Robert Luchs
Der Pflege fehlt es an Zuwendung
Defizit wächst von Jahr zu Jahr / Private
Versicherung oder Steuermodell?
Die Bundesregierung hat die Reformbremse kräftig angezogen,
entweder aus politischer Opportunität oder weil den Menschen
nach Hartz IV nicht noch mehr Belastungen zugemutet werden sollen.
Dabei müssen weitere Projekte dringend angepackt werden, wie
die Reform der Pflegeversicherung, deren Finanzpolster schneller
dahinschmelzen, als noch im vergangenen Jahr erwartet.
Umsetzen musste die Koalition allerdings ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe: Eltern mit Kindern
müssen in der Pflegeversicherung "relativ" entlastet werden.
Wie dies geschehen soll, war lange umstritten. Anfang des
vergangenen Jahres hatte der von schlechten Umfragen beeindruckte
Bundeskanzler überraschend ein fertiges Konzept seiner
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt gestoppt. Der neue Plan kostet
Kinderlose nun das Doppelte bis Dreifache.
Inzwischen haben sich SPD und Grüne auf höhere
Beiträge für Kinderlose zur Pflegeversicherung
ver-ständigt. Die Familien zahlen weiter wie gehabt. Demnach
wird von allen Kinderlosen ab Januar 2005 ein Aufschlag von 0,25
Prozent erhoben. Bei einem Einkommen von knapp 3.500 Euro bedeutet
das eine monatliche Mehrbelastung von rund acht Euro.
Die Union hatte daran gedacht, Kinderlose nicht mit höheren
Beiträgen zu belegen, sondern Menschen zu belohnen, die Kinder
großziehen. Ihre Lösung sah vor, den Beitrag für
alle Versicherten um 0,11 Prozentpunkte anzuheben, aber allen
Eltern mit Kindern unter 18 Jahren dann pro Kind fünf Euro
pauschal zu erlassen. Auch hier sollte die Parität aufgegeben
werden, nur der Arbeitnehmeranteil an den Kosten der
Pflegeversicherung sollte steigen, während sich für die
Arbeitgeber nichts ändern sollte.
Bisher bringen Arbeitnehmer die Hälfte des Pflegebeitrages
von 1,7 Prozent auf. Bei Rentnern gilt nach Angaben der
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine
Übergangsfrist bis zum 1. April. Dann wird der Zuschlag bei
denen, die ihn zahlen müssen, rückwirkend für drei
Monate erhoben. Da Rentner seit April 2004 allein für den
Pflegbeitrag aufkommen müssen, werden dann einmalig 2,7
Prozent der Bezüge abgezogen. Danach sind es auf Dauer 1,95
Prozent.
Es wird damit gerechnet, dass durch die höheren
Beiträge für Kinderlose rund 800 Millionen Euro
zusammenkommen - ein Betrag mit dem sich die Pflegeversicherung nur
vorübergehend Luft verschaffen kann. Das Sozialministerium
geht davon aus, dass die Einnahmen in den kommenden Jahren um rund
700 Millionen Euro im Jahr hinter den Ausgaben zurückbleiben
werden. Bis Ende Oktober lagen die Ausgaben um 950 Millionen Euro
über den Einnahmen. Im Jahr der Bundestagswahl wird eine
Deckungslücke von dann bereits 1,28 Milliarden erwartet.
Die Grünen denken an die aufgrund der demografischen
Entwicklung schneller steigende Zahl der Demenzkranken. Diese
müssten besser versorgt werden, was auch wieder eine
Kostenfrage ist. Eine Absichtserklärung, für
altersverwirrte Menschen mehr Leistungen aus der Pflegeversicherung
bereit zu stellen, ist unzureichend und wird den wachsenden
Anforderungen in diesem Bereich nicht gerecht. Heute zeigen sich
die Folgen der Lebenseinstellung, dem Konsum den Vorzug vor Kindern
gegeben zu haben.
Von den knapp zwei Millionen Pflegebedürftigen, die zur
Zeit Leistungen aus der Pflegekasse beziehen, werden rund 530.000
Personen in Heimen versorgt. Und fast doppelt so viele müssen
mindestens einmal täglich versorgt werden und benötigen
mehrmals in der Woche eine Haushaltshilfe. Der Ersatzkassenver-band
VdAK plädiert dafür, den Grundsatz "ambulant vor
stationär" zu stärken, auch weil die Pflege in den
eigenen vier Wänden billiger ist. Inzwischen wird in Berlin
über eine "Demografiereserve" nachgedacht. Das bedeutet nichts
anderes, als angesichts der Bevölkerungsentwicklung endlich
vorzusorgen.
