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Jens Tönnesmann
"Wir haben hier doch alles - außer
chinesischen Löhnen"
Ein Tag im Leben eines Betriebsrats
Die Kollegen in den blauen Overalls kennen ihn
alle, "den Kattwinkel". Wenn Betriebsrat Frank Kattwinkel durch die
Produktionshalle "Einzelteilfertigung" läuft, in der es
rattert, hämmert und zischt, schauen die Männer mit den
ölfleckigen Händen von den Maschinen hoch, klopfen ihm
auf die Schulter oder boxen ihm freundlich in den Bauch.
"Kattwinkel, ich will mit 55 in Rente", sagt
einer. "Wenn Du mir aus Griechenland Ouzo mitbringst", sagt
Kattwinkel. Beide lachen. Der Kattwinkel ist einer von ihnen, war
er schon immer. Auch wenn er den blauen Overall gegen Hemd und
Kragen getauscht hat und in seinen Händen inzwischen
öfter das Betriebsverfassungsgesetz hält als den
Schweißkolben. 20 Jahre stand der Kattwinkel hinter den
Maschinen, bevor er 2002 hauptamtlicher Betriebsrat der GKN
Walterscheid GmbH in Lohmar wurde.
Wenn er heute mit den Herren im Anzug aus
England verhandelt, wird ein kleines Unternehmen im Rheinland zum
Mikrokosmos der Republik: Kattwinkel kämpft dagegen, dass die
englischen Eigentümer Teile des Betriebs ins Ausland verlagern
oder aus der Tarifbindung ausscheren. Er streitet für
Ausbildungsplätze und Mitbestimmung.
Dollarzeichen in den Augen
Walterscheid in Lohmar, eine Stadt mit 32.000
Einwohnern bei Köln, das ist eine lange Geschichte. 1919 wurde
das Unternehmen von Jean Walterscheid gegründet. Erst
produzierte es Fahrradteile, dann Achswellen, zu Kriegszeiten
Rüstungsgüter und seitdem Gelenkwellen für die
Landwirtschaft. Sie dienen dazu, Kraft und Lenkbewegungen zu
übertragen, etwa von einem Traktor auf einen Pflug. In den
Fünfzigern blühte das Unternehmen auf. 1951, so steht auf
der Internetseite, übernahm es erstmals die Kosten für
die Ferienfahrten der Mitarbeiter. "Aber irgendwann blinkten
Dollarzeichen in den Augen der Inhaber, und der Betrieb wurde
verkauft", sagt Kattwinkel. 1964 trat der Betrieb einem deutschen
Unternehmensverbund bei. Zwei Jahre später, kurz nachdem
für die damals 1.600 Walterscheider die 40-Stunden-Woche
eingeführt worden war, beteiligte sich das britische
Unternehmen GKN am deutschen Verbund. Ein paar Jahre später
übernahm es ihn und den Lohmarer Betrieb komplett.
Der Weltkonzern GKN plc. erzielt einen
Jahresumsatz von 6,7 Milliarden Euro und beschäftigt in mehr
als 40 Ländern fast 50.000 Mitarbeiter. An der
Hauptstraße in Lohmar sind es noch etwa 650. "Und es werden
schleichend weniger", sagt Frank Kattwinkel, "15 bis 20 Stellen
gehen jedes Jahr verloren."
In der kleinen Eingangshalle stehen zwei
Männer in Anzügen mit ernstem Blick und Aktentasche. Sie
mus-tern eine Vitrine, in der Gelenkwellen und Kupplungen mit
Walterscheid-Aufdruck liegen. Sie sprechen Englisch. "Wissen Sie",
flüstert Frank Kattwinkel, "früher konnten wir unseren
Geschäftsführern und Personalern in die Augen sehen und
uns auf das gesprochene Wort verlassen. Aber heute haben die doch
gar nichts mehr zu sagen. Die bekommen ihre Weisungen aus England.
