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Martin U. Müller
Aktenstudium in der Rettungswache
Der 21-jährige Sebastian Müller ist
Freiburgs jüngster Stadtrat
Wenn ihre Freunde auf Partys gehen, sitzen sie noch im
Ortsverein. Jede freie Minute widmen sie der Partei, fast jeder
Kontakt ist auch politisch. Der Weg in die große Politik ist
lang. Doch sie wollen ihn gehen: Ehrgeizige Talente gibt es in
allen Parteien - trotz aller Nachwuchssorgen. Das Parlament stellt
einige Jungpolitiker vor.
Der Piepser geht. Die Alarmmeldung: In der Innenstadt sei eine
Frau zusammengebrochen, Passanten könnten nicht mehr mit ihr
sprechen, und ob sie atmet, ist mehr als fraglich. Jetzt muss alles
ganz schnell gehen. Binnen Sekunden ist die Besatzung des
Rettungswagens am Fahrzeug. Mit dabei: Sebastian Müller. Der
21-Jährige absolviert eine Ausbildung zum Rettungsassistenten.
Während die Tachonadel bei Tempo 80 steht, zieht er sich
routiniert während der Blaulichtfahrt im Berufsverkehr
Schutzhandschuhe an. Minuten später trifft der Rettungswagen
an der Einsatzstelle ein, jeder Handgriff sitzt. Eine Frau Anfang
Dreißig liegt wach am Boden, und es gibt den entwarnenden
Funkspruch zur Leitstelle: "Notarzt kann die Anfahrt abbrechen,
Person ansprechbar."
Zurück auf der Rettungswache, kocht ein
Rettungssanitäter Kaffee, der Fahrer des Notarztes sieht fern.
Sebastian Müller aber brütet über Akten. "Die
Gemeindefinanzen sind zwar ein komplexes Thema. Aber das ist
superinteressant. Wenn wir jetzt nicht aufhören, über
unsere Verhältnisse in Freiburg zu leben, muss das meine
Generation ausbaden." Er ist Freiburgs jüngster Stadtrat, vor
knapp fünf Monaten zog er für die Wählervereinigung
"Junges Freiburg" in den Gemeinderat der Breisgaumetropole. Sein
politisches Interesse wuchs früh. Schon als Schüler zog
Sebastian Müller durch großes Engagement die
Aufmerksamkeit auf sich. "Ich hatte mal Sekretariatsverbot
bekommen, weil ich mich für den Geschmack der Sekretärin
zu sehr für ihre Belange interessiert habe", erinnert sich
Sebastian Müller schmunzelnd. Doch er setzt sich nicht nur in
der Schule für andere ein. Nach Schülervertretung und
Schülerzeitung gründete er gemeinsam mit anderen
Jugendlichen und dem Europaabgeordneten Dietrich Elchlepp das
"Jugendeuropaparlament am Oberrhein". Busverbindungen, Partys und
die erste Fremdsprache im Dreiländereck - es blieb bei
Alltagsfragen in den Debatten zwischen Jugendlichen aus
Deutschland, Frankreich und der Schweiz. "Die Themen finde ich nach
wie vor wichtig, doch Jugendliche finden auf europäischer
Ebene zu wenig Gehör." Die Komplexität schrecke selbst
Erwachsene ab, findet Sebastian Müller. "Ich bin wohl auch
politisch vorbelastet", sagt der jüngste Freiburger Stadtrat
im gleichen Atemzug und meint damit seine Mutter, die CDU-Mitglied
ist. Schon im Alter von sieben Jahren, begleitete er sie bei der
Verteilung von Flugzetteln im Wahlkampf. Dass sein Engagement
für das weit linkere "Junge Freiburg" kein Aufbegehren gegen
die Eltern sei, ist ihm umso wichtiger. So überlegte er aber
doch, im Wahlkampf gegen seine Mutter anzutreten. "Das wäre
doch was für die Medien gewesen - Mutter CDU-Kandidatin, und
der Sohn bei einer jungen Liste", scherzt Sebastian Müller.
