|
|
Ulrike Groop
"Ob wir das alles noch bezahlen
können?"
Wie manche westdeutsche Touristen den Osten
erleben und viel mit den Augen des Steuerzahlers
taxieren
60 Prozent der Westdeutschen kennen die neuen
Bundesländer nicht aus eigener Erfahrung. Die Beliebtheit von
Städtereisen in die Zentren Mitteldeutschlands wächst
jedoch zusehends, Spitzenreiter ist momentan Leipzig. Dort ist zu
beobachten, wie Touristen zwischen der Begeisterung für ein
lohnendes Reiseziel und dem mentalen Überdruss am Thema
"Aufbau Ost" schwanken.
Und die Plattenbauten da hinten am Bahnhof,
die sollten die auch noch abreißen", schlägt eine muntere
55-Jährige vor, als sie, kurz nach ihrer Ankunft in der Stadt,
in der Lobby ihres Hotels zu einem ersten Rundgang durch den
Innenstadtkern abgeholt wird. Abends wird eine andere Dame aus der
schwäbischen Reisegruppe den Satz aussprechen, der in diesen
Monaten in der Luft hängt, wenn westdeutsche Reisende die
touristischen Zentren Mitteldeutschlands besuchen: "Jetzt weiß
ich endlich, wo mein Solidaritäts-Zuschlag geblieben ist",
sagt sie zu ihrer Freundin. Die Begleiterin stimmt zu. Fast klingt
es etwas neidisch, als sie meint, dass es im Osten doch viel besser
aussehe, als dies im Fernsehen immer gezeigt werde. Ganz anders
kommt die erste Begegnung mit den neuen Bundesländern bei
einem Herrn an, der - halb im Scherz, halb im Ernst - moniert, dass
es trotz der Milliarden für den Aufbau Ost mancherorts noch
immer Schlaglöcher in den Straßen gebe. Zu
Stadtführer Matthias Lempe gewandt, fügt er in einer
Mischung aus Gutmütigkeit und Überheblichkeit hinzu:
"Aber das kriegt Ihr schon noch hin."
Lempe hat sich angewöhnt, in solchen
Situationen zu schweigen. Für die neuerdings lauter werdenden
Klagen seiner Landsleute über die Kosten der Wiedervereinigung
fühlt er sich "nicht zuständig". Und so verabschiedet
sich Lempe am Ende einer Tour manchmal recht zügig von seinen
Gästen, selbst wenn sich das Trinkgeld dadurch reduziert. Dies
fällt ihm um so leichter, als die Auftragslage trotz der
kalten Jahreszeit hervorragend ist. Leipzig erlebt einen wahren
Besucheransturm, die Wachstumsraten liegen im zweistelligen
Bereich. Niemals zuvor haben so viele Touristen aus dem In- und
Ausland die Stadt besucht, in der Vorweihnachtszeit meldeten die
Beherbergungsbetriebe Vollbelegung. Aber auch
Geschäftsreisende sowie Messe- und Kongressgäste spielen
eine wichtige Rolle. Und die 30.000 Studenten der Leipziger
Hochschulen laden Eltern und Freunde zum Besuch ein. Um acht
Prozent auf 1,6 Millionen wuchs die Zahl der offiziell
registrierten Übernachtungen im Jahr 2003, hinzu kommen
Hunderttausende, die privat logieren. Dies sind die höchsten
Steigerungsraten, die deutschlandweit registriert werden, berichtet
Andreas Schmidt vom Verkehrsverein der Stadt.
Bustouren spielen eine große
Rolle
Dabei spielt der Bus-Tourismus eine wachsende
Rolle. Tages- oder Kurzreisende, die lange nicht zu den
Lieblingsgästen der Reisebranche gehörten, ließen
nach einer Berechnung der örtlichen Industrie- und
Handelskammer im vergangenen Jahr fast 800 Millionen Euro in der
Stadt zurück. Mit gezielten Werbeaktionen, die Leipzig zum
Beispiel als Musik- und Kulturstadt für Studienreisen
anpreisen oder als Stadt des Sports, des Automobilbaus
(Neuansiedlungen von Porsche und BMW) und der Messe, gelang es in
jüngster Vergangenheit, neue Besucherschichten zu akquirieren.
