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Matthias G. Sicher
Ist das Luftsicherheitsgesetz
verfassungswidrig?
Bundespräsident Horst Köhler regt
Klage in Karlsruhe an
Bundespräsident Horst Köhler hat am
12. Januar das Luftsicherheitsgesetz unterzeichnet, zugleich aber
wegen schwerer rechtlicher Bedenken den Gang nach Karlsruhe
angeregt. Dieses Gesetz, das nunmehr in Kraft treten kann, soll die
Rechtsgrundlagen schaffen für Maßnahmen gegen
Bedrohungen, die von Flugzeugentführungen oder anderen
gefährlichen Eingriffen in den Luftverkehr ausgehen. Den
Hintergrund der Neuregelungen bilden die terroristischen
Anschläge in den USA vom 11. September 2001. Konkreter Anlass
der Gesetzgebung war allerdings erst die Entführung eines
Kleinflugzeuges in Frankfurt am Main im Januar 2003. Dieser Irrflug
hatte eine Diskussion über die Zulässigkeit des Einsatzes
der Luftwaffe ausgelöst.
Im Mittelpunkt des Gesetzes stehen daher
Möglichkeiten eines Bundeswehreinsatzes im Inneren. In Zukunft
soll es der Luftwaffe gestattet sein, ein als Waffe missbrauchtes
Zivilflugzeug abzuschießen. Ein solcher Abschuss, den das
Gesetz verdunkelnd als "unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt"
beschreibt, setzt voraus, dass das entführte Flugzeug
offensichtlich gegen das Leben von Menschen eingesetzt, etwa in ein
Hochhaus oder - horribile dictu - in ein Atomkraftwerk gelenkt
werden soll. Zudem ist der Abschuss als wirklich letzte
Möglichkeit ausgestaltet, darf also erst erfolgen, wenn andere
Maßnahmen nicht mehr in Betracht kommen. Die Entscheidung
über einen solchen Einsatz obliegt dem
Bundesverteidigungsminister.
Zeitgleich mit der Unterzeichnung des
Gesetzes hat der Bundespräsident gegenüber dem
Bundeskanzler sowie den Präsidenten des Bundestages und des
Bundesrates erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit einzelner
Regelungen mit dem Grundgesetz geäußert. Köhlers
Bedenken beziehen sich auf die eröffnete Einsatzoption der
Bundeswehr, zielen mithin auf den Kern der Neuerungen. Nach seinem
Wortlaut erlaubt das Luftsicherheitsgesetz den Abschuss eines von
Terroristen entführten Flugzeuges auch dann, wenn die Maschine
nicht nur mit Terroristen, sondern zudem mit unbeteiligten
Passagieren besetzt ist. Die terroristischen Anschläge vom 11.
September 2001 wurden bekanntlich mittels vier Passagiermaschinen
verübt, in denen insgesamt 266 Fluggäste saßen. Mit
dem Abschuss eines auch mit unbeteiligten Personen besetzten
Flugzeuges, so der Bundespräsident, werde Leben zugunsten
anderen Lebens geopfert.
"Leben gegen Leben"?
Das Staatsoberhaupt hat erhebliche Bedenken,
ob diese Einsatzoption mit dem Grundrecht auf Leben und der
verfassungsrechtlichen Garantie der Menschenwürde (Artikel 2
Absatz 2 und Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes) vereinbar ist,
denn diese Grundrechte verböten eine Abwägung "Leben
gegen Leben". Derartige Zweifel hatte Burkhard Hirsch, von 1994 bis
1998 Vizepräsident des Deutschen Bundestages, im Vorfeld des
Gesetzgebungsverfahrens mit drastischen Worten zum Ausdruck
gebracht. Darf, so lautet die von dem Bundespräsidenten
aufgeworfene und von ihm offenbar verneinte Frage, die Staatsgewalt
Unschuldige töten, um eine Lebensgefährdung anderer
Menschen abzuwenden? Nach Bundesinnenminister Otto Schily ist
freilich schon die Frage falsch gestellt. Schily, dessen
Ministerium bei der Ausarbeitung des Gesetzes federführend
war, wies die verfassungsrechtlichen Bedenken des
Bundespräsidenten daher umgehend als "irrig" zurück. Das
Luftsicherheitsgesetz sehe überhaupt keine Abwägung
"Leben gegen Leben" vor. Vielmehr sei der Abschuss eines gekaperten
Flugzeuges nur dann gestattet, wenn die Passagiere durch den
beabsichtigten Absturz in jedem Fall zu Tode kämen, ein
Einsatz der Luftwaffe aber den Tod unzähliger weiterer
Personen verhindern könne.