Doch es blieb bei konventionellen Kampagnemethoden, und der von
Lokaljournalisten verspottete "Taschengeldwahlkampf" zeitigte
Erfolg. "Unser Wahlkampf kostete 2.000 Euro. Die FDP blechte 20.000
Euro, und wir haben genau so viele Sitze wie die Liberalen." Mit
zwei Räten zog "Junges Freiburg" ins Rathaus in der
historischen Altstadt, wenige Wochen später stand die Bildung
einer Fraktionsgemeinschaft mit den Grünen fest. "Junges
Freiburg" sei überparteilich: "Unsere Mitglieder kommen aus
allen Parteien", sagt der 21-Jährige.
"Wir werden auch von älteren Leuten gewählt", stellt
Sebastian Müller fest und erklärt: "Unsere Politik
richtet sich nicht nur an junge Menschen." So sieht er wenig
persönlichen Spielraum in der Frage der Senkung des Wahlalters
und lehnt weitere Drogenlegalisierungen kategorisch ab. Und
trotzdem liest sich seine politische Leitlinie leicht: "Auf Kinder
und Jugendliche zu achten, fällt den Politikern schwer, weil
Jugendliche keine potentiellen Wähler sind. Wenn die jungen
Menschen glücklich sind, dann sind alle Menschen
glücklicher."
Dass dies wohl doch nicht immer so einfach zu sein scheint,
schiebt Sebastian Müller nur wenige Sätze später
nach. "Ein Konflikt in Freiburg sind bestimmte Grünanlagen.
Junge Leute möchten dort feiern, während viele
Ältere einfach nur ihre Ruhe haben wollen", sagt Sebastian
Müller.
Eher verwundert zeigt sich der Jüngste über einige
seiner älteren Kollegen im Gemeinderat: "Beim
Dreikönigstreffen sang der älteste Gemeinderat
plötzlich. Das war schon merkwürdig."
Der Piepser schlägt abermals Alarm. "Notfalleinsatz
Innenstadt", dröhnt es aus dem kleinen Lautsprecher. Die Akten
bleiben liegen, und nur wenige Minuten dauert die Fahrt mit
Blaulicht und Martinshorn. In einer Supermarktrolltreppe hat sich
ein knapp einjähriges Kind seinen Finger eingeklemmt. Ein
Fingerglied ist abgetrennt, doch das Mädchen scheint ruhig zu
sein, mustert mit großen Augen die Umstehenden. Sebastian
Müller beruhigt unterdessen die aufgeregte Pflegemutter. "Das
Interessante am Rettungsdienst ist, dass man mit Menschen in
unterschiedlichsten Lebenssituationen zu tun hat", erklärt
Sebastian Müller seine Leidenschaft für den Notfall. "Wir
fahren zu allen Menschen, vom Arbeitslosen bis zum
Universitätsprofessor oder Millionär." Auch meint er,
dass seine Berufsangabe auf dem Stimmzettel zusätzliche
Wähler brachte. Soziale Berufe hätten ein hohes Ansehen.
Weniger begeistert sind Sebastian Müllers Kollegen im
Rettungsdienst von seinem Amt. "Die nervt es, wenn ich wegen einer
Sitzung zu spät zum Schichtwechsel komme oder mal jemand
für mich einspringen muss." Durch seine Erfahrung hält er
es für nicht ganz leicht, ein Mandat mit dem Schichtdienst zu
vereinbaren. Wenn Sebastian Müller seine Ausbildung zum
Rettungsassistenten im Sommer dieses Jahres abgeschlossen hat, will
er Jura an der Universität Freiburg studieren. "Das hat mich
schon immer interessiert. Juristische Fragestellungen sind im
politischen Geschäft allgegenwärtig", sagt er, und
für einen kurzen Moment denkt man, Sebastian Müller sei
schon seit Jahrzehnten Bundesparlamentarier.
"Ich hatte mal einen Lehrer, der gesagt hat ?In 30 Jahren ist
der Müller Bundeskanzler'." Ein Landtagsmandat könnte er
sich durchaus gut vorstellen. "Da kann man schon einiges bewegen",
sagt Sebastian Müller und verweist auf die jüngste
deutsche Abgeordnete, Julia Bonk, die mit gerade mal 18 Jahren in
den Sächsischen Landtag einzog. Doch Zeit zum Überlegen
bleibt nicht, der schrille Ton des Piepsers tut in den Ohren weh.
Die Meldung: Atemnot. Vor dem Rathaus.
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