"Fragt uns aus - wir sind die Letzten"
Interview mit Arno Lustiger anlässlich des
Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Das Parlament:
Herr Lustiger, Sie haben in Ihrer Rede gesagt, Sie möchten
Ihre Erinnerungen mit den Menschen teilen. Lange wollten oder
konnten Sie nicht darüber sprechen. Was hat Sie dazu bewogen,
Ihr Schweigen zu brechen ?
Arno Lustiger: Das war genau vor 20 Jahren am 27. Januar
1985 - die Aktion Sühnezeichen, Pax Christi, organisierte in
Frankfurt einen Schweigemarsch. Diese Art des Gedenkens hat mir
sehr gut gefallen. Im Anschluss daran habe ich das erste Mal
öffentlich gesprochen. Ich habe meine Rede mit einem Gedicht
von Hans Sahl beendet: "Fragt uns aus, wir sind die Letzten." Bis
dahin hatte ich geschwiegen und wollte nicht erzählen - aus
verschiedenen Gründen.
Das Parlament:
Warum?
Arno Lustiger: Zum Einen schmerzt es immer, wenn man
darüber erzählt, zum Zweiten muss ich gefragt werden. Ich
erzähle niemals, auch heute nicht, wenn ich nicht gefragt
werde. Drittens war das, was ich zu erzählen hatte, auch immer
sehr unglaubwürdig, weil solche Sachen noch nie in der
Geschichte passiert sind. Ich hatte auch meiner Familie nichts
erzählt.
Das Parlament:
Hat die nicht gefragt?
Arno Lustiger: Als die Kinder klein waren und meine
Tätowierung aus Auschwitz gesehen haben, wollten sie wissen,
was das ist, und ich habe gesagt "Meine Telefonnummer". Mein Freund
Wolf Biermann hat mit mir geschimpft und gefragt, warum ich meine
Kinder belogen hätte. Ich sagte: "Ist es nicht genug, dass die
Nazis meine Kindheit und Jugendzeit gestohlen haben? Muss ich das
meinen Kindern auch antun? Haben sie nicht das Recht normal
aufzuwachsen, ohne Vorurteile?"
Das Parlament:
Die Begegnung mit Zeitzeugen wie Ihnen ist gerade für
Jugendliche die eindringlichste Form der Erinnerung. Wie kann die
Erinnerung aussehen, wenn es immer weniger direkte Zeugen dieser
Geschichte gibt?
Arno Lustiger: Ich halte den Aufbau von
Videodokumentationen mit Zeitzeugen nach dem Vorbild des
amerikanischen Spielberg-Archivs für sinnvoll. Die
Zeitdokumente sind in verschiedene Sprachen übersetzt und sehr
anschaulich. Aber es ist schon spät, denn es gibt ja nicht
mehr viele Zeitzeugen. Ich könnte mir nach diesem Beispiel
aber auch eine Dokumentation vorstellen, die sich mit der Frage des
Widerstands beschäftigt.
Das Parlament:
Die Berichte von Übergriffen gegen Juden oder
Verunsicherungen von Mitgliedern jüdischer Gemeinden
häufen sich. Was haben Sie persönlich in der letzten Zeit
für Erfahrungen gemacht? Ist der Antisemitismus im Alltag
wieder spürbar?
Arno Lustiger: Wenn ich danach gehen sollte, was ich
persönlich erfahre, habe ich überhaupt keine Probleme.
Ich stehe im Telefonbuch, habe keine Geheimnummer, jeder kann mir
schreiben oder faxen. Dass ich selbst nicht betroffen bin, beweist
jedoch nicht, dass es das nicht gibt. Die jüngsten Ereignisse
im Sächsischen Landtag sind ein Beispiel dafür, dass es
Antisemitismus gibt. Wir müssen bedenken, dass diese
Rechtsextremen in den Landtag gewählt worden sind.
Das Parlament:
Wie sollte man also auf solche Vorfälle reagieren?