Der Staat muss handeln
Immer vorausgesetzt, ein von
Selbstmordattentätern gekapertes, mit unbeteiligten
Passagieren besetztes Flugzeug soll tatsächlich als Waffe
gegen unzählige Menschen eingesetzt, etwa in ein Hochhaus
gestürzt werden, so kann das Leben der Fluggäste auch bei
staatlicher Untätigkeit nicht mehr gerettet werden. Diese
Menschen sind dem Tode geweiht, ganz unabhängig davon, ob der
Verteidigungsminister den Abschussbefehl erteilt oder nicht. Hinzu
kommt Folgendes: Die Menschenwürdegarantie und das Grundrecht
auf Leben gelten nicht nur für die Passagiere, sondern
gleichermaßen für die zu erwartenden weiteren Opfer am
Boden - auch gegenüber diesen Menschen besteht der staatliche
Schutzauftrag. Kann es vor diesem Hintergrund wirklich
verfassungsrechtlich gewollt sein, dass die Staatsgewalt eine
Vermehrung der Opferzahlen, worauf die Attentäter doch gerade
abzielen, tatenlos, ja fatalistisch zulässt? Der in der
Strafrechtswissenschaft diskutierten Frage, ob dem staatlichen
Schutzauftrag gegenüber der zu erwartenden Mehrzahl an Opfern
entgegengehalten werden kann, durch einen Abschuss des Flugzeuges
werde die Lebenszeit der Fluggäste jedenfalls um wenige
Minuten verkürzt, soll hier nicht nachgegangen werden. Trotz
des Dilemmas - der Staat darf, ja er muss handeln.
So überzeugend eine Anordnungsbefugnis
zum Abschuss damit auch sein mag, der Gesetzgeber hat sie in ihrer
schicksalhaften Tragweite nicht hinreichend präzise
formuliert. In der Abschusserlaubnis findet sich keinerlei Aussage
darüber, ob diese tatsächlich auch dann gelten soll, wenn
sich nicht nur die Attentäter, sondern zudem unbeteiligte
Personen an Bord des Flugzeuges befinden. Deshalb behauptete der
Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis
90/Die Grünen) während der ersten Beratung des Gesetzes,
man habe diese Konstellation absichtlich nicht regeln wollen.
Für diesen Fall erlaube das Gesetz einen Abschuss gerade
nicht. Diese Auffassung wurde zwar unlängst noch einmal von
Volker Beck bekräftigt, dem Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von Bündnis
90/Die Grünen. Sie ist indes kaum haltbar, denn der fragliche
Paragraf 14 Absatz 3 des Luftsicherheitsgesetzes ist jedenfalls
"offen" formuliert (in ihren Stellungnahmen haben auch der
Bundespräsident und der Innenminister sie implizit verworfen).
Dennoch hätte das Gesetz hier deutlicher gefasst werden
müssen.
Einsatz der Bundeswehr im Inland
Die Zweifel Köhlers gehen über
grundrechtliche Bedenken noch hinaus. So stellt der
Bundespräsident die verfassungsrechtliche Zulässigkeit
eines jeden Einsatzes der Streitkräfte zur Abwehr von Gefahren
aus der Luft in Frage. Selbst wenn es nicht zu einem Abschussbefehl
käme, die entführte Passagiermaschine aber von
Abfangjägern der Luftwaffe zum Landen gezwungen werde, sei es
höchst fraglich, ob ein derartiger - vom Luftsicherheitsgesetz
ebenfalls ausdrücklich zugelassener - Einsatz der Bundeswehr
im Inneren vom Grundgesetz gedeckt ist. Diesbezüglich war es
bereits im Gesetzgebungsverfahren zu einem Streit der
Bundesregierung und den Regierungsfraktionen mit der Opposition
gekommen. Das Grundgesetz lässt den Einsatz der Bundeswehr im
Inneren nur in ausdrücklich geregelten Fällen zu. Im
Übrigen ist die Kriminalitätsbekämpfung, zu der auch
die Abwehr des internationalen Terrorismus zählt,
originäre Aufgabe der Polizei. Das Luftsicherheitsgesetz
stützt die eröffneten Einsatzoptionen der
Streitkräfte auf die Verfassungsnorm über die
Katastrophenhilfe, die den Einsatz der Bundeswehr bei besonders
schweren Unglücksfällen auch innerhalb Deutschlands
zulässt (Artikel 35 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes). Der
Bundespräsident bezweifelt, dass der Gesetzgeber sich auf
diese Norm berufen darf. Die Bestimmungen zur Katastrophenhilfe
könnten schon deshalb keine geeignete verfassungsrechtliche
Grundlage darstellen, weil sie als Amtshilfe ausgestaltet seien.
Nach einem anerkannten Rechtsgrundsatz richtet sich die
Zulässigkeit von Amtshilfemaßnahmen stets nach dem Recht,
das für die zu unterstützenden Behörden gilt - hier
wären dies die Polizeigesetze der Länder. Daher, so
folgert Köhler, sei es überaus zweifelhaft, ob das
Luftsicherheitsgesetz eigenständige, vom Landesrecht
losgelöste Regelungen vorsehen darf. Bundesinnenminister
Schily hält auch diese Rechtsauffassung für falsch. Er
verwies in seiner Stellungnahme auf die Regelungsbefugnisse und
tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten des Bundes im
Bereich des Luftverkehrs und betonte, die Länderpolizeien
seien demgegenüber weder rechtlich noch praktisch in der Lage,
Gefahren aus der Luft abzuwehren.