Und da gilt: Je weniger Mitarbeiter, umso höher der
Aktienkurs."
Es hat sich eben einiges geändert,
seitdem Kattwinkel 1982 seine Lehre als Dreher bei Walterscheid
begann. 35 Lehrlinge waren es damals - wer wollte, konnte nach der
Lehre bleiben. Sechs Azubis gibt es bei Walterscheid heute -
bleiben kann, wer Glück hat. Aus festen Schichten wurden
flexible Arbeitszeiten. "Die Mitarbeiter sind ihrem Unternehmen
gegenüber durchaus verantwortungsbewusst", sagt Kattwinkel,
den es aufregt, wenn die FDP fordert, die paritätische
Mitbestimmung abzuschaffen. "Wir sind schon viel flexibler
geworden. Einzelne Arbeitsgruppen können ohne weiteres 25 bis
45 Stunden Wochenarbeitszeit vereinbaren. Und wenn der Laden
brummt, stimmen wir ohne große Diskussionen einer weiteren
Zusatzschicht zu."
Aus Einzelakkord wurde Gruppenakkord. Im
"GabelCenter" in der großen Halle etwa. Dort werden
Stahlgabeln für die Gelenke der Antriebswellen hergestellt.
Mannshohe Prägemaschinen fräsen den Stahl
millimetergenau. Die Arbeiter tragen Schutzbrillen und gelbe
Ohrstöpsel. An der Wand hängen bunte Papiere in
Klarsichthüllen. Sie zeigen, wie das Gabel-Center-Team
gearbeitet hat. Über einer Kurve steht
"Qualitätsdiagramm". Über einer anderen:
"Krankenstatistik - Ziel: weniger als drei Prozent". Die
wichtig-ste Kurve ist die Prämienkurve. 580 Euro bekommen die
Männer im Monat -- wenn sie genug herstellen. "Ein Viertel des
Gehalts hängt von der Leistung ab", sagt Kattwinkel, "eine
ganze Menge für die Jungs."
Frank Kattwinkel ist kein betonköpfiger
"Besitzstandswahrer", mit dem man nicht über
Arbeitszeitmodelle und Zielvereinbarungen reden könnte. Zwar
steht er bei Warnstreiks der IG Metall mit dem Megaphon vor dem
Betriebstor. Den Morgenkaffee trinkt er aus der roten
IG-Metall-Tasse, und an seiner Bürotür klebt ein
Aufkleber, auf dem eine lachende Sonne und die Überschrift
"35-Stunden-Woche" abgebildet sind. Aber er weiß genau, wie
wichtig die "vertrauensvolle Zusammenarbeit" mit der
Geschäftsleitung ist. "Den Interessenkonflikt zwischen
Existenzsicherung des Unternehmens und dem Wohl der Mitarbeiter,
den spüren wir täglich", sagt Kattwinkel. Als Betriebsrat
muss er zwischen beidem abwägen. Er muss vermitteln - zwischen
Beschäftigten, die sich in die Wolle kriegen; zwischen
Personalern und Mitarbeitern, wenn es Streit um eine Versetzung
gibt; zwischen der Unternehmensleitung und der Belegschaft. Er
verkauft seinen Kollegen, warum Überstunden nötig sind,
wenn die Auftragsbücher voll sind. Er überzeugt die
Geschäftsleitung, dass sie im Sommerloch eine Abbauphase
für die Überstunden einplant. Er muss nach Kompromissen
suchen und Mehrheiten finden.
Das musste er erst mal lernen. Kurz nachdem
er 1994 in den Betriebsrat gewählt wurde, kündigte die
Unternehmensleitung eine Betriebsvereinbarung über das
Weihnachtsgeld. "Ich habe gleich gedacht: Das zahlen wir denen mit
gleicher Münze zurück, wir lehnen jeden Antrag auf
Mehrarbeit ab", erinnert sich Kattwinkel. "Aber ich wurde im
Betriebsrat überstimmt. Heute kann ich das nachvollziehen. Mit
der Brechstange und dem Betriebsverfassungsgesetz unterm Arm - das
geht nicht."
