*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

 zurück weiter  Kapiteldownload  Übersicht 


5.1.3       Auswirkungen der Wissens­ gesellschaft auf die Beschäftigungs­ entwicklung und die Arbeitswelt

Ein weiteres Hauptmerkmal des beschriebenen Strukturwandels ist in der langfristigen Perspektive die Verschiebung der Beschäftigtenstruktur zugunsten der höher Qualifizierten in allen Wirtschaftszweigen, während die Beschäftigung von Personen ohne Ausbildungsabschluss immer stärker zurückgeht (vgl. Kapitel 4.3.2).Selbst in der Industrie, die in den letzten 15 Jahren deutlich Beschäftigung verloren hat, zeigt sich eine absolut wachsende Nachfrage nach Hochschulabsolventen. In den 90er Jahren lagen die durchschnittlichen jährlichen Steigerungsraten der Beschäftigung von „knowledge workers“ in den EU-Mitgliedstaaten und den USA bei 3,3Prozent. Die „service workers“ nahmen pro Jahr um 2,2 Prozent zu, die „management workers“ um 1,6Prozent, die „data workers“ um 0,9 Prozent. Die Anzahl der in der Güterproduktion Tätigen reduzierte sich dagegen im gleichen Zeitraum pro Jahr um durchschnittlich 0,2Prozent (OECD 2001f: 38). In Deutschland waren im Jahr 2000 in Unternehmen der Informationstechnik und Telekommunikation insgesamt 794000 Menschen beschäftigt, vier Prozent mehr als 1999. Im Jahr 2001 wurde eine Beschäftigungszahl von 836000 erwartet (Kreklau 2001b: 57). Die Unternehmen der IuK-Branche haben im Jahr 2000 in Deutschland 75000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Die Beschäftigung in der IuK-Branche wuchs damit im Vergleich zum Vorjahr um 10,1Prozent auf 820000 Stellen. In den Jahren von 1995 bis 2001 wurden ca. 190000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen (Bundesregierung 2002a: 6).

In der ersten Hälfte des Jahres 2000 konnten in Deutschland rund 93000 Stellen für IKT-Fachkräfte nicht besetzt werden, davon entfielen ca. 74000 auf Hochschulabsolventen (Licht 2001: 13f.). Trotz des konjunkturellen Einbruchs der „New Economy“ seit Anfang 2000 sind die Potenziale dieser Branche mittelfristig noch nicht ausgeschöpft, die gesamtwirtschaftliche Bedeutung dieses Sektors nimmt weiter zu (Kreklau 2001b: 57). Ökonomische Analysen und Plausibilitätsüberlegungen machen für diesen Sektor die Annahme realistisch, „für die Jahre bis 2015 von einem jahresdurchschnittlichen Wachstum des Beschäftigungsvolumens von etwa 1,5 bis 2,5 Prozent auszugehen“ (Schönig 2001: 103). In Folge dieser Wissensintensivierung der Wirtschaft kommt dem Qualifikationsniveau der Erwerbspersonen eine steigende Bedeutung für die langfristige Erhaltung der technologischen Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu. Denn Wissen und Qualifikationen in einer Volkswirtschaft determinieren ganz wesentlich ihre Entwicklungsmöglichkeiten und ihre internationale Wettbewerbsposition und spielen damit für die langfristige Perspektive der Erhaltung und Stärkung der technologischen Leistungsfähigkeit eine zentrale Rolle (Licht 2001: 11).

Der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft bleibt naturgemäß nicht ohne gravierende Folgen für die Arbeitswelt. Das traditionelle System der Erwerbsarbeit verändert sich grundlegend, sowohl in Bezug auf das bisherige starre Raum-Zeit-Gefüge der Arbeitswelt, als auch in Bezug auf die Arbeitsformen und Arbeitsverhältnisse (Sommer 2001: 19). Alte, vertraute Kategorien, wie das Normalarbeitsverhältnis, die Homogenität von Sektoren, die inhaltliche Stabilität von Berufen, die normierende Bedeutung von Qualifikationsebenen werden verschwimmen und sich neu entwickeln. Die klaren, relativ dauerhaften und hierarchisch organisierten Betriebs- und Arbeitsstrukturen werden durch immer flexiblere Formen von Berufstätigkeit ersetzt. Vernetzte bzw. virtuelle Un­ternehmen mit temporären Organisationsformen werden zunehmen (BMWi 2001b: 16). Man kann vier große sich wechselseitig beeinflussende Trends feststellen, die die etablierten Strukturen der industriegesellschaftlich geprägten Arbeitswelt verändern (van Haaren, Schwemmle 1997: 98):

–    Forcierte Rationalisierung von Arbeit

–    Beschleunigte Globalisierung von Arbeit

–    Räumliche und soziale Zersplitterung von Arbeit

–    Erleichterte Flexibilisierung von Arbeit.

