Annette Sach
"Angst ist kein Wegbegleiter für
Reformen"
Interview mit dem früheren Arbeits- und
Sozialminister Norbert Blüm
Der langjährige Arbeits- und Sozialminister
Norbert Blüm (Jahrgang 1935) stand vor seiner politischen
Karriere selbst jahrelang an der Werkbank. Er engagierte sich
früh in der Gewerkschaft und für die Belange der
Arbeitnehmer innerhalb der CDU. Bis heute kämpft er für
soziale Gerechtigkeit.
Das Parlament: Herr Blüm, die
Arbeitslosigkeit in Deutschland befindet sich auf einem
Rekordniveau. Haben Sie eine Idee für den Weg aus der
Krise?
Norbert Blüm: Ja, die Leute
wollen jeden Tag eine neue Idee - ob sie sich umsetzen lässt,
spielt gar keine Rolle. Wir haben ein Feuerwerk an kreativen Ideen
und das Ergebnis fällt wie Mehltau auf die Wirtschaft: Angst!
Und Angst ist kein Wegbegleiter für Reformen. Dieses Klima der
Verunsicherung ist das Ergebnis dieser geschwätzigen Politik.
Wir leben im Zeitalter der "Besprecher", aber was gefragt ist, sind
"Bearbeiter".
Das Parlament: Was sollen die denn
konkret tun?
Norbert Blüm: Wir brauchen keine
chinesischen Pinseltuschzeichnungen, sondern Holzschnitt und dazu
gehört für mich ein einfaches Steuersystem, eines das
nicht weiterhin die Großen begünstigt. Dabei meine ich
vor allem ein einfaches System für den Mittelstand, denn der
kleine Handwerksmeister kann nicht morgens um fünf Uhr
aufstehen, um zu studieren, welche Hilfen er beantragen
kann.
Das Parlament: Und die großen
Konzerne?
Norbert Blüm: Wenn
beschäftigungspolitische Besserung kommt, dann kommt sie, wie
ein Blick in die letzten zehn Jahre beweist, nicht von den
Großbetrieben. Für was brauchen wir also bitte die
großen Kapitalgesellschaften? Die meisten schwimmen im Geld
und entlassen trotzdem Leute. Das heißt doch, je höher
der Gewinn, umso mehr Entlassungen. Oder vielleicht umgekehrt, je
mehr Entlassungen, umso höher steigt der Kurswert. Eine solche
Wirtschaft ist verrückt geworden.
Das Parlament: Das klingt nach
Kapitalismuskritik. Geht der Maßnahmenkatalog à la
Müntefering in die richtige Richtung?
Norbert Blüm: Papst Johannes Paul
II. hat seine Kritik des Kapitalismus schärfer formuliert als
Müntefering. Wenn Kostensenkung die bevorzugte Maxime der
Globalisierung ist, gewinnt der, welcher am erfolgreichsten
ausbeutet. Teppiche mit Kinderarbeit sind eben billiger als mit
anständigem Lohn! Große Fondsgesellschaften haben mit dem
Unternehmen als Personenverbund wenig am Hut. Es interessiert nur
der Tageskurs der Börse. Verlässlichkeit adé! Es
wird fusioniert und filetiert auf Teufel komm heraus.
Das Parlament: Sind gerade in dieser
Diskussion nicht auch die Gewerkschaften gefragt?
Norbert Blüm: Die Gewerkschaften
hätten verdient, dass anerkannt wird, wie vernünftig ihre
Lohnpolitik in den letzten Jahren war. Ich sehe da eine große
Bereitschaft zur Flexibilisierung. Man kann eigentlich nur warnen,
jetzt an die Stelle der Tarifverträge Betriebstarife zu
setzen. Das brächte eine Unberechenbarkeit in die deutsche
Wirtschaft und eine große Störanfälligkeit. Wenn sie
die Tarifautonomie aushebeln, dann folgt in der Konsequenz
staatlicher Mindestlohn. Denn auch der Staat muss sich davor
schützen, ausgebeutet zu werden. Hungerlöhne zwingen ihn,
mit Fürsorge einzuspringen.
Das Parlament: Wie meinen Sie
das?
Norbert Blüm: Wenn per
Vereinbarung Hungerlöhne möglich sind, denn muss der
Staat den Rest bis zur Existenzsicherung zahlen. Das können
Sie in Amerika studieren. 50 Prozent der
Führsorgeempfänger haben einen Job. Was lehrt mich das?