Frank Kattwinkels Einsatz für die
Arbeitnehmer begann kurz nach seiner Lehre. So, wie sie bei
Betriebsräten meistens beginnt: Er wurde Vertrauensmann der IG
Metall. Vertrauensleute halten den Kontakt zur Belegschaft. "Die
sind das Pflaster auf dem Finger, das Mädchen für alles",
sagt Kattwinkel. Im Tarifvertrag kommen die Vertrauensleute nicht
vor, müssen heimlich, während der Arbeit oder in den
Pausen agieren. "Trotzdem sind sie unverzichtbar", sagt Frank
Kattwinkel. Für den Kontakt zur Basis, als Stimmungsbarometer.
Wer sonst kann Kattwinkel sagen, ob die Belegschaft rauskommt, wenn
er ruft?
Nach seiner Wahl in den Betriebsrat 1994
standen erst mal Seminare der Gewerkschaft auf dem Plan. "Ohne die
geht es nicht - da muss man Freizeit opfern." Das sagt er auch dem
Kollegen, der das Wochenende lieber nicht in den Seminarräumen
der IG Metall zubringen will. Aber das neue
Entgelt-Rahmen-Abkommen, über das Gewerkschaften und
Arbeitgeberverbände seit Jahren verhandelt haben, "ist eine
völlig neue Materie, in die wir uns einarbeiten müssen",
sagt Kattwinkel. "Da kannst du nicht fehlen."
Die wichtigsten Lektionen hat Kattwinkel
nicht in Seminaren gelernt. Sondern in der Realität. 1999, als
die Herren aus England eine Idee aus dem Aktenkoffer zogen, die
für einen Weltkonzern heutzutage keineswegs untypisch ist: Um
Produktionseinheiten zusammenzuziehen, verlagerten sie die
Herstellung von Antriebswellen nach Italien. "Stress hoch drei.
Aber wir wollten die Arbeitsplätze retten", erinnert sich
Kattwinkel. Am Ende fand man für die meisten der 140
betroffenen Mitarbeiter eine Regelung. "Richtig rausgeworfen wurde
niemand." Ohne den Betriebsrat und die Unterstützung durch die
IG Metall wäre das nicht drin gewesen, glaubt er.
Die Verlagerung konnte er nicht aufhalten.
Auch ein neues Getriebe, das in Lohmar entwickelt wurde und das
einen Millionenumsatz einspielen soll, soll nicht in Lohmar,
sondern in Sachsen produziert werden. "Dort werden Investitionen
vom Land bezuschusst", sagt Kattwinkel. "Wir können hier noch
so gut sein: Dagegen können wir doch gar nicht
gewinnen."
Jeden Tag sitzt Kattwinkel ab sieben Uhr
früh in seinem Büro. Der erste Kollege, der heute an
seine Tür klopft, wirkt nervös. Er ist in Geldnöten.
"Das Auto ist kaputt. Und ich brauch das ja", sagt er und
vergräbt seine Hände in den Taschen des Overalls.
"Könnten die mir nicht einen Vorschuss für die
Überstunden zahlen?" fragt er. "Eigentlich geht das nicht,
aber ich werde mal mit der Personalabteilung reden", sagt
Kattwinkel. Später kommt ein anderer Kollege vorbei. "Mein
Vorgesetzter hat mich einfach in ein anderes Team versetzt", sagt
er aufgeregt. "Der Arbeitgeber hat Direktionsrecht und kann Dich
für maximal vier Wochen ohne Weiteres versetzen", erklärt
Kattwinkel, ohne ins Gesetzbuch schauen zu müssen, "aber ich
setze mich mit Deinem Vorgesetzen in Verbindung." Der Dritte, der
anklopft, will den Betrieb verlassen und hofft auf eine Abfindung.
