Rede von Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse
"Wegschauen, ignorieren, schweigen, all das
dürfen wir nicht tun!"
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages zur
Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus
In einem Gespräch im deutschen Fernsehen antwortete Hannah
Arendt vor Jahrzehnten auf die Frage, was für sie vom Europa
der Vorhitlerzeit geblieben sei: "Geblieben ist die Sprache".
Wir kommen heute im Plenum des Deutschen Bundestages zusammen,
um in unserer Sprache - die einmal die Sprache der Täter, der
Verbrecher und Mörder war - der Opfer der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu gedenken. Zur gleichen
Zeit wird in Auschwitz, dem entsetzlichsten Ort der
Europäischen Geschichte, in den Sprachen der Opfer und der
Befreier an das furchtbare Geschehen erinnert. Denn der 27. Januar
ist der Tag, an dem Auschwitz befreit wurde. Es ist der Tag, an dem
zumindest in diesem Lager das Grauen ein Ende hatte - heute vor
genau 60 Jahren. Es ist der Tag, an dem offenbar wurde, was
Menschen Menschen anzutun in der Lage sind.
Wir gedenken heute aller Opfer des Nationalsozialismus: Juden,
Sinti und Roma, Homosexuelle, Opfer der
Militärgerichtsbarkeit, Behinderte, Opfer der Euthanasie,
Kriegsgefangene, politische Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter, Frauen und Männer des Widerstandes und alle
anderen, die während der Zeit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft gequält und ermordet wurden. Die Reihenfolge
dieser Aufzählung stellte keine Wertung dar. Jedes Opfer hat
das gleiche Recht auf Anerkennung und Würdigung. Unser
Gedenken gilt allen, die unermessliches Leid erlitten, denen die
Würde genommen wurde, die ihr Leben verloren. Und es gilt
allen, die - auch wenn sie die infernalische Todesmaschinerie
überlebt haben - doch an ihr zerbrochen sind: an dem
zugefügten Schmerz, an dem Verlust des Glaubens an die
Menschlichkeit, an der Unbeschreiblichkeit dessen, was geschehen
ist.
Wir sind dankbar, dass an unserem Gedenken im deutschen
Parlament Zeitzeugen und zahlreiche Vertreter von Institutionen und
Verbänden teilnehmen, die ich herzlich begrüße. Ein
besonderer Gruß gilt dem Präsidenten des Zentralrats der
Juden in Deutschland Paul Spiegel.
Und ich begrüße Wolf Biermann der aus dem "Großen
Gesang des Jizchak Katzenelson vom ausgerotteten Jüdischen
Volk" vortragen wird, den er aus dem Jiddischen, der Sprache so
vieler Opfer, ins Deutsche übersetzt hat. Er kommentiert dies
selbst so: "Dass ich dieses jiddische Epos nun ausgerechnet in die
Sprache der Mörder transportiere, soll keinen irritieren. Mein
Deutsch ist ja nicht das von Hitler & Co., es ist gemacht aus
der Muttersprache von Oma Meume und Emma Biermann in Hamburg, meine
Sprache hat sich gebildet an der Vatersprache von Hölderlin,
Heinrich Heine und Meister Brecht. Die wirkliche Sprache der
Mörder aber ist der Mord."
Wir erinnern heute an alle, die das nationalsozialistische
Unrechtsregime zuerst entrechtete und dann quälte und
ermordete. Sie wurden ihres Lebensunterhalts beraubt, in Ghettos
gepfercht, aus der Heimat deportiert und in Lager gesperrt. Dort
trennte man sie von ihren Angehörigen und nahm ihnen die
letzte Habe. Die meisten wurden sofort in den Gaskammern ermordet.
Wer die Selektion überlebte, wurde zu einer Nummer degradiert.
Durch oft sinnlose Arbeit, Kälte, Hunger und
pseudomedizinische Experimente sollten die Häftlinge
gequält und vernichtet werden.
Wir gedenken heute auch besonders derer, die sich ihren
Unterdrückern trotz ihrer aussichtslosen Lage widersetzten.
Arno Lustiger, der selbst mehrere Jahre im Untergrund lebte, hat
unermüdlich an sie erinnert.
Nur wenige wissen von den jüdischen Frauen und
Männern, die den Mut und die Kraft zum Widerstand fanden. Ich
möchte an die unbekannte jüdische Frau erinnern, die am
23. Oktober 1943 auf der Rampe in Auschwitz einem SS-Mann seine
Pistole entriss. Sie konnte zwei SS-Männer töten und die
anderen Frauen des Transportes zur Gegenwehr ermutigen.
Gegen das organisierte Morden schlossen sich im Jahr 1943
Häftlinge verschiedenster Nationalitäten zur "Kampfgruppe
Auschwitz" zusammen. Sie halfen einander mit Medikamenten und
Nahrung. Sie dokumentierten die Verbrechen der SS und organisierten
Fluchten. Trotz strengster Bewachung konnten 667 Gefangene fliehen.
Widerstand äußerte sich auch in Sabotageakten oder im
Versuch einen Aufstand vorzubereiten. Dieser Aufstand fand am 7.
Oktober 1944 statt. Dabei gelang es, mindestens eine der Gaskammern
zu zerstören.
Die Juden, die Widerstand leisteten, wussten, dass sie
äußerst geringe Chancen hatten. Sie gingen sehenden Auges
in den Tod, aber aufrecht und im Bewusstsein, sich bis zuletzt
gewehrt und die Würde bewahrt zu haben. Die Täter
ihrerseits hatten jedes Interesse daran, nicht nur das Leben der
Widerstandskämpfer zu vernichten, sondern auch jede Erinnerung
an sie und ihr Tun. Viele heldenhafte Aktionen jüdischer
Widerstandskämpfer werden deshalb auch nie bekannt werden.
