Bundestagspräsident Thierse über türkisches Gerichtsverfahren gegen politische Stiftungen besorgt
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat sich in einem
Brief an den Präsidenten der Großen Nationalversammlung
der Türkei, Bülent Arinc, besorgt gezeigt über ein
am 26. Dezember in Ankara beginnendes Gerichtsverfahren gegen
fünf politische Stiftungen aus Deutschland wegen
"Geheimbündelei" und Unterwanderung des türkischen
Staates. Zugleich hat er seinen türkischen Kollegen gebeten,
alles in seinen Möglichkeiten Stehende dafür zu tun,
"dass von diesem Prozess und seinem Verlauf keine schädlichen
Wirkungen auf das gute deutsch-türkische Verhältnis
ausgehen". Der Brief von Bundestagspräsident Thierse hat
folgenden Wortlaut:
Sehr geehrter Herr Präsident,
ich danke Ihnen für Ihr Schreiben vom 2. Dezember 2002. Mich
bewegen ebenfalls die Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten,
und ich bin persönlich davon überzeugt, dass eine
zukünftige Mitgliedschaft der Türkei in der
Europäischen Union für alle Beteiligten vorteilhaft sein
würde. Vor diesem Hintergrund bereitet mir das am 26. Dezember
in Ihrem Land beginnende Gerichtsverfahren gegen fünf
politische Stiftungen aus Deutschland Sorge.
Aus der Sicht des Deutschen Bundestages und auch nach meiner
persönlichen Auffassung leisten die Friedrich-Ebert-Stiftung,
die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Heinrich-Böll-Stiftung, die
Friedrich-Naumann-Stiftung und das Deutsche Orient-Institut jeweils
für die Beziehungen zwischen unseren Staaten und zwischen
deutschen und türkischen Staatsbürgern unverzichtbare
Arbeit. So bin ich beispielsweise sicher, dass die realistische und
respektvolle Aufnahme des Ergebnisses Ihrer Nationalratswahlen hier
in Deutschland nicht zuletzt der Arbeit dieser Stiftungen in Ihrem
Land zu verdanken ist. Auch die zunehmende Kenntnis der
innenpolitischen Reformen in der Türkei und das wachsende
Verständnis für den türkischen Wunsch nach einer
Mitgliedschaft in der EU hier in Deutschland gehen nicht allein auf
Medienberichte und auf die deutsche Botschaft in Ankara
zurück, sondern sind auch geprägt von den Schilderungen,
die wir von den Stiftungen erhalten. Deshalb lese ich mit
großer Beunruhigung und Sorge, dass Ende dieses Monats in
Ankara vor dem Staatssicherheitsgericht ein Prozess beginnen wird,
in dem diesen fünf Stiftungen "Geheimbündelei" und
Unterwanderung des türkischen Staates vorgeworfen wird.
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich dazu Ihre
Auffassung wissen ließen. Ich wäre Ihnen ferner
ausgesprochen dankbar, wenn Sie alles in Ihren Möglichkeiten
Stehende dafür tun könnten, dass von diesem Prozess und
seinem Verlauf keine schädlichen Wirkungen auf das gute
deutsch-türkische Verhältnis ausgehen.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Thierse
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