"Wann - wenn nicht jetzt - werden wir die Kraft
finden, unser Handeln auch als Weltinnenpolitik zu verstehen?"
Rede von Bundespräsident Horst Köhler
zum Gedenken an die Opfer der Flutkatastrophe in Südasien -
Staatsakt im Deutschen Bundestag am 20. Januar 2005
In den vergangenen Wochen sind wir alle Zeugen einer furchtbaren
Katastrophe geworden. Auch wenn sie sich weit entfernt von
Deutschland abgespielt hat - sie hat uns alle tief getroffen. Unter
den wohl weit mehr als 200.000 Opfern sind auch Deutsche. Aller
Opfer wollen wir heute gedenken.
Nach einem Seebeben, das für niemanden zu sehen war, ist am
zweiten Weihnachtstag eine riesige Welle mit der Geschwindigkeit
eines Flugzeuges über den Indischen Ozean hinweggerast und hat
ihre Kraft an vielen Küsten Asiens und Afrikas entladen.
Zunächst war das ganze Ausmaß der Katastrophe für
uns gar nicht abzusehen. Entsetzt haben wir dann Tag für Tag
die steigenden Opferzahlen verfolgt. Aber es geht in Wirklichkeit
nicht um Zahlen, es geht um die vielen einzelnen Schicksale, die
hinter diesen Zahlen stehen. Mit jedem Tod wird ein Leben
ausgelöscht, das einzigartig ist.
Die Flut hat abertausende Bindungen zwischen Menschen zerrissen.
Mütter und Väter suchten verzweifelt ihre Kinder, die
eben noch draußen herumtollten. Frauen und Männer liefen
durch den Schutt und Schlamm, versuchten ihren Partner zu finden.
Kinder standen apathisch zwischen Bergen von Leichen. Ob
Einheimischer oder Tourist, ob reich oder arm, ob Kind oder Greis -
vor niemandem hat die zerstörerische Kraft des Wassers Halt
gemacht.
Wir gedenken heute unserer toten Landsleute. Die meisten wollten
sich einen Traumurlaub gönnen, entspannen, um dann mit neuer
Kraft in ihren Alltag zu starten. Nun kehren sie nicht zurück.
Wir trauern um die Toten aus Deutschland. Und wir trauern auch um
die vielen Toten aus Indonesien und Sri Lanka, aus Indien, Thailand
und aus den anderen Ländern rund um den Indischen Ozean. Wir
beklagen auch den Tod vieler Touristen aus aller Welt.
Zeugnis echter Hilfsbereitschaft
Jeder Tote hinterlässt Verwandte und Freunde, die um ihn
trauern. Alle, die schon einmal einen geliebten Menschen verloren
haben, wissen, wie sich die Leere anfühlt, die der Tod
hinterlässt. Unter uns sind heute, wie auch beim
Gedenkgottesdienst im Berliner Dom vor gut zehn Tagen,
Angehörige der Toten. Ich möchte Ihnen sagen: Wir
können Ihren Schmerz kaum ermessen, doch wir trauern mit
Ihnen. Wir wünschen Ihnen Kraft und wir wünschen Ihnen,
dass Menschen an Ihrer Seite sind, die Ihnen beistehen.
Furchtbar ist die Anspannung für Verwandte und Freunde von
Vermissten. Wir bangen mit ihnen, auch wenn von Tag zu Tag die
Hoffnung kleiner wird. Viele, die wir jetzt noch vermissen, kehren
wohl nicht in ihre Heimat zurück. Von vielen werden wir nicht
einmal wissen, wo sie geblieben sind. Die Familien werden deshalb
kein Grab haben, an dem sie um ihren Sohn oder ihre Tochter, ihren
Vater oder ihre Mutter, ihren Mann oder ihre Frau, ihre Schwester
oder ihren Bruder trauern können. Ich weiß, dass dies
jedem Einzelnen, den dieses Schicksal trifft, fast
übermenschliche Kraft abverlangt. Wir versichern Ihnen: Was
getan werden kann, um Gewissheit zu bekommen, das wird getan.
Unsere Gedanken sind auch bei denen, die verletzt wurden. Fast
alle sind medizinisch versorgt und zurück nach Deutschland
gebracht worden. Wir hoffen mit ihnen, dass sie möglichst bald
genesen, dass sie, so rasch und gut es geht, das Erlebte
verarbeiten und Wege in den Alltag zurückfinden.
Dass die Verletzten und viele Urlauber so schnell in die Heimat
zurückfliegen konnten, ist vor allem den zahlreichen Helfern
zu verdanken, die jetzt zum Teil schon seit Wochen unermüdlich
im Einsatz sind. Wenn uns hier zu Hause schon die Bilder aus den
Zeitungen und aus dem Fernsehen aufgewühlt haben, kann man
erahnen, was sie erleben und aushalten mussten. Die Helfer stellten
sich dem Chaos entgegen, packten an und müssen bis heute
Schreckliches verkraften.
