Stefan Jost
Vor dem großen Beben
Krisengeschüttelte Andenstaaten
Südamerika findet in der politischen Wahrnehmung
Deutschlands kaum statt. Allenfalls die Absetzung eines
Präsidenten oder Straßenkämpfe mit zahlreichen Toten
finden ein Medienecho. Der Sammelband versucht, Abhilfe zu
schaffen. Über die Themengewichtung kann man unterschiedlicher
Auffassung sein, den Länderanalysen hätte eine
stringentere Analysematrix gut getan. Dennoch bieten die
Beiträge eine informative Bandbreite an Einschätzungen
der für die Stabilität Südamerikas bedeutsamen
Region.
Ecuador hat sich durch einen schnellen Wechsel von teils
pittoresken Präsidenten und einem punktuellen Zusammenwirken
von Militär und Indígenas in eine institutionelle
Dauerkrise manövriert, aus der überhastete
Verfassungsreformen keinen Ausweg bieten. Die Hoffnung, auch nur
rudimentäre Nachhaltigkeitsstrukturen zu schaffen, ist
geschwunden.
In Kolumbien ist ein Ausweg aus dem Gewaltzyklus zwischen Staat,
Guerrilla und Paramilitärs kaum ersichtlich. Militärisch
dürfte der Konflikt auch langfristig für keine Seite zu
gewinnen sein. Die vorsichtigen Friedensverhandlungen scheinen,
kaum dass sie begonnen haben, schon wieder am Ende zu sein.
Eine politische Lösung hängt wesentlich von der
vernachlässigten Frage ab, ob die Guerrilla noch über
eine politische Motivation verfügt, oder ob es sich inzwischen
eher um eine vom historischen Ursprung weit entfernte kriminelle
Bewegung handelt, für die eine Einbindung in das politische
System keinen erkennbaren Anreiz für ernsthafte Verhandlungen
darstellt.
Venezuela, lange eine der stabilsten Demokratien, bietet das
Paradebeispiel einer institutionell wie mental verkrusteten
politischen Kaste, die in ihrer Selbstbezogenheit und
Realitätsferne seit den 80er-Jahren alle Warnsignale der
heraufziehenden Krise selbstherrlich ignoriert und einen zur
Implosion des politischen Systems führenden Reformstau zu
verantworten hat. Das Ausmaß dieses Versagens ist die Ursache
dafür, dass Präsident Chávez trotz sich
verschärfender Probleme mit einer stark personalisierten
symbolischen Politik bislang aller Krisen Herr werden konnte und
noch immer erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung hat.
Die militarisiert-autoritäre Regierungspraxis hat das Land
gespalten. Trotz massiver Proteste sind jedoch keine politischen
Formationen und Entwürfe eines anderen Venezuela erkennbar.
Eine bloße Anti-Chávez-Koalition ist für die
Bevölkerungsmehrheit (noch) keine Alternative.
Peru steht für die wohl gescheiterte Hoffnung, mit dem Ende
des Fujimori-Autoritarismus zu demokratisch-stabileren
Verhältnissen zu kommen. (Neo)populistische Ansätze und
ein Indígena-Präsident allein sind jedoch noch kein
Programm.
Hugo Banzers Erbe
Bolivien, das seit 1982 eine beachtliche politische
Stabilität entwickelte und aufgrund der von Lozada 1993-1997
realisierten Politiken gar zum "Traumland der Reformen" avancierte,
ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass das
Veränderungspotential der mit internationaler
Unterstützung eingeleiteten Reformen von entsprechenden
Nachhaltigkeitsstrukturen abhängt. Dies auch nicht ansatzweise
erreicht zu haben, ist die Erblast der Regierung Banzer für
die zweite Regierung Lozada ab 2002.
Die Regierung führt heute einen Mehrfrontenkrieg zwischen
politischen Parteien, Parlament und erstarkten, teilweise
fundamentalisierten Indígena-Bewegungen. Der Versuch, die
Integrationsleistung des politischen Systems zu erhöhen und
Bolivien vor der Unregierbarkeit zu bewahren, zeigt erste Erfolge.
Dennoch, die politische Zeitbombe tickt. Offen ist nur, ob eine
systemimmanente Entschärfung gelingt oder die ungelösten
Konfliktlinien bolivianischer Politik über diese
"Constituyente" zur institutionellen Unregierbarkeit
führen.
Die diffuse Zustimmung zu den "defekten Demokratien" der
Andenländer reicht für deren Stabilität nicht mehr
aus. Konnten einige der Länder - trotz erheblicher
sozio-ökonomischer Probleme relativ stabile Demokratien - zur
Widerlegung der Modernisierungsthese dienen, so stellt sich nun die
Frage nach dem Zusammenhang zwischen Entwicklung und demokratischer
Stabilität. Der dramatische Vertrauensverlust in die
Leistungsfähigkeit der Demokratie und die wachsende
Indifferenz gegenüber der Möglichkeit autoritärer
Systeme sind Alarmsignale.
Implosion der Systeme
Eine fortschreitende Informalisierung der Ökonomie mit
ihren sozio-ökonomischen Folgen, eine durch die
Strukturreformen reduzierte Integrationskapazität des Staates,
zunehmende Korruption und Gewalt, die Ersetzung klassischer
Mechanismen politischer Partizipation durch Massenmobilisierung,
der Auftritt politischer "outsider", die Resurgenz des
lateinamerikanischen Populismus sowie teilweise der antisistemische
Ansatz erstarkter indigener Bewegungen - all diese Indizien zeigen,
dass schnelle Auswege aus dieser sich verfestigenden Krise in
keinem Land ersichtlich sind.
Die Implosion des politischen Systems ist vor allem in Bolivien
eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Da ohne Verbesserung der
materiellen Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten
grundlegende Veränderungen der Situation nicht zu erwarten
sind, dürfte der andine Krisenbogen die südamerikanische
Realität noch für lange Zeit prägen.
Sabine Kurtenbach, Mechthild Minkner-Bünjer, Andreas
Steinhauf (Hrsg.)
Die Andenregion.
Neuer Krisenbogen in Lateinamerika.
Vervuert, Frankfurt/ M. 2004; 434 S., 28,- Euro
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