Ilse Nagelschmidt
Wandel und Veränderung als Chance
Nachdenken über eine "ostdeutsche
Identität"
Beim Lesen der ersten Seite offenbart sich bereits die
Schnelllebigkeit unserer Zeit. Während die Herausgeberinnen
noch von der Protestwelle gegen die Hartz-IV-Gesetze in
Ostdeutschland sprechen, hat sich diese längst aufgelöst.
Vorbei ist auch die Hoch-Zeit der Ostalgie-Shows sowie die Flut von
Texten, die sich mit ostdeutscher Entwicklung und Befindlichkeit
auseinandersetzt.
Vor einem Jahr titelte die Zeitschrift "Literaturen" in ihrer
Frühjahrsnummer: "Wolfs Revier. Aufschwung Ost im Leseland."
Diese Erscheinungen liegen hinter uns. Wichtig bleibt aber,
Geschlechterpolitik und -arrangements in Zeiten des "neoliberalen
Gesellschaftsumbaus" (Irene Dölling) vor dem Hintergrund
sowohl der Geschlechterverhältnisse in der DDR und dem Mythos
der Gleichberechtigung als auch der Neuausrichtung moderner
Geschlechterverhältnisse in Ostdeutschland differenziert zu
betrachten und Ableitungen für künftige
Gesellschaftsstrukturen zu treffen.
Dieser Band, der in sich nicht homogen ist, versteht sich als
das Ergebnis eines seit 2001 bestehenden interdisziplinären
Arbeitskreises, der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung angesiedelt
ist. In der von Eva Schäfer verantworteten Einleitung wird ein
Hauptproblem thematisiert, das die meisten Beiträge durchzieht
und schließlich in der Nachbetrachtung von Susanne Völker
in erweiterten Zusammenhängen diskutiert wird: die ostdeutsche
Identität.
Wechselspiele
Dieser verschwommene und methodologisch nicht eindeutig
bestimmte Begriff erlaubt es vielfach nicht, zu den eigentlichen
Mechanismen vorzudringen, so dass Verbindendes angenommen wird, wo
Trennendes besteht. Die Autorin ist sich dessen bewusst. Sie greift
die Ausführungen von Dölling zum Wechselspiel von
Irritationen und Passungen auf und verwendet dann die von Stuart
Hall im Rahmen des postkolonialen Diskurses zu Beginn der
90er-Jahre gebrauchte Argumentation der "hybriden Identität"
als Muster sich neu konstituierender "Mischformen". Damit kann der
permanente Wandel heterogener Bevölkerung in den
spätmodernen Gesellschaften umfassend beschrieben werden.
Das in großen Passagen durchaus spannend zu lesende Buch
ist in drei Hauptkapitel gegliedert. Zu Beginn werden aus
gesellschaftstheoretischer Perspektive die strukturellen
Veränderungen in ihren Konsequenzen für die
Geschlechterverhältnisse und -arrangements in Ostdeutschland
sowie in Bulgarien und Russland offengelegt. Nachdenkenswert ist
die von Dölling aufgeworfene Frage nach dem "biografischen
Gepäck", das Frauen und Männer in die sich
verändernde Gesellschaft einzubringen haben.
Veränderungsprozesse werden somit in ihrer besonderen
Ambivalenz gesehen.
Im zweiten Teil wird aus kulturtheoretischen und biografischen
Blickwinkeln der Frage nachgegangen, wie Identitäten
insbesondere in Ostdeutschland hergestellt werden, wie die
Einzelnen mit den Erfahrungen des Systemwechsels ihren Platz
bestimmen. Obwohl viele Fragestellungen und Ansätze meinen
Widerspruch hervorrufen, finde ich die Darlegungen zu
Männlichkeits- und Identitätskonstruktionen ostdeutscher
Männer beachtlich. Die vielfach eingeklagte
"Männerforschung" zeigt hier nachhaltige Ergebnisse.
Im dritten Teil werden Geschlechterpolitiken in der
Transformation untersucht. Es wird danach gefragt, auf welch neue
Weise die Kategorie Geschlecht als hierarchisierendes
Klassifizierungsprinzip in die politischen Umbauprozesse eingeht
und welche Herausforderungen für alternative
Gegenentwürfe daraus erwachsen. Auch hier mehren sich auf
meinem Lektürespiegel die Fragezeichen. Die Schärfe des
ersten Teils wird verwässert; einmal mehr zeigt sich die
Notwendigkeit der exakten Bestimmung historischer Orte.
Trotz mancher Irritationen ist dieser Band einem wachen
Lesepublikum zu empfehlen, da viele Fragestellungen die
gegenwärtigen Umbauprozesse berühren. Die "Irritation
Ostdeutschland" erweist sich als Chance, gesamtdeutsche
Veränderungen im Spiegel der Geschlechterverhältnisse zu
erfassen.
Eva Schäfer, Ina Dietzsch, Petra Drauschke, Iris Peinl,
Virginia Penrose, Sylka Scholz, Susanne Völker (Hrsg.)
Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse in
Deutschland seit der Wende.
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2005; 252
S., 19,90 Euro
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