Die Männer und Frauen der Hilfswerke leisten Unglaubliches:
Die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln funktioniert in vielen
Gebieten wieder, die meisten Toten sind geborgen, und die
Seuchengefahr ist eingedämmt worden. Ich danke den Helfern in
unser aller Namen.
Ich möchte auch die Arbeit der Angehörigen des
Auswärtigen Amtes würdigen. Ob in den
Katastrophengebieten oder im zentralen Krisenstab: Gerade in den
ersten Stunden und Tagen, als verzweifelte Angehörige oder
Verletzte um Hilfe gebeten haben, als die Telefone nicht still
standen, haben sie unermüdlich, mit großem
Pflichtbewusstsein ihren Dienst getan.
Das große Maß an Hilfe ist nur möglich, weil so
viele Menschen, gerade auch in Deutschland, den Einsatz
unterstützen. Der Spendeneingang und der Einsatz der deutschen
Helfer zeugen von echter Hilfsbereitschaft. So war es auch bei der
Sturmflut in Hamburg 1962 oder beim Elbhochwasser im Jahr 2002.
Aber nicht nur wenn bei uns selber Not herrscht, zeigen die
Menschen hierzulande Hilfsbereitschaft und Solidarität.
Schon 1953, bei der großen Flut in den Niederlanden, halfen
Deutsche nach Kräften - trotz Armut und eigener Not in der
Nachkriegszeit. Ähnliches passierte, als in Polen nach
Ausrufung des Kriegsrechts 1981/82 große Not herrschte. In
beiden Teilen des damals noch nicht vereinten Deutschlands, vom
Ruhrgebiet bis nach Cottbus, haben Vereine, Schulen und
Kirchengemeinden Pakete mit Kleidung oder Lebensmitteln nach Polen
geschickt.
Und jetzt erleben wir es wieder: Wenn es darauf ankommt, helfen
die Menschen in Deutschland.
Millionen private Spender haben mit kleinen oder großen
Beträgen, mit dem, was sie für die Flutopfer am Indischen
Ozean geben konnten, eine gewaltige Summe zusammengebracht. Die
Bundesregierung hat aus öffentlichen Mitteln 500 Millionen
Euro bereitgestellt. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe
ist das ein angemessener Betrag für unser Land, das - trotz
aller Schwierigkeiten - stark und leistungsfähig ist.
Mit den umfangreichen Hilfsgeldern ist auch große
Verantwortung verbunden. Die Menschen knüpfen an ihre Spenden
mit Recht Erwartungen. Es muss gelingen, dass die zerstörten
Küstenregionen nachhaltig wieder aufgebaut werden, dass vor
allem bedürftige Familien Unterstützung bekommen, dass
Kinder nicht in die Hände von Menschenhändlern geraten,
dass ein Tsunami-Frühwarnsystem aufgebaut wird und dass sich
niemand auf Kosten der Notleidenden bereichert.
Wichtig ist auch: Nach der ersten lebensnotwendigen Soforthilfe
von außen müssen die Menschen in den Katastrophengebieten
die Aufbauarbeit selbst in die Hand nehmen. Sie dürfen nicht
bloße Empfänger bleiben und nicht in eine
Dauerabhängigkeit von fremder Hilfe geraten. Das Prinzip
"Hilfe zur Selbsthilfe" gilt auch in diesem Fall.
Doch unsere Erwartungen und Hoffnungen müssen weiter gehen.
Als die Flut kam, herrschte in Sri Lanka wie auch in der
indonesischen Provinz Aceh Bürgerkrieg. Darunter litt die
Bevölkerung schon seit vielen Jahren. Doch in den ersten
Stunden und Tagen nach der Flut haben sich Menschen aus
verfeindeten Gruppen spontan gegenseitig geholfen - und zum Teil
zum ersten Mal überhaupt miteinander gesprochen. Diesen
spontanen menschlichen Impuls sollten die Konfliktparteien
aufgreifen und Frieden schaffen. Erst dann kann der Wiederaufbau
ein Erfolg werden.
Die Bilder von der heranstürzenden Welle, von den vielen
Toten, von den trauernden, ratlos vor den Trümmern stehenden
Menschen - sie lassen viele zweifeln und hadern. Wenn etwas so
Schreckliches passiert, dann möchten wir einen Schuldigen
dafür benennen, Verantwortung ausfindig machen. Angesichts
dieser Naturkatastrophe aber gibt es keine befriedigende Antwort
auf die vielen Fragen nach dem "Warum?".
Gerade die Flut ist ein Urbild für plötzliches und
alles zerstörendes Unheil. Sie kommt in den Erzählungen
und Mythen aller Kulturen vor. Diese alten Mythen und die
Katastrophe, die wir gerade am Indischen Ozean erlebt haben, zeigen
uns: Die Natur, unsere Erde ist kein Garten Eden. Auch die
Traumstrände sind kein immerwährendes Paradies. Das blaue
Wasser des Indischen Ozeans erschien gerade vielen Touristen als
ein friedliches Element. Als Bewohner eines modernen
Industriestaates wiegten sie sich in der Sicherheit des technischen
Fortschritts. Noch als die Welle auf sie zustürmte, blieben
einige stehen, filmten und fotografierten, ohne die Gefahr zu
erkennen.