Ihnen, den Helden des jüdischen Widerstandes hat Arno
Lustiger sein schriftstellerisches Werk gewidmet. Die Juden
ließen sich nicht wie Schafe wehrlos zur Schlachtbank
führen. Diese Behauptung ist lediglich der letzte Mythos
über den Holocaust. Sie verleumdet die Opfer, die
Widerstandskämpfer und die Überlebenden.
Wir sind dankbar dafür, dass sich Arno Lustiger bereit
gefunden hat, heute im Bundestag zu uns zu sprechen. Er musste als
Häftling die Konzentrationslager Auschwitz, Groß-Rosen,
Buchenwald und Langenstein und die Todesmärsche erleben.
Dennoch gehörte er nach dem Krieg zu den Mitbegründern
der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main. Er setzte sich
aktiv für die Erneuerung des jüdischen Lebens in
Deutschland ein. Bis heute engagiert er sich für die
Aufarbeitung der Beziehungen zwischen Juden und Deutschen: In
unzähligen Gesprächen, Diskussionen und Publikationen
erzählt er sein persönliches Schicksal und die Geschichte
der europäischen Juden im 20. Jahrhundert. Zur Mahnung und
Warnung an künftige Generationen.
Bis heute fällt es uns schwer - wie sollte es auch anders
sein - uns dem Grauen unserer eigenen Geschichte zu stellen. So gut
wir inzwischen die historischen Tatsachen der Judenvernichtung
kennen, so wenig sind wir imstande, das Geschehene zu begreifen.
Wie konnte Politik in einem vormals demokratischen Staat, in
unserem Land, dazu verkommen, die systematische Vernichtung ganzer
Völker kaltblütig zu planen und mit organisatorischer
Perfektion umzusetzen? Wie konnte es geschehen, dass Deutsche so
erbarmungslos folterten und mordeten? Warum sahen so viele tatenlos
zu?
Gerade weil wir uns die Brutalität der Täter und die
Leiden der Opfer nicht vorstellen können - was Auschwitz
wirklich war, das wissen nur die Häftlinge, die Ermordeten
können es uns nicht sagen - gerade deshalb müssen wir uns
erinnern und gemeinsam immer neu nach einer Sprache gegen das
Vergessen suchen.
Die verpflichtende Erinnerung an die nationalsozialistischen
Verbrechen ist Teil unserer moralischen und politischen
Identität. Unser Grundgesetz verpflichtet uns, die Würde
des Anderen, die Würde des Menschen, zum unbedingten
Maßstab unseres Handelns zu machen.
Es geht eben nicht nur um Vergangenheit, es geht nicht um
(richtige oder falsche) Schuldzuweisungen, sondern um die aus der
beschämenden Erinnerung erwachsende Verantwortung in der
Gegenwart und für die Zukunft. Im Blick darauf gibt es
aktuellen Anlass zur Beunruhigung und zu erneuertem Engagement:
Rechtsextremistische Einstellungen sind in Teilen der
Gesellschaft fest verankert, das müssen wir seit vielen Jahren
beobachten, so bitter es ist. Rechtsextreme Politiker haben
jüngst in einem deutschen Parlament gewagt, die Barbarei des
Holocaust zu relativieren und den Opfern den Respekt zu
verweigern.
Die Abgeordneten der NPD in Dresden haben ihre Maske fallen
lassen und es ist für jeden endgültig sichtbar: es sitzen
wieder Neonazis in einem deutschen Parlament. Das ist eine Schande
- und es ist eine enorme Herausforderung für uns alle.
Das demokratische Deutschland ist nicht wehrlos. Ich meine damit
nicht allein die Macht des Staates und die Pflichten der Justiz.
Als Demokraten müssen wir auch und vor allem die politische
Auseinandersetzug mit den Rechtsextremen suchen und diese
Auseinandersetzung müssen wir offensiv und überzeugend
angehen. Wir dürfen denen unsere Sprache und unsere
Plätze nicht überlassen. Wegschauen, ignorieren,
schweigen, all das dürfen wir Demokraten nicht tun!
Und eines ist besonders wichtig: wir Politiker müssen
diejenigen unterstützen, die sich tagtäglich couragiert
und mutig den Rechtsextremen entgegenstellen. Ob
Bürgerinitiativen oder Jugendgruppen, sie brauchen unsere
Aufmerksamkeit und unsere Hilfe, denn sie treten für unsere
Demokratie und ihre unverbrüchlichen Werte ein und sind dabei
häufig selbst Opfer rechtsextremer Gewalt.
In diesen Tagen und Wochen erinnern sich viele Menschen in
unserem Land an das Ende des Krieges und an das Leiden des Krieges.
Meine nachdrückliche Bitte ist: In Dresden und überall in
Deutschland müssen wir verhindern, dass die Erinnerung an die
deutschen Opfer und die Trauer über das Leid auch der
Deutschen missbraucht wird für neonazistische Propaganda. Es
ist verständlich und legitim, mit Trauer an das eigene Leiden
zu erinnern. Aber das darf niemals und nirgendwo dazu dienen, die
Naziverbrechen zu relativieren und zu beschönigen! Dem zu
widerstehen und zu widersprechen ist Sache aller anständigen
Deutschen, aller Bürger.
Dass Deutsch nie mehr die Sprache des Mordes, des
Antisemitismus, der Menschenfeindlichkeit, der Lüge und des
rassistischen Vorurteils wird - dazu verpflichtet uns der heutige
Gedenktag für immer.
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