Auch mit dem Handbuch "Busstopp Leipzig", das speziell an
Reiseveranstalter und ihre Busfahrer adressiert ist, landeten die
Tourismusmanager einen Erfolg, der ihnen für die Vermarktung
des Reiseziels Leipzig den "Bus-Oscar 2005" einbrachte, eine
begehrte Auszeichnung der Tourismus-Branche. Das Konzept, die Stadt
als geschichtsträchtige und zugleich junge, wirtschaftlich
aktive und lebenslustige Ausnahmeregion im Osten zu zeigen, die
sich vom ansonsten vermittelten tristen Bild der Neuen Länder
absetzt, geht auf. Und obwohl nach dem hämisch kommentierten
Ende der Träume um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012
ein Einbruch vorausgesagt worden war, ist davon bislang nichts zu
spüren. Im Gegenteil, die Zahlen lassen - nach dem Erfolgsjahr
2004 - auch für 2005 hervorragende Ergebnisse
erwarten.
Wer die Touristen aus den wichtigsten
Herkunftsregionen Bayern, Baden-Württemberg und Hessen bei
ihrem ersten Kontakt mit der Stadt, der häufig auch der erste
Kontakt mit den neuen Bundesländern ist, beobachtet, dem
fällt eine seltsame Diskrepanz auf: Die Begeisterung vieler
westdeutscher Reisender über die Stadt und ihre
Sehenswürdigkeiten steht in starkem Kontrast zu der Unlust,
gar Wut, mit der sie über den nach ihrer Einschätzung ins
Stocken geratenen Aufbau Ost räsonieren. Gelegenheit zu
ambivalenten Empfindungen gibt es zur Genüge, denn Leipzig
verkörpert in seinem Stadtbild - wie auch andere Städte
in Mitteldeutschland - sowohl das Gelingen als auch das Misslingen
der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation.
Erfahrene Reiseführer nehmen das Beispiel der
allgegenwärtigen Baustellen zur Illustration des
Stimmungswandels: Während sie mit ihren Hinweisen auf
Großbaustellen und weiterhin nötige Sanierungsarbeiten
viele Jahre lang bei ihren Gästen mitfühlende oder
anerkennende Freude auslösten, wird seit dem vergangenen
Sommer von Reisenden öfter einmal die Frage gestellt, "ob wir
das alles noch bezahlen können".
Mit dieser Frage wird Konstanze Hollitzer bei
einer Führung von Pensionären aus dem Ruhrgebiet nicht
konfrontiert. Die 31-Jährige, die im Hauptberuf Pianistin und
Klavierlehrerin ist und die Stadtspaziergänge "Auf den Spuren
der friedlichen Revolution des Jahres 1989" nur in ihrer Freizeit
anbietet, hat es heute wieder einmal erlebt: Es gibt sie noch, die
Damen und Herren, die Tränen in den Augen haben, als sie aus
dem Stasi-Museum in der "Runden Ecke" kommen und sich an die
Schikanen beim Grenzübertritt zum Verwandtenbesuch und an ihre
Freude beim Fall der Mauer erinnern. Zwar ist beim Gang durch die
Stadt auch immer wieder einmal zu vernehmen, "dass hier alles vom
Feinsten" renoviert wurde; und Konstanze Hollitzer hat in diesen
Monaten immer häufiger das Gefühl, "dass manche Touristen
die Stadt nur noch mit den Augen des Steuerzahlers taxieren". Weil
sie jedoch weiß, dass diese Reise für viele ihrer
Gäste die erste, späte Begegnung mit den Neuen
Bundesländern ist, erzählt sie lieber noch, wie wichtig
ihr und vielen Leipzigern Freiheit und Demokratie waren und sind.