Kattwinkel: "Da muss ich geschickt bei den Personalern
argumentieren: Er könnte einen anderen Arbeitsplatz retten, er
war lange im Betrieb. Vielleicht klappt das dann."
An der Wand in Kattwinkels Büro
hängt ein großer Kalender voller bunter Punkte.
Grüne Punkte zeigen informelle Informationsrunden an, schwarze
stehen für den "Entlohnungssausschuss". Blaue Punkte für
den "Konzernbetriebsrat". Wenn es nach den Engländern geht,
kann Kattwinkel die blauen Punkte bald vom Kalender abknibbeln.
Durch einen Beherrschungsvertrag zwischen dem britischen
Mutterkonzern GKN und dem Verbund der deutschen
Tochtergesellschaften soll der Konzernbetriebsrat der deutschen
Gruppe entfallen. Auch der Aufsichtsrat des Verbunds soll
gestrichen werden. "Für uns ist das eine Möglichkeit der
Mitbestimmung", sagt Kattwinkel, "aber denen ist das lästig,
dafür dreimal im Jahr nach Deutschland zu kommen. Manchmal
klimpern die im Laptop herum, während wir diskutieren. Das
sagt doch alles."
Der Organisationsgrad nimmt ab
"Wenn man Verantwortung übernimmt,
bekommt man eben die Gegner gleich mit dazu", sagt Kattwinkel. Aber
er hat gelernt, ihnen Paroli zu bieten. Als der Betrieb plante, in
einem Jahr keine neuen Auszubildenden einzustellen, drohte
Kattwinkel kurzerhand mit Streik. Und als man in England auf die
Idee kam, mit der Lohmarer Tochter, die einst die Ferienfahrten
ihrer Mitarbeiter zahlte, aus dem Arbeitgeberverband "mit
Tarifbindung" in einen Verband "ohne Tarifbindung" zu wechseln,
ging er aufs Ganze. "Das war ein Tabubruch. Wir haben klar gemacht:
An dem Tag, an dem ihr austretet, ist es mit der guten
Zusammenarbeit vorbei. Wir hätten den Betrieb völlig lahm
gelegt."
Die Belegschaft sah es genauso, die
Gewerkschaft unterstützte die Aktion. "Seitdem ist wieder Ruhe
auf dem Schiff", sagt Kattwinkel. Außerdem traten 40 Kollegen
in die Gewerkschaft ein.
Im Moment sind noch zwei Drittel der 650
Walterscheider Mitglieder in der IG Metall. Aber der
Organisationsgrad nimmt wie in den meisten Betrieben ab. Immer mehr
Mitarbeiter treten aus oder gar nicht erst ein, immer mehr
Leiharbeiter stehen in den Fertigungshallen. Frank Kattwinkel ist
40 Jahre alt - und damit schon einer der jüngsten im
13-köpfigen Walterscheider Betriebsrat. "Er verkörpert
die junge Generation", sagt Kollege Manuel da Silva, der jeden Tag
zuverlässig auf eine Tasse Kaffee bei Kattwinkel vorbei kommt.
Da Silva ist seit 40 Jahren bei Walterscheid und seit 1975 Mitglied
des Betriebsrats. "Manchmal muss ich den Kattwinkel zur Geduld
mahnen. Aber oft ermahnt er auch mich: Du alter Knacker musst dich
umstellen." Beide lachen. Kattwinkel nimmt noch einen Schluck aus
der IG-Metall-Tasse. "Es ist schwerer geworden für uns
Betriebsräte. Die Diskussionen um Globalisierung haben Spuren
hinterlassen, die Leute haben Angst um ihren Arbeitsplatz", sagt er
nachdenklich. "Dabei dient das Thema den Arbeitgebern auch als
Vorwand. Flexibilität, Forschergeist, Motivation - das haben
wir hier doch alles. Nur chinesische Löhne halt
nicht."
Jens Tönnesmann arbeitet als freier Journalist in
Köln.
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