Die neue Vielfalt unterschiedlicher Varianten der Selbstständigkeit lässt die Grenzen zwischen abhängiger    Beschäftigung und neuer Selbstständigkeit weiter verschwimmen und führt zu Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen. Arbeitsrechtliche Schutzmechanismen und sozialrechtliche Stabilitäten des Industriezeitalters könnten künftig für einen großen Teil der abhängig Beschäftigten der Vergangenheit angehören (Sommer 2001: 21). Beispielhaft für die Veränderungen der Arbeitswelt ist der massive Anstieg der Telearbeitsplätze, der in Deutschland im Jahr 2001 bei über zwei Millionen lag, mit steigender Tendenz. Damit liegt Deutschland in Europa an erster Stelle (Kreklau 2001b: 58).

Politisch münden diese Trends für Deutschland in einer ordnungspolitischen Grundfrage: Wie muss sich unser Wirtschaftssystem der Sozialen Marktwirtschaft verändern, um diesen neuen Herausforderungen in der Arbeitswelt zu begegnen? Die Antwort auf diese Frage könnte – überspitzt formuliert – in zwei Grundrichtungen gehen: (1) mehr Bildung, (2) mehr Teilhabe und Flexibilität (Paqué 2001).

(1) Mehr Bildung

Der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft gibt der Bildung einen neuen wirtschaftlichen Stellenwert. Zu allen Zeiten der Wirtschaftsgeschichte war eine gute Bildung ein maßgeblicher Vorteil für die Menschen, um bessere Einkommen, ein höheres Wohlstandsniveau und größere soziale Anerkennung zu erzielen. Allerdings bot die Industriegesellschaft auch den weniger Qualifizierten noch vergleichsweise gute wirtschaftliche Einstiegschancen: Die Spezifika der indus­ triellen Technologie, vor allem die enge Verbindung von Mensch und Maschine in großen Fabrikanlagen, sorgte für eine vergleichsweise hohe Produktivität und damit gute Entlohnung auch geistig anspruchsloser Tätigkeiten. Die Wissensgesellschaft bietet diese Chance nicht mehr: Selbst relativ einfache Arbeiten in der Arbeitsteilung des Wissens erfordern die Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken und ihre in Grenzen kreative Anwendung an Terminals von Netzwerken. Für denjenigen, der darüber nicht verfügt, bleiben nur Tätigkeiten im „low productivity service sector“ der Wirtschaft offen. Dabei handelt es sich allerdings zumeist um Tätigkeiten, die geringe Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten bieten.

Diesem neuen wirtschaftlichen Stellenwert der Bildung muss unser Bildungssystem Rechnung tragen. Es muss so ausgestaltet sein, dass die Anzahl derjenigen, die mit mangelhafter Bildung in den Arbeitsmarkt entlassen werden, möglichst gering gehalten wird. War dies zu allen Zeiten ein sinnvolles bildungspolitisches Ziel, so ist dies in der globalisierten Wissensgesellschaft zunehmend auch eine strukturpolitische Kernaufgabe. Die „PISA“-Studie der OECD hat gezeigt, dass diese Aufgabe in Deutschland nicht zufriedenstellend gelöst wird.

(2) Mehr Teilhabe und Flexibilität

Der Abwertung der rein physischen Arbeitskraft und die damit verbundene bildungspolitische Herausforderung hat eine positive Kehrseite: Jenen Menschen, die über ein gutes Bildungsniveau verfügen, aber in der Industriegesellschaft wegen mangelnder physischer Mobilität und/oder körperlichen Gebrechen am Erwerbsleben nicht vollwertig teilhaben konnten, eröffnen die neuen Techniken neue Chancen und Optionen. Sie können über elektronische Netzwerke ihre volle Produktivität und Leis­ tungskraft entfalten.

Diese neuen Möglichkeiten müssen zunehmend auch politisch genutzt werden, um strukturbenachteiligte Arbeitskräfte in das Erwerbsleben zu integrieren. Hier eröffnet sich ein weites Feld der neuen Arbeitsmarkt­ politik in der Sozialen Marktwirtschaft. Es gilt, die Vernetzung und technische Ausstattung auch in privaten Haushalten so zu verbessern, dass vorhandene Engpässe für die „Arbeitsmarktintegration über Netzwerke“ abgebaut werden. In dieser Hinsicht steht die Entwicklung in Deutschland erst am Anfang. Der Strukturwandel von der Industrie- zur Wissens- oder Informationsgesellschaft macht es den Tarifpartnern in der Sozialen Marktwirtschaft schwerer, Löhne und Arbeitsbedingungen zentral zu regeln.




 zurück weiter  Top  Übersicht 


Volltextsuche