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Karl-Otto Sattler
In den heißen Stadtvierteln brennen wieder
die Autos
Arbeitslosigkeit und soziale Misere provozieren
in Frankreich militante Aktionen von Jugendgangs
Die Nacht der Nächte hat ihr ganz eigenes Gesicht.
Feuerwehrleute rücken in kurzen Abständen an, um mal
hier, mal dort mit ihren Schläuchen in brennende Autos zu
zielen, in der Dunkelheit eine seltsame Szenerie, gut für
wirkungsvolle Bilder in Zeitungen und Fernsehen. Junge Leute werden
bei Polizeikontrollen an den Ein- und Ausfahrten der gewissen
Viertel gefilzt. Gendarmentrupps ziehen zur Abschreckung und zwecks
Festnahmen durch die Straßen, und wenn sie um eine
Häuserecke verschwinden, dann kann schon mal hinter ihnen
sofort die nächste Blechkiste in Flammen aufgehen. Manchmal
greifen sich die Flics einen Delinquenten. In das Katz- und
Mausspiel zwischen Polizisten und Jugendgangs mischen sich
Sozialarbeiter und einige Eltern, die ihrerseites Streife laufen,
auf Heranwachsende einreden, sie zum Aufhören bewegen
wollen.
Seit über einem Jahrzehnt blickt Frankreich am
Silvesterabend gebannt auf die "quartiers chauds", die "heißen
Viertel", im Elsass auf Neuhof oder Cronenbourg in Straßburg
und auf Coteaux oder Bourtzwiller in Mülhausen, auf die
"cités sensibles" in Seine-Saint-Denis, Aulnay oder
Clichy-sous-Bois im Großraum Paris, auf Lyon, Le Havre und
andere Großstädte: Wie viele Autos werden dieses Mal
abgefackelt? Nun, Silvester 2004 waren es landesweit über 330
Fahrzeuge, das Elsass nahm mit 60 abgebrannten Wagen wieder eine
Spitzenposition ein, allein in Straßburg waren es an die 30.
So sehen die Silvesterbilanzen in Frankreich seit Jahren aus. Auch
dieses Mal wurden zahlreiche Heranwachsende verhaftet, in der
Umgebung von Paris über 100, in Straßburg gut 40. Alles
wie gehabt.
Zum Jahreswechsel entlädt sich die explosive soziale
Mischung in den von hoher Jugenderwerbslosigkeit heimgesuchten
Quartieren besonders knallig, weswegen das Spektakel an Silvester
dieses Randale-Phänomen ins mediale Rampenlicht rückt.
Indes zünden Jugendgangs das Jahr über in ihren Vierteln
Autos an, was sich allerdings nur in Polizeinotizen auf den Seiten
der Lokalpresse niederschlägt. Beliebt sind zum Beispiel
"Rodeo"-Spiele: Eine Clique klaut eine Kiste mit PS-Power,
drückt bei einer Spritztour volle Pulle aufs Gaspedal und
zückt zum Schluss das Feuerzeug.
In Europa ist Frankreich das einzige Land, das diese Form des
Jugendaufstands mit abgefackelten Autos kennt. Viele
wissenschaftliche Analysen wurden schon verfasst, die "quartiers
chauds" avancierten zu Themen für Uni-Seminare. Zu den
Fachleuten zählt Michel Wieviorka. Der Direktor der
französischen Hochschule für Sozialwissenschaften hat am
Beispiel von Le Havre, Straßburg und Lyon eine Studie erstellt
und ortet in den Attacken der Jugendlichen eine "Antwort auf den
Ausschluss von der Konsumgesellschaft". Wut und Zorn nähren
sich, so der Soziologe, stets aufs Neue, weil diese Viertel "immer
mehr ghettoisiert werden und die soziale Ausgrenzung zunimmt".
Wieviorka legt den Finger in die Wunde: Die hinter den Unruhen
brodelnden gesellschaftlichen Konflikte sind bis heute nicht
gelöst.
Die soziale Deklassierung weiter Bevölkerungskreise ist in
den "quartiers sensibles" mit Händen zu greifen. In diesen
urbanen Zonen ist die Erwerbslosigkeit überdurchschnittlich
hoch, die Wohnbedingungen sind meist schlecht, manche
Hochhäuser wirken trostlos, Geschäfte verbarrikadieren
sich mit Gittern vor Fenstern und Türen. Bewohner solcher
Viertel gelten als stigmatisiert und haben allein schon wegen ihrer
Adresse bei der Arbeitsplatzsuche schlechte Karten. Betroffen von
dieser Situation sind besonders junge Leute, bereits Schüler
wachsen in diesem Klima auf: Oft sind dies Heranwachsende, die in
der zweiten und dritten Generation von maghrebinischen Einwanderern
abstammen - und in der Regel einen französischen Pass haben,
also keine Ausländer sind.
Das Phänomen der Randale mit abgefackelten Autos, zuweilen
gehören auch das Demolieren von Bushaltestellen und das Kokeln
an Mülleimern dazu, begann in der ersten Hälfte der 90-er
Jahre. Seither haben sich die Cliquen zu einer Art Jugendkultur
entwickelt, die Scharmützel mit der Polizei haben sich fast zu
einem Ritual verselbständigt. Die militanten Aktionen der
Jugendlichen muten wie eine Art Selbstaggression an:
Angezündet werden meist Fahrzeuge von Mitbewohnern aus den
eigenen Vierteln, hingegen kaum Autos in reichen Gegenden - nicht
in Neuilly in Paris, nicht in der City von Straßburg. Im
wohlhabenden Elsass springen soziale Unruhen als Kontrast zum
Puppenstubenimage besonders ins Auge.
Straßburgs konservative Regenten, Bürgermeisterin
Fabienne Keller und Stadt-Umland-Präsident Robert Grossmann,
verfolgen zur Eindämmung der Jugendrandale seit Jahren einen
repressiven Kurs. Die Polizei ist im Alltagsleben stark
präsent, auf Straßen und Plätzen sowie in Bussen und
Bahnen wurden Überwachungskameras en masse installiert - die
nicht nur böse Delinquenten mit Steinschleudern und
benzingetränkten Lappen, sondern jedermann ins Visier nehmen.
Die Justiz greift schärfer durch. Andere französische
Städte, so auch das südelsässische Mülhausen
unter dem sozialistischen Maire Jean-Marie Bockel, fahren
inzwischen ebenfalls eine harte Linie. Allerdings: Der Erfolg ist
bescheiden.
Bizarr mutet an, dass in den "quartiers chauds" Straßburgs
und anderer Orte gelegentlich Hochhäuser dem Erdboden
gleichgemacht werden, die als heruntergekommen eingestuft werden.
Diese Säuberungsmaßnahme ist Teil eines Programms des
für Stadtentwicklung zuständigen Ministers Jean-Louis
Borloo, der in den nächsten Jahren in den sozial schwierigen
Vierteln der Republik zehntausende Wohnungen abreißen lassen
will. Doch was nutzt diese Radikalkur, wenn in schönere
Behausungen wiederum Leute einziehen, die arbeitslos sind? Und wenn
wie eh und je junge Leute die Schulbank drücken, ohne
große Chancen auf einen Job für die Zeit danach zu haben?
Die Wurzel des Übels ist eben die hohe Erwerbslosigkeit, und
die dauert fort.
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