Peter Dudek
Das neue Lernfeld
Menschenrechtspädagogik
Einwanderungsgesellschaft als
Tatsache
In den Auseinandersetzungen um die Migrationsthematik ging in
den letzten Jahren der Streit eher um die Frage, ob die
Bundesrepublik ein Einwanderungsland sein will als um die
Anerkennung der Tatsache, dass sie wie andere europäische
Länder längst eine Einwanderungsgesellschaft ist. Erst
allmählich, aber irreversibel, bricht sich die Einsicht Bahn,
dass Migration nicht vor den Grenzen Halt macht, sondern dass
unsere Gesellschaft - auch bei gegenwärtig leicht
rückgängigen Einwanderungszahlen - gezwungen ist, auf die
"Tatsache Einwanderungsgesellschaft" angemessen und
verantwortungsvoll zu reagieren.
Unter anderem - so sehen es die beiden Soziologen an der
Fachhochschule Freiburg - birgt diese Tatsache eine
bildungspolitische und bildungspraktische Herausforderung in sich,
der bislang nur unzureichend Rechnung getragen wurde. Dem wollen
sie abhelfen. Ihnen kommt es darauf an, sowohl theoretische
Analysen und Reflexionen als auch kritische Auseinandersetzungen
mit Vorschlägen für die alltägliche Bildungspraxis
zu verknüpfen und zugleich eigene Materialien und
Vorschläge für eine angemessene Bildungspraxis zu
unterbreiten. Diese laufen auf eine Antidiskriminierungsperspektive
hinaus.
Der theoretisch ambitionierte und empirisch fundierte Band
verwendet leider eine hochkomplexe Fachsprache, wie sie
Forschungsberichten zwar gemeinhin eigen ist, aber die
flüssige Lesbarkeit für ein breiteres Publikum sehr
erschwert. Die Autoren haben ihre Studie in acht größere
Kapitel gegliedert. Sie beginnen unter Bezug auf die
einschlägigen Fachdiskussionen mit einer ausführlichen
Erläuterung zentraler Begriffe wie Diskriminierung,
Fremdenfeindlichkeit oder Rechtsextremismus. Das zweite Kapitel
fasst die Ergebnisse von Länderrecherchen zusammen, bei denen
am Beispiel der Bildungspolitik und -praxis Englands, Kanadas und
Frankreichs nach praxisbezogenen Anregungen für die
bundesdeutsche Situation gesucht wurde.
Im Zentrum des Buches stehen drei Themen. Zunächst werden
Grundlagen einer Menschenrechtspädagogik skizziert, deren
Aufgabe es sei, "eine Möglichkeit zur Auseinandersetzung
über die moralischen und normativen Grundlagen zu bieten, die
einer Kritik von Ungleichheiten und Diskriminierungen und ihren
Rechtfertigungen zu Grunde gelegt werden können". Zentraler
Lerngegenstand einer solchen Pädagogik müssten die
gesellschaftliche Formen von Diskriminierung, Entrechtung und
Demütigung sein. Konkretisiert werden diese Überlegungen
durch ausgewählte Materialien, Konzepte und
Unterrichtsbeispiele, welche die Methodik und Didaktik der
Menschrechtspädagogik fundieren sollen.
Dann werden Programmatiken und Konzepte der
Diversity-Pädagogik diskutiert, um so zu einer Kritik
rechtsextremer Ordnungsmodelle vorzustoßen. Der letzte
größere Bereich dient den Grenzen und Möglichkeiten
des historisch-politischen Lernens zu Nationalsozialismus und
Holocaust sowie der Präsentation ausgewählter
Unterrichtsmaterialien und Seminarkonzepte zu Rassismus und
Rechtsextremismus.
Dabei wollen Hormel und Scherr in erster Linie zeigen, wie eine
historisch orientierte Bildungspraxis, "die den Nationalsozialismus
und Holocaust thematisiert, zur Entwicklung von Distanz und
Kritikfähigkeit gegenüber fremdenfeindlichen,
rechtsextremen und rassistischen Überzeugungen sowie zu
Aneignung menschenrechtlicher Prinzipien beitragen kann".
Damit begeben sich die Autoren auf ein Feld, das in der
sozialpädagogischen Forschung seit den 80er-Jahren durchaus
kontrovers diskutiert wird und zwischen den Extremen einer
"akzeptierenden Jugendarbeit" und einer
Konfrontationspädagogik gegenüber rechtsextremen
Jugendlichen oszilliert. Eine wirklich schlüssige Antwort wird
der Leser letztlich auch hier nicht finden, wenngleich das Buch
gerade in den eher praxisorientierten Passagen durchaus
interessante Anregungspotentiale enthält.
Andererseits sind die Spuren eines elaborierten
Forschungsberichtes nicht zu übersehen, was den potentiellen
Leserkreis vermutlich auf das akademische Fachpublikum begrenzen
wird. Aber sicher ist es ein Verdienst der Autoren, die bislang
getrennt geführten Debatten über die
Bildungsbenachteiligung von Migranten einerseits und die
Erfordernisse einer antirassistischen und interkulturellen
Pädagogik gedanklich zusammengeführt zu haben. Ob
Pädagogik in der Praxis die ihr damit gestellten Aufgaben
erfolgreich bearbeiten kann, steht auf einem anderen Blatt. Skepsis
wäre hier eher ein guter Ratgeber, auch wenn dies nicht den
Intentionen der Autoren entspricht.
Ulrike Hormel / Albert Scherr
Bildung für die Einwanderungsgesellschaft.
Perspektiven der Auseinandersetzung mit struktureller,
institutioneller und interaktioneller Diskriminierung,
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004; 330
S., 29, 90 Euro
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