Not kennt doch Gebot
Es ist freilich mit rechtsstaatlichen
Grundsätzen nicht zu vereinbaren, von einem fachlichen
Können - in der Tat wäre allenfalls die Luftwaffe in der
Lage, Terrorgefahren aus der Luft abzuwehren - auf ein
(verfassungs-)rechtliches Dürfen zu schließen. Auch wenn
die Pflicht der Staatsgewalt zur bestmöglichen Abwehr
terroristischer Angriffe außer Frage steht, fordert das
Grundgesetz in Artikel 87a Absatz 2 für jeden Einsatz der
Bundeswehr im Inneren eine ausdrückliche verfassungsrechtliche
Ermächtigung. Es gilt der Grundsatz: Not kennt doch Gebot.
Daher scheidet auch die zeitweilig im Bundesinnenministerium
erwogene Berufung auf einen überverfassungsrechtlichen, also
ungeschriebenen Notstand aus. Ein Rückgriff auf diese
höchst umstrittene Rechtsfigur kommt allenfalls in extremen,
völlig unvorhergesehenen Fällen in Betracht. Seit dem
"11. September" ist dieser Weg jedenfalls bei Angriffen durch
Passagierflugzeuge verwehrt. Da es sich bei den Streitkräften
um einen wichtigen Faktor staatlicher Macht handelt, kann sich der
Gesetzgeber auch nicht auf allgemeine Gesetzgebungs- oder
Verwaltungskompetenzen des Bundes berufen. Vor diesem Hintergrund
hatte Bundesverteidigungsminister Peter Struck (er hat im Ernstfall
den Abschussbefehl zu geben) im Vorfeld der Entstehung des
Luftsicherheitsgesetzes die Auffassung vertreten, es fehle für
die diskutierten Inneneinsätze der Streitkräfte an einer
verfassungsrechtlichen Grundlage und eine Änderung des
Grundgesetzes angemahnt.
Mit Unsicherheiten sind aber auch die
Ausführungen des Bundespräsidenten behaftet. Insbesondere
bezweifeln Verfassungsjuristen, dass es sich bei den
Grundgesetzbestimmungen zum Streitkräfteeinsatz im Rahmen der
Katastrophenhilfe tatsächlich um einen Fall der Amtshilfe
handelt. Fraglich ist ferner, ob die Länder wegen der
Zuständigkeit des Bundes für den Luftverkehr die
Gefahrenabwehr bei Terrorangriffen aus der Luft überhaupt
regeln dürften. Allerdings bezeichnet das
Luftsicherheitsgesetz selbst den Einsatz der Streitkräfte
ausdrücklich als Amtshilfe, als Maßnahme zur
Unterstützung der Polizeibehörden.
Dessen ungeachtet wird man jedenfalls
bezweifeln dürfen, dass der in Artikel 35 des Grundgesetzes
normierte Katastrophennotstand Verwendungen der Streitkräfte
vom Deichbau bis zum Abschuss eines vollbesetzten
Passagierflugzeuges durch Abfangjäger ermöglicht. Die
Entstehungsgeschichte dieser erst mit der Notstandsgesetzgebung im
Jahr 1968 in die Verfassung eingefügten Bestimmung zeigt, dass
mit ihr Rechtsunsicherheiten beseitigt werden sollten, die vor
allem bei der Hamburger Flutkatastrophe im Februar 1962 zu Tage
getreten waren. An die Erlaubnis von Kampfeinsätzen dachte
damals niemand. Insoweit wäre das Luftsicherheitsgesetz
mangels ausreichender verfassungsrechtlicher Grundlage
tatsächlich verfassungswidrig.
Landesregierungen wollen klagen
Warum hat nun der Bundespräsident trotz
seiner im Ergebnis gewichtigen Bedenken das Luftsicherheitsgesetz
überhaupt ausgefertigt? Er begründet dies damit, dass er
die übrigen Vorschriften des Gesetzes, in denen es vor allem
um Sicherheitsmaßnahmen wie etwa
Zuverlässigkeitsüberprüfungen geht, wegen der
gesteigerten Bedrohungslage für dringend erforderlich halte,
wollte das In-Kraft-Treten dieser Regelungen also nicht verhindern.
Im Übrigen obliegt es ungeachtet der anerkannten
Prüfungsrechte des Bundespräsidenten primär dem
Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsmäßigkeit von
Normen zu klären. Ein Normenkontrollverfahren ist allerdings
erst dann zulässig, wenn das fragliche Gesetz vom
Bundespräsidenten bereits ausgefertigt und verkündet
wurde. Vor diesem Hintergrund war es nur konsequent, dass das
Staatsoberhaupt die Regelung trotz seiner Bedenken passieren
ließ und zugleich eine verfassungsrechtliche
Überprüfung anregte. Altbundespräsident Johannes Rau
war im Jahr 2002 mit dem Zuwanderungsgesetz ähnlich verfahren.
Die unionsgeführten Landesregierungen haben schon
angekündigt, beim Bundesverfassungsgericht ein
Normenkontrollverfahren einleiten zu wollen. Auch Burkhard Hirsch
will gegen die umstrittenen Bestimmungen klagen.
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