Dass sie von ihrem Job alleine nicht leben können. Ein solches
System ist übergeschnappt.
Das Parlament: Aber zurück zu den
Betrieben. Beispiel Opel. War der Arbeitskampf bei dem
Automobilhersteller ein Beispiel für ein sinnvolles
Betriebsbündnis oder eines für den künstlichen
Erhalt von nicht mehr konkurrenzfähigen
Arbeitsplätzen?
Norbert Blüm: Opel ist für
mich ein Lehrstück, ein Musterbeispiel, wohin eine
Managementphilosophie führt, die nur an Kosten denkt. Und mehr
Sachverstand als das Management der letzten 20 Jahre haben die
Betriebsräte allemal - die hatten dort in 20 Jahren 15
Vorstandsvorsitzende. Aber gerade die Zugehörigkeit zum
Unternehmen und die Motivation sind ganz wichtige Leistungsfaktoren
und die haben die Kostensparer mit System vermasselt.
Das Parlament: Aber daran können
doch auch die Gewerkschaften nicht ganz unbeteiligt gewesen sein.
Was können sie in ihrer Strategie anders machen?
Norbert Blüm: Ich bin seit
über 55 Jahren Gewerkschafter und bleibe es auch, obwohl ich
in der IG Metall drei Ausschlussanträge zu überleben
hatte. Ich denke, die Gewerkschaften brauchen Reformen. Die
Strategie, je größer desto besser, ich fürchte, die
war falsch. Die Gewerkschaften müssen näher am Betrieb
sein. Und sie haben auch interne Strategiedifferenzen nicht
überwunden. Zwischen IG Chemie und IG Metall klaffen zwei
Welten. Das sehen die Gegner der Gewerkschaften mit
Genuss.
Das Parlament: Wo können die
Gewerkschaften ansetzen?
Norbert Blüm: Ich glaube, der
Tarifvertrag kann noch intelligenter werden. Er muss den Menschen
wieder Sicherheit bringen. Viele Tarifverträge werden durch
Arbeitsverhältnisse unterlaufen, die überhaupt nicht mehr
richtig geregelt sind. Es schwindet jede Sicherheit aus dem
Arbeitsverhältnis mit weit reichenden und, wie ich glaube,
kulturellen Folgen. Es ist bemerkenswert: Da haben wir Jahrtausende
gebraucht, um sesshaft zu werden, und jetzt sollen wir wieder
Nomaden werden.
Das Parlament: Aber steht da nicht
Sicherheit contra Flexibiliät?
Norbert Blüm: Das halte ich
für eine Phrase, mit Verlaub gesagt. Auf dem deutschen
Arbeitsmarkt wechseln pro Jahr rund acht Millionen Arbeitnehmer den
Arbeitsplatz. Und den Anhängern einer Beseitigung des
Kündigungsschutzes, wünsche ich mal einen Besuch in einem
amerikanischen Unternehmen. Da sagt am Freitagabend ein leitender
Mitarbeiter "Auf Wiedersehen" und am Montagmorgen arbeitet er bei
der Konkurrenz. Kündigungsschutz bedeutet doch nicht nur
Sicherheit für den Arbeitnehmer, sondern auch für den
Arbeitgeber. Die deutsche Stammbelegschaft ist ein Rückgrat
für Zuverlässigkeit und Identifikation für den
Betrieb. Wenn wir jetzt ein allgemeines Wander- und Nomadentum
etablieren, fällt das alles weg.
Das Parlament: Ist dieser
partnerschaftliche Gedanke in Zeiten immer härterer Konkurrenz
nicht schon ein Relikt aus alter Zeit?
Norbert Blüm: Der
partnerschaftliche Gedanke war die Alternative zum Klassenkampf und
der Klassenkampf war die marxistische Therapie. Nun ist der
Marxismus mit einem großem Knall zusammengebrochen, und jetzt
schließen die Kapitalisten daraus, sie bräuchten ihr
System nicht mehr durch soziale Verantwortung zu legitimieren.
Solange es den Ost-West-Gegensatz gab, war der Sozialstaat ein Teil
der Legitimationsbasis des westlichen Systems. Wir waren nicht nur
wirtschaftlich erfolgreicher, sondern auch sozialer. Nachdem die
Konkurrenz weggefallen ist, nehmen jetzt die "Chicago-Boys"
(angebotsorientierte Ökonomen der Universität Chicago,
Anm. d. Red.) an, das wäre jetzt ihre Stunde.
