Bernd Jürgen Wendt
Der deutsche Freund in Versailles
Wiederentdeckung eines großen Textes von
John Maynard Keynes
Die anhaltende Kontroverse über den "Keynesianismus" oder
"Neokeynesianismus" als Allheilmittel zur
Depressionsbekämpfung durch eine nachfragegesteuerte
Konjunkturpolitik hat die facettenreiche und interessante
Persönlichkeit von John Maynard Keynes fast ganz hinter seiner
ebenso gefeierten wie befehdeten Rolle als revolutionärer
"Einstein der Ökonomie" sowie als Chefarchitekt der britischen
Kriegsfinanzierung und der (dann nicht umgesetzten) Planungen zur
Neuordnung des Weltwährungssystems nach dem Krieg verblassen
lassen.
Dem gerade gegründeten Berliner Verlag Berenberg sei
ausdrücklich Dank dafür, die beiden erstmals 1949 unter
dem Titel "Two Memoirs" erschienenen autobiografischen Texte - "Dr.
Melchior. Ein besiegter Feind" (Februar 1920) und "Meine
frühen Überzeugungen" (September 1938) - auch wieder dem
deutschen Publikum zugänglich gemacht zu haben. So besteht die
Möglichkeit, sich von dem Menschen und Schriftsteller Keynes,
seiner scharfen Beobachtungsgabe, seinem analytischen Verstand,
seiner unumstrittenen Kompetenz als Nationalökonom und
Finanzpolitiker, seiner breiten Palette von beißender Ironie
bis zu feinem Humor in der Schilderung von Menschen und Situationen
und vor allem von seiner meisterhaften Feder verzaubern zu
lassen.
Die Sorge um die Widerstandskraft von Vernunft und Zivilisation
gegenüber den Massenleidenschaften der Moderne trieb ihn
zeitlebens um. Sie verbindet auch diese thematisch so disparaten
beiden Texte. "Wir wussten nicht, dass die Zivilisation eine
dünne und prekäre Kruste ist, die sich kraft der
Persönlichkeit und des Willens sehr weniger einzelner gebildet
hat und nur durch Regeln und Konventionen intakt bleibt, welche mit
Geschick eingerichtet und mit List bewahrt werden."
Immer noch unter dem starken Eindruck der europäischen
"Urkatastrophe" von 1914 und bereits im Schatten eines neuen
Krieges rechnet Keynes hier im September 1938 nicht nur mit den ihm
rückblickend als oberflächlich erscheinenden
Überzeugungen seiner Cambridger Studentenzeit ab, sondern auch
mit den, wie er meint, allzu leichtgewichtigen, praxisfernen und
letztlich unverbindlichen einstigen Glaubensfundamenten der
"Bloomsbury Group". Dieser elitäre Zirkel der britischen
Bohème führte von 1907 bis in die 30er-Jahre im Londoner
Stadtteil Bloomsbury namhafte Verleger, Schriftsteller (Virginia
Woolf und L. Strachey) Kritiker, Maler, Philosophen (G. M. Moore)
und Wissenschaftler wie R.Trevelyan und eben Keynes zu Diskussionen
über kunsttheoretische, ethische, kultur- und sozialkritische
Fragen zusammen .
Der Kreis bot Keynes die Plattform zum Vortrag seiner "Two
Memoirs". Ein gemeinsames intensives, wenn auch von vielen
Rückschlägen begleitetes Ringen um um wirtschaftlich und
finanziell vernünftige Reparationslösungen schmiedete auf
der Pariser Friedenskonferenz 1919 inmitten einer hysterischen
Atmosphäre von Völkerhass und aufgeputschten
Kriegsleidenschaften eine einmalige Freundschaft zusammen, die bis
zum frühen Tode des deutschen Partners unter den brutalen
psychischen Drangsalierungen des braunen Terrors 1933 anhalten
sollte:
Hier der "Sieger" Keynes, als Finanzexperte des Schatzamtes der
britischen Delegation zugeordnet, dort der "Besiegte", der
jüdische Privatbankier und Teilhaber des renommierten
Hamburger Bankhauses M. M. Warburg, Dr. C. Melchior, in gleicher
Funktion Mitglied der deutschen Delegation. Keynes setzt seinem
Freund hier ein literarisches Denkmal, das durch seine menschliche
Wärme, seine aufrichtige Achtung und den Geist der
Versöhnung gegenüber dem Gegner von einst den Leser sehr
berührt.
Beide sollten politisch bald in eine Außenseiterposition
geraten: Keynes wurde nicht zuletzt durch seine furiose Abrechnung
mit dem Versailler Vertrag in seinem 1919 erschienenen und umgehend
ins Deutsche übersetzten Bestseller "Die wirtschaftlichen
Folgen des Friedensvertrages" und seinen vorzeitigen Auszug unter
Protest aus der britischen Delegation 1919 in den 30er-Jahren als
"Appeaser" gegenüber Hitler-Deutschland diffamiert, mit
schmuddeligen Anspielungen auf seine angeblich auch Melchior
gegenüber gezeigten homoerotischen Neigungen. Die Verweigerung
seiner Unterschrift unter das Versailler Diktat rettete Melchior
nicht davor, als jüdischer "Novemberverbrecher" mit dem
Bannstrahl der antisemitischen Extremisten belegt zu werden.
Dorothea Hauser erleichtert mit ihrer kompetenten Einleitung
auch dem interessierten Laien den Einstieg in dieses lesenswerte
Buch.
John Maynard Keynes
Freund und Feind. Zwei Erinnerungen.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka.
Mit einer Einleitung von Dorothea Hauser.
Berenberg Verlag, Berlin 2004; 126 S., 19,- Euro
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