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Thomas Meyer
Ein Blick weit über den Tellerrand
Die Gesellschaftsstruktur Deutschlands im
Vergleich
Die Sozialstrukturanalyse zählt zu den
herausragenden Forschungsgebieten der Soziologie. Sie zergliedert
die Gesellschaft in ihre relevanten Teilbereiche, untersucht die
zwischen ihnen bestehenden Wirkungszusammenhänge und fragt
nach den Perspektiven des sozialen Wandels. Obwohl hierzu im
deutschsprachigen Raum durchaus einige profunde Einführungen
existieren, ist die Publikation von Stefan Hradil, Professor
für Soziologie an der Universität Mainz, von besonderem
Reiz: Sein Lehrbuch ist das erste, welches die Entwicklung der
Sozialstruktur Deutschlands durchgehend mit derjenigen in anderen
Ländern vergleicht.
Im Einzelnen werden in jeweils eigenen
Kapiteln auf der Grundlage vielfältiger Daten, Befunde,
Tabellen und Schaubilder die Strukturen der Bevölkerung, der
Haushalte und Familien, der Erwerbstätigkeit und der Bildung,
der sozialen Ungleichheit, der sozialen Sicherung und der
kulturellen Lebensweisen dargestellt. Den theoretischen
Bezugsrahmen bildet ein Modell der Sozialstrukturentwicklung, dass
auf den Modernisierungstheorien der 50er- und 60er-Jahre
fußt.
Dessen erste Annahme lautet, dass sich alle
Gesellschaften der Welt früher oder später, schneller
oder langsamer modernisieren. Zweitens wird eine von der
vormodernen "Agrargesellschaft" über die moderne
"Industriegesellschaft" bis hin zur "Postindustriellen
Gesellschaft" reichende Entwicklung mit je einer typischen
Ausformung der Sozialstruktur unterstellt. Auf der Grundlage dieses
Modells, welches in den einzelnen Kapiteln noch ergänzt wird
durch speziellere Theorien zum Wandel einzelner Sozialstrukturen,
lautet durchgängig die Frage: Wie weit ist die Modernisierung
der einzelnen Gesellschaften in den jeweiligen Teilbereichen
gediehen? Und weiter: Wo liegen die Unterschiede, wo fallen sie
besonders auf?
Dem Autor ist es wichtig, dass die
gewählte Zugriffsweise lediglich als "heuristischer
Bezugsrahmen" dient, um "den Wald vor lauter Bäumen nicht aus
den Augen zu verlieren" und nationale Unterschiede einordnen zu
können. Eine umfassende "Richtigkeit" der
Modernisierungstheorie wird nicht behauptet. Im Gegenteil: Die
Studie zeigt, dass in vielen Ländern zentrale
sozialstrukturelle Entwicklungen den gängigen
Modellvorstellungen nicht entsprechen.
Beispielsweise greifen die Menschen, anders
als häufig angenommen wird, im Zuge der Modernisierung oft auf
traditionale Lebensweisen und Identitäten wie regionale
Bräuche, Vereinigungen und Zugehörigkeiten zurück.
Dementsprechend spielt die "Heimat" für viele Menschen eine
eher wachsende Rolle. Wichtiger noch ist vielleicht die Erkenntnis,
dass sich schicht- und klassenspezifische Lebensweisen auch in
einer postindustriellen Gesellschaft nicht auf dem Rückzug
befinden und dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen in
vielen modernen Gesellschaften wieder ungleicher geworden
ist.
Allerdings lassen sich auch - ganz im
Einklang mit dem Optimismus der Modernisierungstheorien -
"erfreulichere" Entwicklungstrends registrieren: So ist in allen
westeuropäischen und auch in den meisten übrigen
Ländern der Welt, Ausnahmen bilden die russische
Föderation und einige arme, von der AIDS-Epidemie betroffene
Länder Afrikas, die Lebenserwartung durchgehend angestiegen.