Unterdessen schmilzt der Kapitalstock der Pflege-versicherung
wie Butter an der Sonne. Das bedeutet aber auch: Immer weniger
Erwerbstätige müssen immer höhere Kosten tragen.
Nirgendwo zeigen sich die dramatischen Auswirkungen der Vergreisung
in Deutschland so deutlich wie im Pflegebereich. Das jetzige
Umlagesystem ignoriert diese Entwicklung.
Was also tun? Die Rürup-Kommission hatte vorgeschlagen, den
Kapitalstock der Pflegeversicherung zu erhöhen. Dazu solle der
Beitragssatz für Erwerbstätige bei 1,7 Prozent
eingefroren und für Ruheständler 2010 auf 3,2 Prozent und
ab 2035 auf 4,5 Prozent angehoben werden. Andere Experten halten
dies für das falsche Rezept und bemängeln, dass dieser
Kapitalstock zu schnell aufgebraucht sein werde. Sie fordern ein
kapitalgedecktes System, also eine private Pflichtversicherung.
Zugleich sollten einige Leistungen aus dem jetzigen Umlagesystem
weiter finanziert werden.
Personal wird knapp
In der öffentlichen Diskussion fordern nun sogar die
Wohlfahrtsverbände, die umlagefinanzierte Pflegeversicherung
abzuschaffen. Auch aus Sicht des Bundes der Steuerzahler hat die
Umlagefinanzierung keine Zukunft. Konkreter wird der
Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, der sich für
eine völlige Umstellung auf eine private Versicherung
ausspricht. Die heute über 60-Jährigen sollten in der
gesetzlichen Versicherung bleiben und einen Pauschalbeitrag von 50
Euro im Monat zahlen. Die Jüngeren sollten 0,7 Prozent ihres
Bruttoeinkommens in die gesetzliche Pflegeversicherung einzahlen
und zusätzlich eine private Versicherung abschließen, die
etwa 40 Euro im Monat kosten würde. Dieses Modell würde
erheblich teurer als die seit zehn Jahren bestehende
Pflegeversicherung. Der Trost des Experten: Ab 2024 schneide sein
Modell wieder besser ab. Dieser Vorschlag ähnelt den
Plänen, die Pflege über Steuern zu finanzieren. Dann
kämen nicht mehr nur die abhängig Beschäftigten
für die Gebrechlichen auf, sondern alle Steuerpflichtigen. Das
Steuermodell wäre aber zugleich ein weiterer Schritt weg von
einer lebenslang erarbeiteten Sozialleistung hin zur einer vom
Staat abhängigen Versorgung. Am Ende stünde eine "Pflege
nach Kassenlage", bei der doch wieder die Sozialhilfe einspringen
müsste.
Der Höchstsatz der gesetzlichen Pflegekasse deckt
keineswegs die Kosten eines Heimaufenthaltes. Für die
Differenz, die bis zu 100 Prozent betragen kann, muss der
Pflegebedürftige selbst aufkommen. Reicht das eigene Einkommen
nicht aus, springt das Sozialamt ein. Zuvor aber prüft es die
finanzielle Situation der Verwandtschaft; Kinder stehen
nämlich für ihre pflegebedürftigen Eltern in der
Pflicht. Dabei werden ihr Einkommen und das gesamte Vermögen
unter die Lupe genommen. Ein Trost: Die finanziellen Forderungen
dürfen wiederum nicht so hoch sein, dass die Nachkommen eine
dauerhafte Einschränkung ihres Lebensstandards in Kauf nehmen
müssen.
Da bei der Diskussion um die Pflege das Geld im Vordergrund
steht, kommen die personellen Auswirkungen zu kurz. Mit steigender
Lebenserwartung - ein unumkehrbarer Prozess, wie sich in den
letzten Jahren an der Statistik ablesen lässt - steigt auch
die Nachfrage nach Pflegepersonal. Dass zahlreiche Familien sich
der Hilfe von Polinnen versichern, mag in erster Linie finanzielle
Gründe haben, zeigt aber auch, dass ausgebildetes
Pflegepersonal knapp wird. Je mehr alte Menschen gepflegt werden
müssen, desto mehr gut ausgebildete Altenpflegerinnen werden
gebraucht. Eine Herausforderung, der die Gesellschaft sich endlich
stellen muss.
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