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Rita Heck
Europas soziale Fundamente
Das neue Jahrbuch des Wissenschaftszentrums
Berlin
Seit einigen Jahren schon hat sich das
Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) die Aufgabe gestellt, wichtige
gesellschaftliche Fragestellungen und Probleme in kondensierter
Form zu präsentieren. So auch mit diesem Jahrbuch, das auf
eine große internationale Tagung zum "europäischen
Sozialmodell" im Jahr 2003 zurückgeht und das hier durch
mehrere interdisziplinäre Beiträge ergänzt
wurde.
Es geht den Herausgebern im wesentlichen
darum, das europäische Sozialmodell aus den
unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen - Soziologie,
Ökonomie, Recht, Politik und Geschichte - darzustellen und
gleichzeitig in einem internationalen Vergleich Unterschiede,
Gemeinsamkeiten und wechselseitige Beeinflussungen der einzelnen
Sozialmodelle aufzuzeigen. Von besonderer Bedeutung ist die
Transnationalisierung des europäischen Sozialmodells durch
internationale, multi- und bilaterale Verträge und Abkommen,
hier vor allem die Regelungskompetenzen der Europäischen
Union.
Es ist für alle politisch
Verantwortlichen außerordentlich wichtig, Europa nicht nur
politisch und wirtschaftlich zusammenwachsen zu lassen, sondern
sein soziale Fundament, das ein entscheidendes europäisches
Merkmal gegenüber anderen Kontinenten darstellt, für die
Zukunft zu festigen und den wechselnden gesellschaftlichen
Bedingungen anzupassen.
Für die Diskussion sind mehrere Faktoren
von Bedeutung: einmal der Wandel der Familie, zum anderen der
demographische Wandel, also die drastische Veränderung der
Alterstruktur aufgrund sinkender Geburtenraten und steigender
Lebenserwartung. Hinzu kommen Risiken, die sich durch
Veränderungen im Arbeitsleben ergeben: diskontinuierliche
Erwerbsverläufe, rasches Veralten von Wissen durch neue
Technologien, unsichere Einkommensverhältnisse. Diese
Entwicklungen stellen nicht nur Geschlechter- und
Generationenverhältnisse in Frage, sondern belasten auch das
bisher bestehende und vor allem akzeptierte
Solidarsystem.
Der erste Teil des Jahrbuches widmet sich
ausführlich der jüngeren Geschichte des europäischen
Sozialmodells und stellt die Entwicklung etwa seit dem 16.
Jahrhundert dar, in der soziale Sicherung weitgehend als kommunale
Armenpolitik vorgenommen wurde, gefolgt von der staatlichen
Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts bis hin zur modernen
Wohlfahrtspolitik der 50er- bis zu den 70er-Jahre, häufig als
Glanzzeit des Wohlfahrtsstaates bezeichnet. In diesen Jahren war
ein wirtschaftlicher Boom zu verzeichnen; zugleich waren sie
geprägt sowohl von der Privilegierung verschiedener Gruppen -
Beamte, Selbständige, aber auch Angestellte - und der
Focussierung des Wohlfahrtsstaates auf die Lohnarbeit als auch von
der Orientierung auf ein Familienmodell, das sich in der
Zwischenzeit erheblich gewandelt hat.
Bis in die frühen 70er-Jahre waren
bestimmend die soziale Sicherung der Migranten und die zunehmende
Gleichstellung und Gleichbehandlung von Mann und Frau; daneben ging
es für die europäische Gemeinschaft um eine
sozialpolitische Programmatik. Maastricht kann dabei angesehen
werden als Auslöser einer intensivierten politischen
Integration Europas, während der Vertrag von Amsterdam zur
weiteren Konsolidierung der Europäischen Sozialgemeinschaft
beigetragen hat. Geprägt war diese Phase vor allem durch
Einkommens- und Statussicherung im Alter, bei Krankheit und bei
Arbeitslosigkeit.
Der zweite Teil "Das europäische
Sozialmodell in vergleichender Perspektive" zeigt, dass diese
Kontinuitätslinie wohl für die west- und
südeuropäischen Länder gilt, jedoch nicht oder nur
sehr eingeschränkt für die Staaten Osteuropas. Die
Autoren erläutern die Entwicklung in Ostmitteleuropa sowie das
japanische Modell in seiner Dimension zwischen Eigenverantwortung
und staatlicher sozialer Sicherheit. In der Betrachtung der
Situation in Lateinamerika und mit Blick auf die australische
Perspektive wird hervorgehoben, dass eine zu starke Liberalisierung
sich eher negativ auf die Betroffenen auswirkt; aufgezeigt werden
neue Modelle einer solidarischen Risikoverteilung zwischen
Individuen, Betrieben, Sozialpartnern und dem Staat. Im Vergleich
zwischen Europa und den USA wird besonders die extrem hohe
Ungleichheit von Löhnen, Einkommen und Lebensstandards in den
USA gegenüber der übrigen westlichen Welt
deutlich.
Den dritten Teil des Jahrbuchs bildet das
Thema "Transnationale Perspektiven des europäischen
Sozialmodells", das sich den Bereichen der Gesundheits-, Renten,
Alten- und Arbeitsmarktspolitik widmet. Besondere Beachtung findet
dabei die Darstellung der "Offenen Methode der Koordinierung", die
ein Instrument darstellt, "das die freiwillige Kooperation und den
Austausch bewährter Verfahren zwischen den EU-Mitgliedstaaten
verbessern und ihnen eine Hilfestellung bei der Weiterentwicklung
ihrer nationalstaatlichen Politik geben soll". Dies soll geschehen
über die Entwicklungen von Leitlinien, quantitativen und
qualitativen Indikatoren, Überwachung und Bewertung der
Maßnahmen und Fortschritte. Schlüsselakteure sollen dabei
der Europäische Rat, die Kommission und die
EU-Ministerräte sein.
Der letzte Teil des Jahrbuchs widmet sich
institutionellen und rechtlichen Aspekten. Es geht um Kulturen, um
Gewohnheiten, Traditionen und Wertestrukturen im Zusammenhang mit
der Entwicklung von Basisinstitutionen wie Familie, Geschlechter-
und Generationenverhältnissen , Arbeits- und
Sozialverhältnissen. Die Autoren zeigen, dass ein
Zusammenschluss der EU-Länder ökonomisch und politisch
noch nicht gleichzeitig auch die Ausrichtung auf ein einheitliches
europäisches Sozialmodell im Hinblick auf die oben genannten
Punkte bedeutet.
Das Jahrbuch versammelt namhafte
Wissenschaftler zu einem Thema von zentraler Bedeutung. Alle
Autoren verdeutlichen, dass die Vielfalt europäischer
Sozialmodelle als reicher Fundus genutzt werden kann, damit alle
EU-Länder ihren eigenen Traditionen gemäße
Anpassungsen an die gemeinsamen Herausforderungen entwickeln
können. Einer europäischen Verfassung mit exakt
festgelegten Kompetenzen und einer gleichzeitigen Akzeptanz durch
seine Bewohner kommt dabei eine entscheidende Bedeutung zu, wobei
die ökonomische Entwicklung und beschäftigungspolitische
Effekte nicht isoliert betrachtet werden können. Für
Politiker und sozialpolitisch Interessierte kann das Jahrbuch 2004
als notwendige Lektüre bezeichnet werden.
Hartmut Kaelble / Günther Schmid (Hrsg.)
Das europäische
Sozialmodell.
Auf dem Weg zum transnationalen
Sozialstaat.
WZB Jahrbuch 2004.
Edition Sigma, Berlin 2004; 455 S., 27,90
Euro
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