Weiter sind laut den Ergebnissen der Studie in allen mehr oder
minder modernen Gesellschaften anhaltende Prozesse der
Wohlstandsmehrung, des Beschäftigungswachstums und der
Liberalisierung der Lebensformen und Lebensweisen zu
beobachten.
Es zählt zu den Vorzügen der
komparativen Methode, dass sie einige Besonderheiten der
Sozialstruktur Deutschlands deutlich hervortreten lässt.
Beispielsweise wird der im Vergleich mit anderen modernen
Gesellschaften große Industrie- und kleine
Dienstleistungssektor offenkundig - ein Sachverhalt, der zusammen
mit den konservativen Einstellungen zur Familie bei weiten Teilen
der Bevölkerung und den nur allzu häufig anzutreffenden
Defiziten bei den Kinderbetreuungseinrichtungen dazu beiträgt,
dass die Frauen hierzulande schwächer als in anderen
westeuropäischen Gesellschaften in die Erwerbstätigkeit
einbezogen werden. Zugleich sind in der Bundesrepublik die Anteile
berufsorientierter Frauen, die keine oder erst sehr spät
Kinder bekommen, vergleichsweise hoch. In puncto Kinderlosigkeit
liegen die Deutschen in der Spitzengruppe der
EU-Länder.
Aber nicht nur die Defizite im Bereich der
Familie, sondern auch solche im Bildungssystem werden von Hradil
offengelegt. So wurde hierzulande, gemessen an der Quote der
Hochschulabsolventen im Verhältnis zu anderen Ländern,
"zu wenig Bildung produziert". Außerdem gelingt es, wie vor
allem die PISA-Studie nachgewiesen hat, hierzulande schlechter als
in vielen anderen Gesellschaften, Kindern aus niedrigen Schichten
den Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen zu
ermöglichen. Und ein letztes, ein besonders betrübliches
Ergebnis: Obschon es keinen allgemeinen Trend der Zunahme von Armut
in modernen Gesellschaften gibt, hat sie im wohlhabenden
Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wieder
zugenommen.
Unbeschadet aller Vorzüge der Studie
lassen sich einige Kritikpunkte anführen. Viele der im Text
und den Schaubildern versteckten Einzelbefunde hätten
unbedingt ausführlichere Interpretationen verdient.
Bedauerlich ist es auch, dass die gerade unter einer vergleichenden
Perspektive besonders ergiebigen Themen der
Geschlechterungleichheit, der Religion und der ethnischen
Minderheiten keine eigenständige Abhandlung erfahren;
Ausführungen hierzu verteilen sich über das ganze Buch
oder bleiben, wie im Falle der Religion, Mangelware.
Dies wiegt umso schwerer, da leider auf ein
die Nutzung erleichterndes Sachregister verzichtet wurde. An die
Stelle des eher unergiebigen Kapitels "Kultur und Lebensweise" und
des allzu knappen Ausblicks im zehnten Kapitel hätte man sich
nach der intensiven Auseinanderstzung bei Einzelaspekten doch noch
eine bilanzierende Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
insgesamt gewünscht.
Diese (kleineren) Schwächen können
den positiven Gesamteindruck allerdings kaum trüben. Insgesamt
zeigt das mit zahllosen interessanten Informationen gespickte Werk
eindrucksvoll, wie stark die Sozialstrukturanalyse generell und
insbesondere auch hier in Deutschland von einer stärker
internationalen Ausrichtung zu profitieren vermag. Da der Autor
eine klare, vom oftmals sperrigen Jargon der Sozialwissenschaften
befreite Sprache beherzigt, ist das Fach- und Lehrbuch durchaus
auch einem breiteren Publikum zu empfehlen.
Stefan Hradil
Die Sozialstruktur Deutschlands im
internationalen Vergleich.
VS Verlag für Sozialwissenschaften,
Wiesbaden 2004; 304 S., 24,90 Euro
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