Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
-
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
-
Homepage des Bundestages | Startseite | Volltextsuche | Ausgabenarchiv | Abonnement | Impressum | Links
-

Volltextsuche
Das Parlament
Nr. 22 / 30.05.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

Zur Druckversion
Ilse Nagelschmidt

Wandel und Veränderung als Chance

Nachdenken über eine "ostdeutsche Identität"

Beim Lesen der ersten Seite offenbart sich bereits die Schnelllebigkeit unserer Zeit. Während die Herausgeberinnen noch von der Protestwelle gegen die Hartz-IV-Gesetze in Ostdeutschland sprechen, hat sich diese längst aufgelöst. Vorbei ist auch die Hoch-Zeit der Ostalgie-Shows sowie die Flut von Texten, die sich mit ostdeutscher Entwicklung und Befindlichkeit auseinandersetzt.

Vor einem Jahr titelte die Zeitschrift "Literaturen" in ihrer Frühjahrsnummer: "Wolfs Revier. Aufschwung Ost im Leseland." Diese Erscheinungen liegen hinter uns. Wichtig bleibt aber, Geschlechterpolitik und -arrangements in Zeiten des "neoliberalen Gesellschaftsumbaus" (Irene Dölling) vor dem Hintergrund sowohl der Geschlechterverhältnisse in der DDR und dem Mythos der Gleichberechtigung als auch der Neuausrichtung moderner Geschlechterverhältnisse in Ostdeutschland differenziert zu betrachten und Ableitungen für künftige Gesellschaftsstrukturen zu treffen.

Dieser Band, der in sich nicht homogen ist, versteht sich als das Ergebnis eines seit 2001 bestehenden interdisziplinären Arbeitskreises, der bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung angesiedelt ist. In der von Eva Schäfer verantworteten Einleitung wird ein Hauptproblem thematisiert, das die meisten Beiträge durchzieht und schließlich in der Nachbetrachtung von Susanne Völker in erweiterten Zusammenhängen diskutiert wird: die ostdeutsche Identität.

Wechselspiele

Dieser verschwommene und methodologisch nicht eindeutig bestimmte Begriff erlaubt es vielfach nicht, zu den eigentlichen Mechanismen vorzudringen, so dass Verbindendes angenommen wird, wo Trennendes besteht. Die Autorin ist sich dessen bewusst. Sie greift die Ausführungen von Dölling zum Wechselspiel von Irritationen und Passungen auf und verwendet dann die von Stuart Hall im Rahmen des postkolonialen Diskurses zu Beginn der 90er-Jahre gebrauchte Argumentation der "hybriden Identität" als Muster sich neu konstituierender "Mischformen". Damit kann der permanente Wandel heterogener Bevölkerung in den spätmodernen Gesellschaften umfassend beschrieben werden.

Das in großen Passagen durchaus spannend zu lesende Buch ist in drei Hauptkapitel gegliedert. Zu Beginn werden aus gesellschaftstheoretischer Perspektive die strukturellen Veränderungen in ihren Konsequenzen für die Geschlechterverhältnisse und -arrangements in Ostdeutschland sowie in Bulgarien und Russland offengelegt. Nachdenkenswert ist die von Dölling aufgeworfene Frage nach dem "biografischen Gepäck", das Frauen und Männer in die sich verändernde Gesellschaft einzubringen haben. Veränderungsprozesse werden somit in ihrer besonderen Ambivalenz gesehen.

Im zweiten Teil wird aus kulturtheoretischen und biografischen Blickwinkeln der Frage nachgegangen, wie Identitäten insbesondere in Ostdeutschland hergestellt werden, wie die Einzelnen mit den Erfahrungen des Systemwechsels ihren Platz bestimmen. Obwohl viele Fragestellungen und Ansätze meinen Widerspruch hervorrufen, finde ich die Darlegungen zu Männlichkeits- und Identitätskonstruktionen ostdeutscher Männer beachtlich. Die vielfach eingeklagte "Männerforschung" zeigt hier nachhaltige Ergebnisse.

Im dritten Teil werden Geschlechterpolitiken in der Transformation untersucht. Es wird danach gefragt, auf welch neue Weise die Kategorie Geschlecht als hierarchisierendes Klassifizierungsprinzip in die politischen Umbauprozesse eingeht und welche Herausforderungen für alternative Gegenentwürfe daraus erwachsen. Auch hier mehren sich auf meinem Lektürespiegel die Fragezeichen. Die Schärfe des ersten Teils wird verwässert; einmal mehr zeigt sich die Notwendigkeit der exakten Bestimmung historischer Orte.

Trotz mancher Irritationen ist dieser Band einem wachen Lesepublikum zu empfehlen, da viele Fragestellungen die gegenwärtigen Umbauprozesse berühren. Die "Irritation Ostdeutschland" erweist sich als Chance, gesamtdeutsche Veränderungen im Spiegel der Geschlechterverhältnisse zu erfassen.


Eva Schäfer, Ina Dietzsch, Petra Drauschke, Iris Peinl, Virginia Penrose, Sylka Scholz, Susanne Völker (Hrsg.)

Irritation Ostdeutschland. Geschlechterverhältnisse in Deutschland seit der Wende.

Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2005; 252 S., 19,90 Euro

Zur Inhaltsübersicht Zurück zur Übersicht