Zuwendung und Mitgefühl
Hätten sie rechtzeitig gewarnt werden können, ja sogar
müssen? Diese Frage stellt sich unweigerlich. Mit einem
Frühwarnsystem hätte es wohl weniger Tote gegeben.
Zugleich aber gilt: Wir können nicht alle Gefahren
ausschließen. Wir bilden nur einen Teil der empfindlichen
Schöpfung. Auch in Zukunft wird die Erde beben, Flüsse
werden über die Ufer treten oder Tsunamis Küsten und
Inseln überfluten. Auch Umweltschäden, die wir selbst
verursachen, werden sich rächen.
Die Kräfte der Natur durchkreuzen die Pläne und
Erwartungen der Menschen. Unser Leben ist ein gefährdetes
Leben. Früher haben die Menschen auch bei uns das vielleicht
besser gewusst, als sie den Naturkräften stärker
ausgesetzt waren. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein trafen
zum Beispiel immer wieder Missernten und Hungersnöte auch
weite Teile Europas. Der Respekt vor der Natur, vor den ungeheuren
Kräften dessen, was viel größer ist als der Mensch,
nimmt uns die Illusion, wir hätten mit der Zivilisation
garantierte Sicherheit. "Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen"
- diese uralte Erkenntnis, dieses Gesetz der menschlichen Existenz
ist durch nichts außer Kraft zu setzen. Das sollte uns Demut
lehren - und ein neues Verantwortungsbewusstsein gegenüber der
Natur.
Wenn wir unsere eigene Endlichkeit und Begrenztheit erkennen,
werden wir auch aufmerksam für den anderen in seiner Not und
seiner Hilfsbedürftigkeit. Die verheerende
Zerstörungskraft der Wassermassen hat überall auf der
Welt in den Menschen Zuwendung und Mitgefühl geweckt.
Wir haben mit der Flutkatastrophe in Südostasien begriffen:
Wir alle gehören zusammen, wir leben in einer Welt. Im
Mittelalter tauchte in der bildenden Kunst, in Erzählungen und
Theaterstücken immer wieder das Motiv des Totentanzes auf. Es
sollte den Menschen vermitteln, dass die sozialen Unterschiede
angesichts des Todes ihre Bedeutung verlieren. Egal ob König
oder Bauer, Papst oder Knecht - alle werden aus dem Leben gerissen.
Heute liegen die sozialen Grenzen oft zwischen den Kontinenten,
zwischen einzelnen Regionen und Ländern. Aber auch heute gilt:
In der Not zählt der Unterschied nicht mehr. Wir gehören
alle zusammen.
Nun mögen einige einwenden, dass nur eine Katastrophe, bei
der Touristen aus aller Welt starben, dieses
Zusammengehörigkeitsgefühl mit fernen Ländern
hervorrufen konnte. Andere werden sagen, dass nur die starke
Medienpräsenz diese Hilfsbereitschaft ausgelöst habe. Wir
können doch aber froh darüber sein, dass Medien und
Tourismus mit dazu beitragen, dass wir uns als die eine Welt
fühlen und begreifen. Wichtig erscheint mir vor allem das
Ergebnis - das tätige Zusammenstehen der Menschen aus allen
Nationen. Wir sehen unsere Welt neu, wir entdecken Partnerschaften
mit entfernten Regionen, und wir schöpfen so neue Kraft zum
Handeln. Das gibt Hoffnung. Und das macht Mut.
Ich wünsche mir, dass dieses Bewusstsein "wir müssen
für den anderen da sein" anhält. Überall auf der
Welt gibt es Menschen in Not - sei es durch Naturkatastrophen wie
jetzt am Indischen Ozean, sei es durch Armut, Krieg und Aids wie in
Afrika. Ich denke, die Zeit ist gekommen, neu über die
Zusammenarbeit der Staatengemeinschaft nachzudenken - und auch
über die Hilfe für arme Länder insgesamt. Wann -
wenn nicht jetzt - werden wir die Kraft finden, unser Handeln auch
als Weltinnenpolitik zu verstehen?
Was in den vergangenen Wochen am Indischen Ozean geschehen ist,
wird sich in das Gedächtnis der Menschheit einbrennen. Viele
aus unserem Land hat die Katastrophe persönlich betroffen. Sie
kennen Orte wie Phuket, Khao Lak oder die Malediven, weil sie
selber im Urlaub schon einmal dort waren. Viele trauern um Tote,
bangen um Vermisste oder kennen Verletzte. So hat die Trauer auch
unser Land erfasst. Vielleicht ist es den Angehörigen und
Freunden der Opfer, die sich in ihrem Schmerz hilflos und allein
fühlen, ein Trost, dass wir an sie denken und mit Ihnen
trauern. Ich hoffe es. Ein tiefer Trost für mich sind immer
wieder die Zeilen aus dem Adventlied von Jochen Klepper, die ich
Ihnen allen sagen möchte:
"Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch Deine Angst und Pein."
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