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Thomas Dieterich
Tarifverträge - eine unsinnige Fessel?
Das Prinzip der Tarifautonomie gerät immer
mehr in die Kritik
Tarifautonomie ist ein freiheitliches Konzept. Die Beteiligten
des Arbeitslebens, also Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sollen ihre
Angelegenheiten selbst ordnen, indem sie verhandlungsfähige
Verbände bilden, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände,
die dann in Tarifverträgen die maßgebenden Regeln
schaffen. Auf diese Weise soll ihr konfliktträchtiger
Interessengegensatz ausgeglichen werden. Die Regeln, die
Tarifvertragsparteien für ihren Zuständigkeitsbereich
aushandeln, sind für alle Verbandsmitglieder verbindlich und
können auch über den Mitgliederkreis hinaus als
Richtschnur dienen.
Dieses Konzept ist nicht etwa die Erfindung eines weit
schauenden Staatsmannes. Es war zunächst eine Notlösung.
Die ökonomischen und politischen Umwälzungen der
"industriellen Revolution" in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts hatten die neue Klasse der Industriearbeiterschaft
entstehen lassen, auf deren Ausbeutung und Not der Staat keine
Antwort kannte. Das führte zu sozialen Explosionen: Lange,
verbissene, zum Teil sogar blutige Arbeitskämpfe, verbunden
mit bitterer Not und wirtschaftlichen Zusammenbrüchen. Die
Wortführer der jeweiligen Gruppen, die Gewerkschaften und die
Unternehmen, sahen sich schließlich zu der Einsicht gezwungen,
dass sie die Konflikte mit ihren eigenen Methoden lösen und
sozial befriedende Formen des Ausgleichs finden müssen. Mit
kollektiven Verträgen regelten sie die Arbeitsbedingungen,
zwar räumlich und zeitlich begrenzt, aber für ihre
Mitglieder verbindlich und verbunden mit wechselseitiger
Friedenspflicht.
Dieses Modell erwies sich als so plausibel und
leis-tungsfähig, dass es sich mit Variationen in allen
westlichen Industrienationen durchsetzte, zunächst ohne
rechtliche Grundlage. Schnell wurde es zum Kennzeichen
freiheitlicher Gesellschaftsordnung und sozialer
Rechtsstaatlichkeit.
Natürlich haben es die Nationalsozialisten sofort
abgeschafft. Ebenso konsequent aber wurde es nach 1945 wieder
eingeführt. Mit dem Tarifvertragsgesetz erhielt es schon 1949
eine gesetzliche Grundlage, die bis heute maßgebend geblieben
ist.
Das Grundgesetz hat das vorstehend beschriebene Schutzkonzept
grundrechtlich abgesichert. Artikel 9 Abs. 3 formuliert allerdings
nur die Freiheit, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und
Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden". Das
Bundesverfassungsgericht hat aber von Anfang an klargestellt, dass
damit zugleich das gesamte Ausgleichsverfahren "kollektiver
Privatautonomie" gewährleistet werden soll. Koalitionsfreiheit
ist ja nur in Verbindung mit der Tarifautonomie effektiv und
sinnvoll. Dazu gehören dann allerdings auch tarifbezogene
Arbeitskämpfe, die die erforderliche Verhandlungsbereitschaft
der Gegenseite erzwingen wollen. Absprachen oder Maßnahmen,
die diese Freiheiten einschränken oder behindern, sind nach
Art. 9 Abs. 3 Satz 2 rechtswidrig.
Aber nicht nur die sozialen Gegenspieler sind als Akteure
eingebunden, auch der Staat selbst wird verpflichtet, und zwar in
zweifacher Weise: Zum einen muss er die Voraussetzungen schaffen,
von denen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie
abhängt. Zum anderen muss er den Gestaltungsfreiraum der
Tarifvertragsparteien respektieren. Das Bundesverfassungsgericht
hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Staat nicht
untätig bleiben und einfach zusehen darf, wenn "strukturell
ungleiche Verhandlungsstärke" in der Vertragspraxis dazu
führt, dass ein Vertragspartner dem Kontrahenten seinen Willen
aufzwingen und sein Übergewicht in unfairer Weise ausnutzen
kann. Genau das ist aber das Grundproblem des Arbeitsrechts. Die
internationale Sozialgeschichte hat zu der Erkenntnis geführt,
dass Arbeitsverträge fairen Interessenausgleich nicht
gewährleisten können. Hier hilft die Tarifautonomie als
bewährtes und staatsentlastendes Ausgleichsverfahren für
die typische Schieflage des Arbeitsmarktes. Gesetzgebung und
Rechtsprechung können und dürfen weitgehend darauf
vertrauen, dass die Tarifvertragsparteien angemessene Lösungen
finden. Davon gehen sogar die Arbeitgeber bei ihrer Vertragspraxis
aus; es ist üblich, dass Unternehmen, die gar nicht
tarifgebunden sind, tarifliche Regelungen ohne Rücksicht auf
die Gewerkschaftszugehörigkeit ihrer Arbeitnehmer anwenden.
Niemand zwingt sie dazu, es hat sich aber als sinnvoll und
praktikabel bewährt. Tarifautonomie und Vertragsfreiheit sind
also rechtlich und wirtschaftlich eng miteinander verbunden.
Die Funktionsfähigkeit des kollektiven Vertragsrechts ist
allerdings an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die der Staat
durch Gesetzgebung und Rechtsprechung nur teilweise schaffen kann.
