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Michael Münch
Erinnerung ohne Revanchismus
Damals ...vor zehn Jahren am 1. Juni 1995: Kohl
nimmt in seiner Regierungserklärung Stellung zur
Vertriebenenfrage
Der politische Dialog ist mit herkömmlichen Gesprächen
nicht zu vergleichen. Unterschiede gibt es im Gesprächsinhalt,
in der Wortwahl und oftmals im zeitlichen Horizont. Nicht immer
folgen Rede und Gegenrede, Frage und Antwort Schlag auf Schlag.
Fünf Jahre scheinen jedoch auch im politischen Dialog eine
lange Zeit zu sein, insbesondere wenn es um ein außenpolitisch
sensibles Thema wie die Vertriebenenfrage geht. Bereits 1990
brandmarkte der tschechoslowakische Präsident Václav
Havel die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945 als Verbrechen
und bewertete die Benes-Dekrete sehr kritisch. Damit ging Havel
einen großen Schritt in Richtung Aussöhnung mit den
Deutschen, dem jedoch lange Zeit keine offizielle politische
Antwort seitens der Bundesrepublik folgte.
Erst in seiner Regierungserklärung vom 1. Juni 1995
verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), die "ausgestreckte
Hand" der Tschechen ergreifen zu wollen. Die von vielen
Bundestagsabgeordneten und ausländischen Politikern erhoffte
endgültige Absage an die Entschädigungsforderungen der
Sudetendeutschen erteilte Kohl aber nicht. Stattdessen würde
es "auf der Grundlage beiderseitiger Wahrhaftigkeit (…) zu
vernünftigen Regelungen" mit Tschechien kommen.
Vernünftig bedeutete dabei nicht, die eine Ungerechtigkeit
durch die andere aufzuwiegen, um anschließend die Höhe
der Entschädigungszahlung zu errechnen, sondern den NS-Opfern
auf der einen Seite sowie den Vertriebenen auf der anderen Seite
gleichermaßen zu helfen.
Als der Bundeskanzler den 30. Januar 1933 und den Angriffskrieg
gegen Polen durch das nationalsozialistische Regime als die
alleinigen Ursachen für die Vertreibung der deutschen
Zivilbevölkerung herausstellte, fand er damit
fraktionsübergreifende Zustimmung. "Wer etwas anderes
behauptet, hat nichts, aber auch gar nichts aus der Geschichte
gelernt", gab Helmut Kohl zu verstehen. Die Erinnerung an das
Geschehene dürfte aber auf keinen Fall revanchistische
Gedanken zum Ausdruck bringen. Ebenso wäre es laut Kohl
falsch, vor dem Schicksal der Heimatvertriebenen die Augen zu
verschließen. Vielmehr müsste man deren politische
Leistung würdigen. Die Vertriebenen hätten sich gegen
eine Radikalisierung verwehrt und seien nicht den Demagogen
gefolgt. Stattdessen hätten sie sich 1950 in ihrer
"Stuttgarter Charta" für freundschaftliche Beziehungen zu den
Nachbarstaaten Deutschlands ausgesprochen und damit ein
Musterbeispiel politischer Kultur gegeben.
Als unschätzbar stufte Kohl auch die wirtschaftliche
Bedeutung der zwölf Millionen zumeist komplett enteigneten
Flüchtlinge ein. Ihr Fleiß und ihr Wille, "sich wieder
hochzuarbeiten, für ihre Kinder eine neue Zukunft zu schaffen,
wurde zu einem gewaltigen, außerordentlichen Gewinn für
den Wiederaufbau unserer deutschen Volkswirtschaft". Im Gegenzug
hätten alle Deutschen die Integration der Vertriebenen in
einem enormen solidarischen Akt bewältigt, worauf sie
"durchaus stolz sein" könnten.
Da Helmut Kohl in seiner Rede wichtige Facetten der
Vertriebenenfrage überging, erhielt er teils starken Gegenwind
aus der Opposition. Peter Glotz (SPD) äußerte zwar
grundlegende Übereinstimmung mit den Aussagen des Kanzlers,
mahnte jedoch an, dass es auch Vertriebenenfunktionäre gegeben
hätte, die gegen die "Ostpolitik Willy Brandts gehetzt haben".
Außerdem hätte die jetzige Regierung die Beziehungen zu
Tschechien "leider verschlampen lassen". Laut Glotz sollten die
Entschädigungsforderungen der Sudetendeutschen nicht
länger an die Entschädigung der NS-Opfer gebunden werden.
Stattdessen empfahl der SPD-Politiker die Errichtung einer
Stiftung, die gemeinsame Projekte zwischen beiden Völkern
voranbringt. Denn die beste Form der Wiedergutmachung sei es,
dafür zu sorgen, dass "in der Gegenwart nicht das Gleiche
geschieht, was in der Vergangenheit geschehen ist".
Auch in Tschechien rief die Regierungserklärung Kohls ein
gespaltenes Meinungsbild hervor. Einerseits sahen
Staatspräsident Václav Havel und Parlamentspräsident
Milan Uhde die Äußerungen des Bundeskanzlers als
"Entgegenkommen" an. Andererseits kritisierte die tschechische
Presse, dass die deutsche Regierung die Verknüpfung zwischen
den Zahlungen an die Opfer der NS-Herrschaft und der
Entschädigung der Sudetendeutschen noch immer nicht eindeutig
aufgehoben hatte. Das deutsche Verhältnis zu den tschechischen
Nachbarn blieb somit nach wie vor umstritten. Und der langwierige
politische Dialog, der mehr und mehr zu einem Feilschen um
Entschädigungszahlungen wurde, fand seine Fortsetzung.
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