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Johanna Metz
Nicht schuldig, aber für alles
verantwortlich
Jugendliche diskutieren in Berlin über
Formen des Erinnerns
Am Ende sind alle müde. Als die Teilnehmer
der Internationalen Jugendbegegnung am späten
Freitagnachmittag ihre Koffer zu den Bahnhöfen tragen, sind
sie erschöpft, aber froh: Vier Tage, ein volles
Zwölf-Stunden-Programm und viele Gespräche liegen hinter
ihnen. Auf Einladung des Deutschen Bundestages waren die 89 jungen
Leute aus acht Nationen nach Berlin gekommen, um an der
Gedenkstunde die Opfer des Nationalsozialismus teilzunehmen, aber
auch um gemeinsam zu diskutieren - über den Umgang mit
Erinnerung, die Gestaltung von Gedenkstätten und die
Verantwortung von Schule und Politik.
Noch zwei Tage länger wären nicht
drin gewesen", sagt der Geschichtsstudent Alexander und greift erst
mal zur Zigarette. Gedenkstätte Deutscher Widerstand,
Jüdisches Museum, Topographie des Terrors - diese und andere
Gedenkstätten haben die Jugendlichen, in kleine Gruppen
aufgeteilt, in den letzten Tagen besucht, um anschließend
Ratschläge zu erarbeiten, wie das Erinnern an die Verbrechen
des Nationalsozialismus in Zukunft gestaltet werden kann. Die
Jugendlichen wissen, worüber sie sprechen: Viele von ihnen
sind in Initiativen gegen Antisemitismus und Rassismus aktiv oder
führen nach Seminarschluss Besucher durch frühere
Konzentrationslager.
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse,
der Zeitzeuge Arno Lustiger und der Liedermacher Wolf Biermann
hörten genau hin, als ihnen die engagierten Youngster im
Europasaal des Paul-Löbe-Hauses am vergangenen Freitag ihre
Ideen präsentierten. Für Gesprächsstoff sorgte
besonders die Forderung, in den Gedenkstätten auch die
persönlichen Motive der Täter zu beleuchten, um die
Entwicklung des Nationalsozialismus umfassender darzustellen.
Erklären, wie Menschen zu Mördern geworden sind? Der
KZ-Überlebende Arno Lustiger hat erlebt, dass es besonders die
hohen Funktionäre des KZ-Systems waren, die sich die
NS-Ideologie ohne jede Kritik zu eigen gemacht hatten und die,
akademisch gebildet, "ihr gesamtes Wissen mit großer Effizienz
und Fanatismus in die Vernichtung von Menschen steckten". "Umso
größer ist ihre Schuld!", sagte er eindringlich. Wolf
Biermann, der als DDR-Dissident selbst erlebt hat, wie ein
autoritäres Regime Menschen zu Tätern und Mitläufern
erzieht, nahm die Jugendlichen persönlich an die Kandare: "Das
Nest, in dem ein Ei ausgebrütet wird, kann man sich nicht
aussuchen, aber sobald ein Mensch erwachsen wird, ist er frei und
verantwortlich. Entscheidet euch, ob ihr Schweine werdet oder
Schweine bleibt, ob ihr in zehn Jahren ein KZ-Aufseher werdet oder
ein tapferer Mensch, der gegen Unterdrückung kämpft!"
Nachdenkliche Stille im Saal. Im Umgang mit der Vergangenheit aber
ermunterte der Lyriker zu mehr Unbefangenheit: "Euer Erbe sind
Goethe und Schiller, aber auch Hitler und Himmler. Das kann man
sich nicht aussuchen. Ihr seid für nichts schuldig, aber
für alles verantwortlich."
Selbstverständlich für die
Jugendlichen in den voll besetzten Reihen. Tief beeindruckt sind
sie von ihren langen Gesprächen mit dem Zeitzeugen Paul
Niedermann. Sie haben darin mehr über die Schrecken des
Nationalsozialismus erfahren, als ein Schulbuch je vermitteln
könnte. Deshalb finden sie nicht nur, dass der
Geschichtsunterricht in Schulen mehr Bezüge zwischen Gegenwart
und Vergangenheit herstellen sollte, Lehrer entsprechend
fortgebildet und Schulbücher grundlegend überarbeitet
werden müssten; dass Gedenkstätten zeitgemäßer
gestaltet werden könnten, zum Beispiel durch Anlaufstellen, in
denen Pädagogen und Betreuer Fragen der Besucher
persönlich beantworten. Die Schüler und Studenten
möchten auch deutlich machen, was es heißt, dass
zukünftiges Gedenken an den Holocaust schon bald ohne
Zeitzeugen stattfinden wird, ohne Menschen wie Paul Niedermann, die
unermüdlich in Schulen und Gedenkstätten jungen Menschen
von ihren Erlebnissen erzählen und dadurch Geschichte greifbar
machen. "Wir gehören zur letzten Generation, die
überhaupt noch Zeitzeugen kennen lernen wird", sagt eine
Teilnehmerin, und Bedauern schwingt in ihrer Stimme. Die
Jugendlichen möchten die Schulen nun ermuntern, Gespräche
mit Zeitzeugen für nachfolgende Generationen zu dokumentieren,
zum Beispiel durch Videoaufzeichnungen. Aber sie baten
Bundestagspräsident Thierse auch, Jugendbegegnungen wie diese
stärker zu fördern. "So eine Veranstaltung sollte nicht
nur einmal im Jahr stattfinden, wenn gerade ein Gedenktag vor der
Tür steht", hört man immer wieder. Andere
geschichtsinteressierte Jugendliche kennenlernen, gemeinsam
Erfahrungen austauschen, Erlebtes reflektieren, das hat auch die
junge Polin Izabela begeistert. "Viele neue Eindrücke und
Sichtweisen" habe sie gewonnen, und Alexander, der künftige
Historiker, hat im Gespräch mit Franzosen und Polen ebenfalls
viel gelernt: "Mich hat schon überrascht, wie unterschiedlich
in den einzelnen Ländern der Geschichte gedacht wird", sagt
er, und bedauert, dass nun alle wieder nach Hause fahren
müssen: "Hier hatte man Zeit, sich einzulassen. Allein mit
Paul Niedermann haben wir vier Stunden gesprochen, das war sehr
intensiv."
Auch Jan Fahlbusch, einer der zehn "Teamer",
ist zufrieden. "Man kann dem Bundestag nicht vorwerfen, hier eine
Alibiveranstaltung veranstaltet zu haben", sagt er. Im Gegenteil,
Thierse habe die Jugendlichen sehr ernst genommen und sogar direkt
Ideen aufgegriffen. So kann eine Arbeitsgruppe ihren Vorschlag,
eine Wanderausstellung für "vergessene Opfergruppen", wie
Sinti und Roma, Behinderte oder Zwangsarbeiter, zu konzipieren,
möglicherweise sogar realisieren. Der Bundestagspräsident
hat durchblicken lassen, den Vorschlag an das Kuratorium des
Holocaust-Mahnmals weiterzuleiten. "Das habe ich nicht erwartet.
Mal sehen, was dabei herauskommt", sagt Fahlbusch.
Als sich die Moderatorin der Veranstaltung,
die Leiterin der Europa-Universität Viadrina, Gesine Schwan,
zum Schluss bei allen Teilnehmern für ihr Engagement bedankt,
fällt ihr Wolf Biermann ins Wort und gibt den Jugendlichen
noch etwas mit auf den Weg: "Hoffentlich bleibt ihr nicht nur
engagiert, sondern versteht auch, dass ihr das für euch selber
tut!"
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