c) Im Falle von Subventionen steht auch Zweigstellen, die nach dem Recht eines Mitgliedsstaats errichtet worden sind, nicht das Recht auf Inländerbehandlung zu. Nach der auf zehn Jahre befristeten Ausnahmeregelung kommt die Europäische Union jedoch unter Druck, diese Bestimmung neu zu verhandeln. Die entsprechende Regelung wurde nämlich im Jahr 1995 beschlossen, sodass Neuverhandlungen vor der Tür stehen.

Zur Frage, in welchen Bereichen die Wettbewerbsregeln und Binnenmarktvorschriften des EU-Vertrages nicht zur Anwendung kommen, liegen mittlerweile einige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes vor. Danach sind die nationalen Bildungssysteme und die Pflichtmitgliedschaft in Grundversorgungssystemen der sozialen Sicherheit, sofern kein Gewinnzweck verfolgt wird, sowie die nicht-wirtschaftlichen Tätigkeiten von Gewerkschaften, politischen Parteien oder Kirchen dezidiert ausgenommen. Daneben zeichnen sich Bereiche wie die Wasserver- und -entsorgung dadurch aus, dass deren Erbringung nach den Regeln der freien Marktwirtschaft nicht funktionieren kann. Die betreffenden „Güter“ stellen keine Handelsware im herkömmlichen Sinne dar, sondern ein Erbe, das geschützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss (Erwägungsgrund Nr. 1 der Richtlinie 2000/60/EUV zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik).

Gleichwohl bleibt nach dem derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts offen, welche Leistungen der Daseinsvorsorge tatsächlich dem EU-Vertrag unterliegen bzw. wie gemeinwohlorientierte Dienstleistungen unter dem Blickwinkel des Wettbewerbsrechtes zu beurteilen sind.

Der Europäische Rat von Lissabon ersuchte deshalb die Europäische Kommission, ihre Mitteilung über Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa aus dem Jahr 1996 im Einklang mit dem Vertrag zu überarbeiten. Der Bericht der Europäischen Kommission an den Europäischen Rat von Laaken über Leistungen der Daseinsvorsorge stellt einen wichtigen Schritt in Richtung Europäisches Sozial- und Gesellschaftsmodell dar. Aber auch der Artikel 16 des Vertrages von Amsterdam und der Artikel 36 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind weitere Schritte in diese Richtung.

Das Europäische Parlament hat in diesem Zusammenhang mit seiner Entschließung zur Mitteilung der Kommission „Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa“ die Europäische Kommission aufgefordert „rasch eine genaue und vergleichende Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen der Liberalisierung der Leistungen der Daseinsvorsorge vorzunehmen, bevor neue Liberalisierungsmaßnahmen eingeleitet werden“ (Europäisches Parlament 2001c)39. Des Weiteren weist das Europäische Parlament darauf hin, „dass Dienstleistungen im Gemeinwohl-Interesse den gleichberechtigten Zugang, Versorgungssicherheit, Kontinuität, hohe Qualität und demokratische Rechenschaftspflicht gewährleisten müssen.“40

Der Europäische Gewerkschaftsbund und der Europäische Zentralverband der öffentlichen Wirtschaft setzen sich für eine verbindliche Rahmenrichtlinie der Europäischen Union ein. Darin sollen die gemeinsamen Werte sowie die Grundsätze und Bedingungen der Leistungen der Daseinsvorsorge präzise ausgeführt werden. Unternehmen mit gemeinwohlorientiertem Auftrag haben hohen Qualitätsstandards zu genügen. Dazu zählen insbe    sondere die Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs für alle Nutzer zu erschwinglichen Preisen, die umfassende territoriale Abdeckung, die Kontinuität der Leistung auf qualitativ hohem Niveau, eine hohe Qualifikation des Personals, die Durchschaubarkeit der Tarife und Vertragsbedingungen sowie faire und effiziente Beschwerdeeinrichtungen für die Nutzer.



38 Art. 16 EGV: „Unbeschadet der Artikel 73, 86 und 87 und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen die Gemeinschaft und die Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befungnisse im Anwendungsbereich dieses Vertrages dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass sie ihren Aufgaben nachkommen können.“

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39 Forderung Nr. 2 des Entschließungsantrages.

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40 Forderung Nr. 4 des Entschließungsantrages. Gemeinwohlorientierte Dienstleistungen werden im EU-Vertrag auch als „Dienstleistungen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“ bezeichnet.

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