Die Grenze seiner Möglichkeiten ist zugleich die Grenze seiner
verfassungsrechtlichen Pflichten. Immerhin hat er dafür zu
sorgen, dass Tarifverhandlungen nicht durch einseitige Interessen
blockiert werden können. Und es muss gesichert sein, dass die
tarifvertraglichen Regelungen sich in der Praxis des Arbeitslebens
tatsächlich durchsetzen lassen. Deshalb haben
Tarifverträge normative Wirkung, gestützt und
ergänzt durch effizienten Rechtsschutz. Diese rechtliche
Absicherung ist verfassungsrechtlich geboten und stellt den
Verbänden des Arbeitslebens ein funktionsfähiges
Instrument zur Verfügung. Wirksam im Sinne der
verfassungsrechtlichen Erwartungen wird dieses Instrument aber nur,
wenn es auch genutzt wird. Das setzt durchsetzungsstarke und
kompromissfähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
voraus. Und hier zeigen sich Krisensymptome. Beide sozialen
Gegenspieler leiden unter starkem Mitgliederverlust als Reaktion
auf wesentlich veränderte Interessenlagen. Der globale
Wettbewerb und ein rasanter Wandel der Arbeitswelt stellen das
Konzept solidarischer Interessenbündelung und kollektiver
Vertretung vor ganz neue und komplizierte Probleme.
Wie können also die Rahmenbedingungen der Tarifautonomie
verbessert werden? Tatsächlich werden Reformvorschläge
heftig diskutiert, diese gehen aber in die genau entgegengesetzte
Richtung: Neoliberalen und marktradikalen Politikern und
Ökonomen erscheint das ganze Tarifvertragsrecht als
marktfeindliches Kartell, das abgeschafft, oder wenigstens
zurück- gedrängt werden sollte. Im schnellen Wechsel der
aktuellen Probleme könnten die einzelnen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer selbst besser beurteilen, was für sie richtig und
wichtig ist, als betriebsferne Verbände. Besonders deutlich
werde das dann, wenn Betriebe ganz oder teilweise stillgelegt oder
verlagert werden müss-ten, um die Kosten zu senken und die
Wettbewerbslage des Unternehmens auf diese Weise zu verbessern.
Hier würden die betroffenen Arbeitnehmer lieber auf tarifliche
Rechte verzichten als ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Diese
Lösung werde aber durch das starre Tarifrecht verhindert. Der
Tarifvertrag erweise sich als unsinnige Fessel und führe
zwangsläufig zu beschäftigungspolitischer
Fehlsteuerung.
Diese Kritik verkennt jedoch schon in ihrem Ansatz die
Grundlagen und die freiheitliche Konzeption der Tarifautonomie. Und
sie zeichnet ein Zerrbild des geltenden Rechts. Tarifverträge
unterscheiden sich von Kartellen dadurch, dass sie marktgerechtes
Verhalten nicht durch künstliche Übermacht verhindern,
sondern umgekehrt dazu dienen, die strukturell ungleichen Chancen
auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Damit ermöglichen sie
marktgerechtes Verhalten überhaupt erst. Das freiheitliche
Konzept der kollektiven Privatautonomie will Marktmissbrauch und
Zwang ausschließen. Niemand wird gegen seinen Willen
tariflichen Normen unterworfen; Arbeitgeber und Arbeitnehmer
können frei entscheiden, ob sie einem tariffähigen
Verband beitreten und sich dessen Sachkunde und
Verhandlungsstärke anvertrauen wollen. Damit stehen
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gleichermaßen
unter dem Druck, ihre Tarifpolitik vermitteln und ihre
Leistungsfähigkeit beweisen zu müssen. Sonst verlieren
sie Mitglieder und gewinnen keine neuen.
Ebenso irreführend ist die Beschreibung des geltenden
Tarifrechts als starres und betriebsfernes System. Fast die
Hälfte aller geltenden Tarifverträge sind
Firmentarifverträge, die einzelne Unternehmen mit den
zuständigen Gewerkschaften abgeschlossen haben. Sie
können alle betriebliche Besonderheiten erfassen. Soweit ihre
Regelungen von gleichzeitig geltenden Verbandstarifverträgen
abweichen, haben sie Vorrang. Das gilt sogar für Regelungen,
die mit dem Betriebsrat geschlossen wurden, wenn die Tarifpartner
das zulassen. Solche "betrieblichen Bündnisse" sind bereits so
verbreitet, dass Zweifel an der Steuerungskraft des Tarifsystems
laut werden.
Was die Flexibilität des Tarifvertragsrechts anbelangt, so
lässt das geltende Tarifvertragsgesetz keine Wünsche
offen. Ohnehin werden Tarifverträge regelmäßig nur
auf Zeit abgeschlossen. Darüber hinaus sind aber die
unterschiedlichsten Öffnungsklauseln möglich und
weitgehend üblich; sie sollen den Unternehmen die Reaktion auf
unvorhergesehene Probleme möglich machen.
Voraussetzung dieser differenzierenden und flexibilisierenden
Formen tariflicher Gestaltung ist allerdings die
Übereinstimmung der sozialen Gegenspieler, also der
Gewerkschaften auf der einen und der Arbeitgeber auf der anderen
Seite. Tarifautonomie verlangt darüber hinaus, dass sich die
kollektive Regelung gegenüber den Einzelinteressen der
Verbandsmitglieder durchsetzen kann.
Wäre es anders, würden Tarifverträge zu
unverbindlichen Richtlinien und damit auch der Beitritt zu
tariffähigen Verbänden sinnlos - zumindest für die
Arbeitnehmer. Das ganze Konzept der Tarifautonomie verlöre
sein Fundament. Das wäre mit Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes
unvereinbar.
Prof. Dr. Thomas Dieterich ist Präsident des
Bundesarbeitsgerichts a. D.
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