Als sie an Originalschauplätzen berichtet, wie sie als
regimekritische Schülerin die Montagsdemonstrationen und das
Ende der DDR erlebte, ist zu spüren, wie groß das
zeitgeschichtliche Potenzial der jüngsten Geschichte der Stadt
ist.
Kein Wunder, dass sich dies nicht nur die
Tourismus-Manager der Stadt, sondern auch die Experten der
politischen Bildung gerne zunutze machen möchten, um Interesse
für den Prozess der deutschen Wiedervereinigung zu wecken.
Rainer Eckert, der Direktor des "Zeitgeschichtlichen Forums", des
einzigen großen ostdeutschen Veranstaltungszentrums und
Museums zur Geschichte der deutschen Teilung und Wiedervereinigung,
freut sich über eine starke Zunahme der Besuchergruppen, nicht
nur aus dem Ausland, sondern vor allem aus den alten
Bundesländern, die sich die Dauerausstellung über die
Geschichte von Diktatur, Widerstand und Zivilcourage in der
Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR
ansehen.
Die Museumspädagogen des inmitten des
touristischen Treibens zwischen Rathaus, Nikolaikirche und
Thomaskirche gelegenen Instituts haben eine anspruchsvolle Aufgabe
zu erfüllen. Denn das Basiswissen über das politische
System der DDR und die deutsche Wiedervereinigung nimmt ab - und
zwar sowohl in den neuen als auch in den alten Bundesländern.
Eine typische Reaktion auf Berichte und Dokumente über
Mauerbau, Schießbefehl und den Unterdrückungsapparat ist
bei jüngeren Besuchergruppen die ungläubige oder
entsetzte Nachfrage: "Ist das denn wirklich alles so schlimm
gewesen?" Letztlich könnte man den Eindruck gewinnen, dass die
Freude vieler Deutscher über die Wiedervereinigung
aufgebraucht ist. Und dass sich die meisten Menschen keine
Vorstellung mehr davon machen können, wie groß der
Zerfall einst war.
Möglich wäre das schon. Zwar ist
die wechselvolle Geschichte Leipzigs auf Faltblättern,
Stadtplänen und durch zahlreiche Gedenkstätten im
öffentlichen Raum vorbildlich dokumentiert. Informationen zu
Unterdrückung und Widerstand in den Jahren der DDR sind auf
weithin sichtbaren gelben Stelen für interessierte Passanten
problemlos auffindbar. Wer jedoch wissen möchte, wie
ruinös der Zustand der Stadt und ihrer (Bau-)Substanz in den
späten Jahren des real existierenden Sozialismus war, ist auf
Fotografien in Büchern angewiesen - oder muss auf eigene Faust
die Sanierungsgebiete abseits der touristischen Pfade aufsuchen.
Macht und Banalität des SED-Regimes sind für Fremde nur
noch in der "Runden Ecke" nachzuem-pfinden. Am einstigen Sitz der
Bezirksverwaltung der Staatssicherheit wird vom Bürgerkomitee
ein bescheiden ausgestattetes Museum betrieben, das durch die
Authentizität der Räumlichkeiten und Ausstellungsobjekte,
vor allem aber durch engagierte Führungen, glänzt. Dort
und im "Zeitgeschichtlichen Forum" trifft man neben
Sensationslustigen, die sich eine Art "Gruselkabinett" erwarten,
auf diejenigen Touristen, die sich für die jüngste
deutsche Geschichte interessieren. Oder aber - wie im Falle von
manchen Touristengruppen oder Schülern - von engagierten
Reiseleitern oder Lehrern erst auf die einmalige Chance hingewiesen
werden müssen, sich ein lebendiges Bild von der deutschen
Teilung und Wiedervereinigung zu machen.
Während ostdeutsche Jugendliche oder gar
Studenten heute schon Probleme mit Abkürzungen und Begriffen
wie FDGB oder FDJ haben, seien bei ihren westdeutschen
Altersgenossen in aller Regel "keinerlei Kenntnisse über die
deutsche Teilung mehr vorhanden", stellt Forums-Direktor Rainer
Eckert nüchtern fest.
Zurück zur Übersicht
|