Das Parlament: Und sind die Gewinner
der Globalisierung?
Norbert Blüm: Auch eine weltweite
Politik ist auf ein Gleichgewicht der Kräfte angewiesen. Ich
habe eben gesagt, die Gewerkschaften müssen näher am
Betrieb sein und sie müssen zugleich globaler agieren. Da muss
es eine Arbeitsteilung geben: Die Einzelgewerkschaften machen die
betrieblichen Sachen und die nationale und internationale Politik
macht der Dachverband des DGB. Aber diesen Spagat zu schaffen -
einerseits Betriebsnähe, andererseits Weltweite - ist
schwer.
Das Parlament: Wie sehen Sie die
Chancen Ihre Ideen umzusetzen, zum Beispiel in Ihrer
Partei?
Norbert Blüm: Im Moment ist das
nicht gerade die Hochzeit für meine Ideen. Es ist eher eine
neoliberale Zwischenphase. Das ist wie in einem Rausch: Wenn Du
Dich besäufst, ist es sehr euphorisch. Aber anschließend
kommt der Kater. Ich entdecke die Anzeichen des Katers schon
weltweit. Die Leute haben kapiert, dass sie beschissen
werden.
Das Parlament: Wird es Ihrer Meinung
nach eine Art "Internationaler Revolution" geben?
Norbert Blüm: Ja, ob das eine
Revolution ist - ich hoffe, kluge Leute werden die Gefahr
rechtzeitig erkennen. Aber das neoliberale Muster
Kostenkürzung-Kostensenkung-Deregulierung-Individualisierung-Flexibilisierung
hält der Mensch nicht aus.
Das Parlament: Brauchen wir eine
"neue" soziale Marktwirtschaft?
Norbert Blüm: Ich bin mit dem
"neu" etwas sparsam. Eigentlich ist es die Besinnung auf die
Ordnungsprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, jetzt allerdings
unter den Bedingungen einer globalen Wirtschaft. Im Grunde musst du
da gar nichts Neues erfinden; du musst nur das, was erfolgreich
war, in einem größeren Maßstab verwirklichen, unter
anderen Bedingungen. Es wird kein Nationalstaat sein, der Rettung
bringt. Die internationale Politik wird wichtiger und ein Ansatz
ist Europa. Wenn dieses Europa nur ein Europa der Banken sein soll,
dann wird es kein Europa, das Zukunft hat.
Das Parlament: Aber werden wir in
Zukunft überhaupt noch genügend Arbeit haben?
Norbert Blüm: Es gibt dazu zwei
Denkschulen: Die Arbeit geht uns wegen des technischen Fortschritts
aus. Ich schließe mich aber der zweiten an: Angesichts einer
Welt, in der 20 Prozent von 80 Prozent der Erdengüter leben,
angesichts einer Welt, in der 600 Millionen Menschen kein Dach
über dem Kopf und unzählige Menschen keine gesunde
Wasserversorgung haben - da zu sagen, die Arbeit geht uns aus, das
kann nur eine Verwechslung zwischen dem eigenen Nabel und dem
Mittelpunkt der Welt sein. Wenn die armen Länder entwickelt
werden, gibt es auch mehr Arbeit für die entwickelten
Länder.
Das Parlament: Woher nehmen Sie Ihren
Optimismus?
Norbert Blüm: Ich bin von Natur
aus Optimist. Daran werden die ganzen Marketing-Spezialisten und
Psycho-Experten nichts ändern. Die Natur des Menschen, sein
Wesen, ist stärker. Dagegen kommt auf Dauer auch das Geld
nicht an. Der Mensch will arbeiten, will sehen, was er macht; er
will Freude haben, er will zugehörig sein, er verlangt nach
Anerkennung. Kein Geld der Welt kann ihm diesen Hunger nach
Anerkennung nehmen. Er will in seinem Betrieb anerkannt sein, er
will zugehörig sein, er will "mein Betrieb" sagen. Er ist kein
Sandkörnchen in einer flexiblen Welt von morgen.
Das Parlament: Herr Blüm, vielen
Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Annette Sach
Annette Sach ist Redakteurin bei "Das
Parlament".
Zurück zur Übersicht
|