Arno Lustiger: In meiner Rede habe ich ja gesagt, man
sollte die Samthandschuhe ausziehen, wenn es um Feinde unserer
Verfassung und unserer Demokratie geht. Der Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts, das Verbotsverfahren gegen die NPD
einzustellen, war ja nicht einhellig. Jeder Demokrat muss sich
Gedanken machen, wie auf Rechtsextreme reagiert werden sollte.
Das Parlament:
Und wie sollte man Ihrer Meinung nach mit ihnen umgehen?
Arno Lustiger: Diese Leute sind unbelehrbar. Mit ihnen zu
reden, hat keinen Zweck. Mir würde es gut gefallen, wenn ein
Parteiverbot käme. Dann müss-ten sie sich verstecken und
sich konspirativ treffen, und es würde Ihnen nicht so leicht
fallen, auf die Straße zu gehen und ihre rassistischen
Gedanken zu verbreiten - so wie etwa bei dem geplanten Aufmarsch am
Brandenburger Tor. Der Neonazi von heute ist zehnmal so schuldig
wie der von früher.
Das Parlament:
Wie meinen Sie das?
Arno Lustiger: Damals zum Beispiel 1934 gab es noch keine
Nürnberger Gesetze, es gab noch keine systematische Verfolgung
der Juden, es gab keinen Krieg, keinen Holocaust, gar nichts. Aber
der Nazi von heute weiß um alle diese Verbrechen, der
weiß alles, was die Nationalsozialisten verbrochen haben,
wieviele Menschen sie ermordet haben. Und dann noch immer dieser
Ideologie anzuhängen, das zeugt davon, dass sie nichts gelernt
haben, unbelehrbar sind. Und dass sie das offen machen können,
ist einfach beschämend.
Das Parlament:
Viele Wähler haben der NPD ihre Stimme gegeben. Wie sollte
die Politik darauf reagieren?
Arno Lustiger: Die Politiker unserer Republik sollten
dort hingehen und die demokratischen Parteien an diesen Orten noch
viel mehr Veranstaltungen machen. Die prominenten Politiker sollten
mit den Leuten reden. Unsere Politik muss an diesen Brennpunkten
Präsenz zeigen. Und was tätliche Angriffe angeht, muss
gelten: Null Toleranz.
Das Parlament:
Sie kennen das Argument, dass rechtsextreme Parteien durch ein
Verbot an Attraktivität gewinnen?
Arno Lustiger: Ich halte nichts davon, denn es gibt sehr
viele Menschen, die in ihrer Meinung schwanken. Wenn sie sehen,
dass diese Parteien illegal sind oder wenn eine Mitgliedschaft
bestraft wird, würde es sich so mancher sicher überlegen,
weiter mitzumachen. Dann bliebe es nur bei einem harten Kern - der
ist unbelehrbar, mit dem braucht man gar nicht zu diskutieren. Aber
den muss man beobachten, sorgfältig beobachten.
Das Parlament:
Oftmals wird die Debatte um den Antisemitismus vermischt mit der
Debatte um den Nahostkonflikt. Gibt es für sie eine Art "neuen
Antisemitismus"?
Arno Lustiger: Ja, ich glaube schon, und diese Tatsache
speist sich auch zu großen Teilen aus der Berichterstattung
der Medien. In Israel gibt es sehr viele ausländische
Journalisten, die über alles berichten, aber über die
wirklich genozidalen Tragödien wie in der Provinz Darfur im
Sudan oder davor in Ruanda oder noch früher in Kambodscha, das
interessiert überhaupt keinen.
Das Parlament:
Wie würden Sie den "neuen Antisemitismus" beschreiben?
Arno Lustiger: Der neue Antisemitismus verkleidet sich.
Das war genauso bei der Verfolgung der Juden durch Stalin. Die
staatstreuen sowjetischen Juden sind erstmal zu Zionisten umgetauft
worden und so konnten sie dann verfolgt werden. Manche sagen, wir
sind keine Antisemiten, wir sind nur Antizionisten. Aber ich
glaube, dass diese Ablehnung von Israel und indirekt der Juden auch
eine bewusste oder unbewusste Abwehr der eigenen Schuld oder auch
von Schuldgefühlen sein könnte.
Das Interview führten Susanne Kailitz und Annette Sach.
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